Nr. 62/2006
Kommentarfreiheit / Sachlich ungerechtfertigte Anschuldigungen / Anhörung bei schweren Vorwürfen

(EKT AG c. «St. Galler Tagblatt», Ausgabe Kanton Thurgau) Stellungnahme des Presserates vom 29. Dezember 2006

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I. Sachverhalt

A. Am 1. April 2006 veröffentlichte das «St. Galler Tagblatt», Ausgabe Kanton Thurgau, in der Rubrik «Leuchtturm» eine Glosse von Robert Fischer mit dem Titel «EKT – ‹eifrig kassierender Teufel›». Darin kritisiert der Autor, das Elektrizitätswerk des Kantons Thurgau (EKT) habe den Romanshornern jahrelang Wucherpreise für Strom abverlangt. Damit sei nun aber Schluss, schon bald werde das Romanshorner Stromwerk via eigenes Kabel wesentlich günstigeren Strom von einem St. Galler Stromlieferanten beziehen. «Weder vom EKT noch vom Kanton Thurgau kann man ‹eilige karitative Tätigkeit› (abgekürzt EKT) erwarten, beispielsweise eine kleine finanzielle Wiedergutmachung wegen der jahrelangen Abzocke mit schamlosen Strompreisen.»

B. Am 3. und 5. April 2006 gelangte die EKT AG mit einer Beschwerde gegen den Leuchtturm-Artikel «EKT- ‹Eifrig kassierender Teufel›» an den Presserat. Der Text beschuldige die EKT ungerechtfertigterweise, Wucherpreise zu verlangen und jahrelang mit schamlosen Strompreisen abgezockt zu haben. Weiter verwahrt sich die Beschwerdeführerin gegen die diffamierende Darstellung des Firmennamens EKT als «Eifrig kassierender Teufel». Die Behauptung, wonach das EKT schamlose Strompreise verlange, sei von der Zeitung offensichtlich nicht überprüft worden und werde im Übrigen durch einen auf der Homepage des Preisüberwachers veröffentlichten Preisvergleich wiederlegt. Mit dem beanstandeten Bericht habe das «St. Galler Tagblatt» die Ziffern 2 (Trennung von Fakten und Kommentar), 3 (Entstellung von Tatsachen, Anhörung bei schweren Vorwürfen), 7 (sachlich ungerechtfertigte Anschuldigungen) sowie 8 (Diskriminierung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.

C. Am 4. Mai 2006 beantragte der Redaktionsleiter der «Tagblatt-Ausgabe für den Kanton Thurgau», Bruno Scheible, die Beschwerde sei abzuweisen. In der Rubrik «Leuchtturm» würden seit Jahren regelmässig einmal pro Woche jeweils am Samstag Gastkommentare aus der Leserschaft veröffentlicht. Die wechselnden Autoren bedienten sich dabei häufig der Form der satirischen Glosse. Auf den besonderen Status des «Leuchtturms» mache die typographische Absetzung (Kursivdruck) aufmerksam. Der Text von Robert Fischer sei am 1. April erschienen, thematisiere diesen auch explizit und versuche die Narrenfreiheit, die dieses Datum partiell gewähre, zusätzlich zur Form der Glosse auszureizen. Die satirischen Übertreibungen des Textes – die einen wahren Kern hätten – seien für die Leserschaft unschwer als solche zu erkennen. Was von der Beschwerdeführerin als sachlich ungerechtfertigte Vorwürfe bezeichnet werde, sei vielmehr eine subjektiv/polemische Überzeichnung von Fakten.

D. Gemäss Art. 10 Abs. 7 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserates kann das Präsidium zu Beschwerden, die in ihren Grundzügen mit vom Presserat bereits früher behandelten Fällen übereinstimmen oder von untergeordneter Bedeutung erscheinen, abschliessend Stellung nehmen.

E. Am 9. Mai 2006 teilte der Presserat den Parteien mit, der Schriftenwechsel sei abgeschlossen und die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium, bestehend aus dem Präsidenten Peter Studer sowie den Vizepräsidentinnen Sylvie Arsever und Esther Diener-Morscher behandelt.

K. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 29. Dezember 2006 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Die berufsethischen Normen gelten auch für Kommentare. Gemäss ständiger Praxis des Presserates bewegt «sich ein Kommentar in den Grenzen des berufsethisch Zulässigen (…), wenn sowohl die Wertung wie die ihr zugrundeliegenden Fakten für das Publikum erkennbar sind und wenn sich die Wertung zudem auf eine genügende Grundlage stützt» (vgl. zuletzt die Stellungnahme 14/2006 mit weiteren Hinweisen). Dabei ist die journalistische Form des Kommentars (Leitartikel, Kolumne, Glosse usw.) nicht entscheidend. Der Presserat hat zudem wiederholt darauf hingewiesen, dass die Satire zwar übertreiben darf, jedoch ebenfalls von einem wahren Kern ausgehen muss (Stellungnahme 37/2000). Zudem gilt die Pflicht zur Anhörung des Betroffenen vor der Veröffentlichung schwerer Vorwürfe (Richtlinie 3.7 zur «Erklärung») auch für satirische Beiträge (Stellungnahme 10/2000).

2. Es ist nicht Aufgabe des Presserates, die Verhältnisse und Entwicklungen des Strommarktes im Kanton Thurgau detailliert abzuklären und zu bewerten. Hintergrund des beanstandeten Textes ist offenbar eine rechtliche Auseinandersetzung zwischen dem Elektrizitätswerk des Kantons Thurgau und dem Elektrizitätswerk Romanshorn. Soweit aus den dem Presserat eingereichten Unterlagen ersichtlich, hat das EW Romanshorn entgegen dem Willen der Beschwerdeführerin durchgesetzt, eine eigene Zuleitung zu bauen, um so günstigeren Strom von einem anderen Stromlieferanten zu beziehen. Diesen Sachverhalt können auch uneingeweihte Leserinnen und Leser der Glosse von Robert Fischer mehr oder weniger entnehmen. Ebenso ist für die Leserschaft ersichtlich, dass der Autor die Beschwerdeführerin in überspitzter, polemischer Weise für ihren Widerstand gegen das Vorhaben des EW Romanshorn kritisiert. Die im Text dazu verwendeten Wortspiele «Eifrig kassierender Teufel» und «Erbärmliche klapprige Trickkiste» mögen dabei aus Sicht des EKT völlig unangemessen und beleidigend erscheinen. Die Kommentarfreiheit verletzen sie jedoch nicht, weil der faktische Kern der Wertungen (der Zwang zum Strombezug über das Netz der Beschwerdeführerin) erkennbar ist. Und erst recht nicht verletzen die polemischen Wortspielereien das Diskriminierungsverbot und das Gebot der Respektierung der Menschenwürde (Ziffer 8 der «Erklärung»).

3. In der Glosse nicht dargelegt ist hingegen, auf welcher faktischen Grundlage der Autor zu seiner harschen Wertung kommt, das EKT habe den Romanshornern jahraus, jahrein «Wucherpreise» für Strom abverlangt bzw. es habe eine «jahrelange Abzocke mit schamlosen Strompreisen» betrieben. Dieser Vorwurf geht wesentlich weiter als die blosse Kritik an der Verteidigung des Netz- und Stromlieferungsmonopols. Wucher ist ein Straftatbestand (Art. 157 Strafgesetzbuch) und setzt ein offenbares Missverhältnis zwischen Preis und Gegenleistung voraus. Soweit die Beschwerdegegnerin diesbezüglich geltend macht, die faktischen Grundlagen gingen aus dem drei Tage zuvor am 29. März 2006 veröffentlichten Bericht über die Jahreshauptversammlung des EW Romanshorn («Der Billigstrom kommt») hervor, ist ihr bereits aus formalen Gründen nicht zu folgen. Der faktische Kern einer kommentierenden, polemisierenden Wertung ist den Leserinnen und Lesern entweder im Text selber oder zumindest in der gleichen Ausgabe der Publikation darzulegen. Bei der Lektüre der Samstagsausgabe kann die Kenntnis eines Berichts der Mittwochsausgabe nicht einfach vorausgesetzt werden. Entsprechend hat die Redaktion der «Tagblatt»-Ausgabe, Kanton Thurgau die Kommentarfreiheit verletzt, weil der Leserschaft zu wenig deutlich gemacht wurde, auf welchen faktischen Grundlagen die drastischen Vorwürfe beruhen.

An diesem Ergebnis ändert auch der Umstand nichts, dass die Glosse von einem Gastautor aus der Leserschaft stammt. Zum einen ist dies im Text nicht deklariert. Zwar mag der regelmässigen Leserschaft die Funktion der Rubrik «Leuchtturm» als Forum für Gastkommentare bekannt sein. Uneingeweihte werden aber möglicherweise davon ausgehen, es handle sich um einen Kommentar eines Redaktionsmitglieds. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass sich die berufsethische Verantwortung der Medienschaffenden auch auf die Bearbeitung von Kolumnen erstreckt. Allerdings ist hier ähnlich wie bei Leserbriefen eine Beschränkung der inhaltlichen Prüfung durch die Redaktion auf offensichtliche Verstösse gegen berufsethische Regeln angezeigt (43/2000). Diese Einschränkung der inha
ltlichen Prüfungspflicht setzt allerdings die hier nicht gegebene genügende Deklaration der Urheberschaft des Textes voraus.

4. Bei Betrachtung der Vorwürfe «Wucherpreise» und «jahrelange Abzocke mit schamlosen Strompreisen» auf der faktischen Ebene ist festzustellen: Zwischen den Parteien ist umstritten, ob die Strompreise des EKT überteuert sind oder nicht. Aber selbst gemäss Darstellung der EKT-Kritiker ist – zumindest in den dem Presserat eingereichten Unterlagen – nirgends die Rede davon, dass sich eine allfällige Differenz zwischen dem Strompreis des EKT und der Konkurrenz in einer Grössenordnung bewegen würde, welche diesen Vorwurf auch nur annäherungsweise als gerechtfertigt erscheinen lässt. Im Bericht vom 29. März 2006 über die Jahreshauptversammlung des EW Romanshorn ist lediglich davon die Rede, dass nach Fertigstellung der eigenen Stromleitung per 1. Oktober 2006 die Strompreise nochmals um 10% gesenkt würden. Entsprechend ist hier für den Presserat auch die Rüge der Entstellung von Tatsachen und der sachlich nicht gerechtfertigten Anschuldigungen (Ziffern 3 und 7 der «Erklärung») gutzuheissen.

5. Angesichts der offensichtlichen Schwere des Vorwurfs, das EKT habe Wucher und Abzockerei mit schamlosen Strompreisen betrieben, wäre die Redaktion der «Tagblatt-Ausgabe Thurgau» darüber hinaus gestützt auf die Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» (Anhörung bei schweren Vorwürfen) verpflichtet gewesen, das EKT dazu vor der Publikation zu befragen und dessen Stellungnahme in einer von der Zeitung zu wählenden Form (z.B. in einem separaten Kasten) in der gleichen Zeitungsausgabe wiederzugeben.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

2. Die Redaktion des «St. Galler Tagblatts», Ausgabe Kanton Thurgau, hat mit der Veröffentlichung der «Leuchtturm»-Glosse vom 1. April 2006 und dem darin erhobenen, unbelegten Vorwurf, das Elektrizitätswerk des Kantons Thurgau habe den Romanshornern jahrelang «Wucherpreise» für Strom abverlangt bzw. «Abzocke mit schamlosen Strompreisen» betrieben, die Ziffern 2 (Kommentarfreiheit), 3 (Entstellung von Tatsachen; Anhörung bei schweren Vorwürfen) und 7 (sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.

3. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde abgewiesen.