Nr. 39/2003
Kommentarfreiheit / Quellen / Anhörung / Berichtigungspflicht / Diskriminierung

(Schweizerische Flüchtlingshilfe c. «Weltwoche») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 28. August 2003

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I. Sachverhalt

A. Unter dem Titel «Eine Million Franken pro Flüchtling» publizierte die «Weltwoche» in ihrer Ausgabe 43/02 (24. Oktober 2002) einen kritischen Artikel zur Schweizer Asylpolitik. Der Lead lautete: «Die Schweizer Asylpolitik scheitert an den Missständen, die sie mitverursacht. Im Volk regt sich Unmut, doch die Behörden sind an einer offenen Debatte nicht interessiert. Wer Kritik übt, gilt als Fremdenfeind.» Gemäss Berechnungen des Autors, Markus Schär, «dürfte das Asylwesen im laufenden Jahr demnach gegen zwei Milliarden kosten. Mit diesen Geldern ermitteln die Behörden jährlich 2000 Menschen – Tendenz sinkend – die gemäss Asylgesetz als Flüchtlinge gelten.» Der jährliche Aufwand von 2 Milliarden Franken dividiert durch die 2000 anerkannten Flüchtlinge führe zum Ergebnis, wonach das Erkennen eines echten Flüchtlings die Schweiz 1 Million Franken koste. «Trotz den Steuermilliarden, die eine regelrechte Asylindustrie in Gang halten, gelingt es nur mit grösster Mühe, echte Flüchtlinge von falschen zu unterscheiden. Dies, nicht die steigende Zahl Bewerber, ist wohl auch der Grund für den wachsenden Unmut im Land.»

Diesen Unmut ortet und dokumentiert der Autor in erster Linie bei den Gemeinden, die die Asylpolitik auf der untersten Stufe vollziehen müssen. Am Beispiel eines abgewiesenen Asylbewerbers, der aus medizinischen Gründen nicht habe ausgeschafft werden können und heute «als Invalider für sich und seine Familie monatlich 6180 Franken Unterstützungsgelder vom Staat» beziehe, will der Autor weiter aufzeigen, welche kontraproduktiven Anreize die geltende Asylgesetzgebung schaffe. «Wer über die Empfangsstelle der Landesgrenze hinauskommt, schafft es in die Schweizer Asylmaschinerie – und die belohnt jeden, der ihr Sand ins Getriebe wirft.» Unterstützt würden die Asylsuchenden dabei durch eine «Asylindustrie» von Anwälten und Hilfswerken, die «im wohlerwogenen Eigeninteresse den Flüchtlingsbegriff möglichst weit» fasse und «die Dienstleistungen für möglichst viele ÐKundenð erbringen» wolle.

Wer angesichts dieser Missstände offen Kritik übe, «muss sich Fremdenfeindlichkeit unterstellen lassen. Statt sachlicher Diskussionskultur herrscht weitherum emotionaler Aufruhr. So kündigte die Flüchtlingshilfe an, sie verzichte im Abstimmungskampf um die Asylinitiative auf eine Debatte mit der SVP, die das Volksbegehren lanciert hat: ÐDas wäre Perlen vor die Säue geworfen.ð»

B. In einem zweiten Artikel derselben «Weltwoche»-Ausgabe befasste sich Markus Schär unter dem Titel «Umsatzträchtig – wie die Hilfswerke von schleppenden Verfahren profitieren» näher mit der Rolle dieser Organisationen in der «Asylindustrie». «Die grossen Hilfswerke SRK, HEKS, Caritas und Arbeiterhilfswerk setzen im Asylbereich zusammen jährlich mehr als fünfzig Millionen Franken um. Allein die Caritas beschäftigt in ihrer Abteilung ÐUnterbringung und Betreuung von Asylsuchendenð 184 Mitarbeitende mit rund hundert Vollzeitstellen. (…) Über 40 Rechtsberatungsstellen unterstützen die Asylsuchenden in ihrem Kampf mit den Behörden, koordiniert von der Flüchtlingshilfe, die allein dafür eine Million Franken pro Jahr einsetzt. In ihrem Bemühen um Rechtsstaatlichkeit können die Hilfswerke auch aussichtslose Verfahren um Jahre verzögern. Diese enden meist damit, dass die vermeintlich endgültig Weggewiesenen untertauchen oder sich der Ausschaffung widersetzen. So decken sich die Interessen der Hilfswerke mit jenen der Asylsuchenden auf fatale Weise. Die einen wollen möglichst langwierige Verfahren, weil sich so die Chancen auf Aufnahme erhöhen, die anderen, weil es gut ist fürs Geschäft.»

C. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (nachfolgend SFH) gelangte am 19. März 2003 mit einer Beschwerde gegen die beiden Artikel an den Presserat und rügte die Verletzung einer Reihe berufsethischer Pflichten. So sei der Autor der Pflicht zur Wahrheitssuche nicht nachgekommen, habe Tatsachen entstellt, Aussagen falsch zugeordnet, Quellen nicht genannt, sich bei der Informationsbeschaffung unlauterer Methoden bedient, Falschmeldungen nicht berichtigt und das Diskriminierungsverbot verletzt. Auf die einzelnen Rügen und die ihnen zugrundeliegenden Sachverhalte wird in den nachfolgenden Erwägungen eingegangen.

D. In ihrer Beschwerdeantwort vom 27. April 2003 wies die «Weltwoche» die Beschwerde als unbegründet zurück. Der Autor habe umfassend recherchiert und könne die von ihm angeführten Zahlen belegen. Markus Schär sei der Wahrheit nachgegangen und habe die von ihm herangezogenen Beispiele überprüft. Auch die Meinung der Hilfswerke sei in den Artikel eingeflossen.

E. Nach Abschluss des Schriftenwechsels reichte die Beschwerdeführerin am 5. Mai 2003 diverse Bemerkungen zur Beschwerdeantwort der «Weltwoche» nach.

F. Das Präsidium des Presserates wies die Beschwerde der 3. Kammer zu. Dieser gehören Esther Diener-Morscher als Präsidentin sowie die Mitglieder Judith Fasel, Gina Gysin Peter Liatowitsch, Roland Neyerlin, Daniel Suter und Max Trossmann an.

G. Die 3. Kammer beriet die Stellungnahme an zwei Sitzungen vom 15. Mai und 28. August 2003.

II. Erwägungen

1. a) Der Presserat befasst sich mit grundlegenden berufsethischen Fragestellungen und äussert sich dazu, ob im Einzelfall die berufsethischen Regeln verletzt wurden. Er stellt aber im Rahmen seiner Meinungsfindung weder eigene Recherchen an, noch ist er (finanziell und organisatorisch) in der Lage, unter Mitwirkung der Parteien ein umfassendes Beweisverfahren durchzuführen, wie dies in Gerichtsverfahren zur Anwendung kommt. Deshalb kann sich der Presserat generell nicht zu denjenigen Rügen der Beschwerdeführerin äussern, mit denen diese ausdrücklich oder sinngemäss eine Verletzung der Wahrheitspflicht oder die Entstellung von Tatsachen (Ziffern 1 und 3 der «Erklärung») geltend macht, da die entsprechenden Sachverhalte zwischen den Parteien umstritten sind.

b) So vermag der Presserat insbesondere nicht zu beurteilen, ob die Zahlen über die effektiven Kosten der Asylpolitik, die Anzahl der Rechtsberatungsstellen der Hilfswerke und die Auslagen des SFH für die Koordination usw. von der «Weltwoche» zutreffend dargestellt worden sind. Ebensowenig kann er sich zur umstrittenen Alltagspraxis im Asylbereich (Einreichung aussichtsloser Wiedererwägungsgesuche, Ausmass Ðunkontrollierter Abreisenð) äussern. Offen muss schliesslich auch bleiben, ob die Geschichte eines zuvor bereits von anderen Medien thematisierten abgewiesenen Asylsuchenden, welcher trotz Ausreiseverfügung mit einem aus öffentlichen Mitteln finanzierten respektablen Familieneinkommen nach wie in der Schweiz leben soll, ganz oder teilweise der Wahrheit entspricht oder nicht.

2. Näher zu prüfen sind demgegenüber nachfolgend der Umgang des «Weltwoche»-Autors mit den Quellen (Ziffer 3 der «Erklärung»), die Frage der Anhörung bei schweren Vorwürfen (Richtlinie 3.8 zur «Erklärung), die geltend gemachten unlauteren Methoden bei der Informationsbeschaffung (Ziffer 4 der «Erklärung»), das Verhalten der «Weltwoche» nach der Publikation, insbesondere die Frage der Berichtigungspflicht (Ziffer 5 der «Erklärung») sowie die geltend gemachte Verletzung des Diskriminierungsverbots (Ziffer 8 der «Erklärung). Vorab ist zudem zu prüfen, ob sich die Beschwerdegegnerin an die auch der Freiheit des Kommentars und der Kritik (Ziffer 2 der «Erklärung) gezogenen Grenzen gehalten hat.

3. a) Gemäss der Präambel zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» sichern die Medienschaffenden den gesellschaftlich notwendigen Diskurs. Daraus wird in Ziffer 2 der «Erklärung der Pflichten» u.a. abgeleitet, dass sie die Freiheit der Information, die Freiheit des Kommentars und der Kritik sowie die Unabhängigkeit ihres Berufs verteidigen sollen. Dementsprechend gehört
es auch zu den Aufgaben der Journalistinnen und Journalisten, die schweizerische Asylpolitik und die in diesem Bereich handelnden Akteure (Behörden, Hilfswerke, Anwälte usw.) kritisch zu beobachten und gegebenenfalls zu kritisieren. Bei aller Freiheit des Kommentars und der Kritik ist allerdings zu beachten, dass dem Publikum auch bei kommentierenden Beiträgen die dem Kommentar zugrundeliegenden Fakten offengelegt werden müssen, damit die Öffentlichkeit in der Lage ist, die kritisierten Fakten zu gewichten und einzuordnen. Das Publikum muss deshalb insbesondere zwischen Fakten und Wertungen unterscheiden können. Schliesslich ist es auch bei stark kommentierenden Beiträgen unabdingbar, dass die Betroffenen bei schweren Vorwürfen vorgängig kontaktiert werden und im Medienbeitrag zu Wort kommen (vgl. u.a. die Stellungnahmen 3/98 i.S. S. c. NZZ, 16/99 i.S. H. c. «Zuger Presse», 17/00 i.S. D c. «Weltwoche» sowie 29/01 i.S. P c. «Der Landbote»).

b) Die Beschwerdeführerin rügt in diesem Zusammenhang u.a., es sei falsch und tendenziös, wenn der Autor die gesamten Kosten der Asylpolitik bloss auf die jährlich anerkannten 2000 anerkannten Flüchtlinge aufteile. Dabei bleibe fälschlicherweise unberücksichtigt, dass dazu jährlich noch ca. 8000 Personen vorläufig aufgenommen würden. Die Verkürzung «eine Million pro Flüchtling» sei tendenziös und falsch. Das Problem liege in der Tatsache, dass mit der Reduktion «eine Million für einen Flüchtling» der unzutreffende Eindruck entstehe, dass der Staat Schweiz für jeden Menschen, der sich mit der Bitte um Aufnahme an dieses Land wende, immer eine Million Franken aufwende.

c) Dieser Argumentation der Beschwerdeführerin vermag der Presserat nicht zu folgen. Denn so lange die «Weltwoche» die Grundlagen ihrer – selbstverständlich kritisier- und anfechtbaren – Berechnungen und Überlegungen in einer für die Leserschaft nachvollziehbaren Art und Weise offengelegt, ist ihr Vorgehen berufsethisch nicht zu beanstanden. Es kann nicht Sache des Presserates sein, zu beurteilen, ob die von der Beschwerdeführerin scharf kritisierte Analyse der «Weltwoche» sachgerecht sei oder nicht. Insofern ist auch der den Sachverhalt stark verkürzt wiedergebende Titel «Eine Million Franken pro Flüchtling» nicht als Verletzung der Kommentarfreiheit zu beanstanden, da dieser zwar aus Sicht der Beschwerdeführerin falsch und unangemessen sein mag, im Prinzip aber die Analyse des Autors in der Kürzestfassung zutreffend wiedergibt.

d) Die Beschwerdeführerin sieht darüber hinaus eine Entstellung von Tatsachen beispielsweise im Satz «In der Schweiz bemühen sich Asylsuchende, Anwälte, Hilfswerke, Bundesamt und Asylrekurskommission um ein mustergültig rechtsstaatliches Verfahren – doch das Ergebnis ist oft ein rechtloser Zustand», da nur ein juristisch geschultes Publikum die Entstellung erkennen könne. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass diese Wertung des Autors offensichtlich als solche ebenso erkennbar ist, wie die ihr zugrundeliegenden Fakten (Verhinderung von Wegweisungen durch Verfahrensverzögerungen, Untertauchen usw.). Auch hier mag man je nach persönlichem Standpunkt die Auffassung des Autors teilen oder als unhaltbar kritisieren. Von einer Entstellung von Tatsachen kann aber, jedenfalls soweit der Presserat den der erkennbaren Wertung zugrundeliegenden Sachverhalt aufgrund der ihm vorliegenden Informationen überhaupt zu beurteilen vermag (vgl. oben unter Ziffer 1 der Erwägungen), unter diesen Umständen nicht die Rede sein.

4. a) Laut der Richtlinie 3.1 zur «Erklärung» stellt die Überprüfung der Quelle einer Information und ihrer Glaubwürdigkeit den Ausgangspunkt des journalistischen Bearbeitungsprozesses dar. «Eine genaue Bezeichnung der Quelle eines Beitrags liegt im Interesse des Publikums, sie ist vorbehältlich eines überwiegenden Interesses an der Geheimhaltung einer Quelle unerlässlich, wenn dies zum Verständnis einer Information wichtig ist». Gemäss Ziffer 6 der «Erklärung der Pflichten» sollen Medienschaffende andererseits die Quellen vertraulicher Informationen nicht preisgeben.

b) Der Presserat hat sich in verschiedenen Stellungnahmen zum Verhältnis zwischen Quellenschutz und Quellennennung geäussert. Danach ist die Veröffentlichung von Vorwürfen anonymer Informanten ohne Quellenangabe zulässig, wenn es ohne Wiedergabe dieser Stimmen kaum möglich wäre, glaubhaft über die Kritik eines Teils der Bevölkerung an einem touristischen Ausbauprojekt zu berichten (29/00 i.S. C. SA c. «Basler Zeitung» usw.). Ähnlich wurde in der Stellungnahme 6/01 i.S. L. c. «Tages-Anzeiger» festgehalten, die Veröffentlichung von Informationen ohne namentliche Nennung der Quelle sei ausnahmsweise zulässig, wenn diese Informationen sonst nicht öffentlich gemacht werden könnten und sofern die Publikation dieser Informationen für die öffentliche Diskussion relevant erscheine (vgl. zudem die Stellungnahme 11/02 i.S F. c. «Klartext»). Auch vertrauliche Quellen sind aber zu überprüfen und falls gegenüber natürlichen oder juristischen Personen schwere Vorwürfe erhoben werden, ist vor der Veröffentlichung eine Anhörung unabdingbar (vgl. dazu die nachfolgende Erwägung 5).

c) Die Beschwerdeführerin beanstandet unter dem Titel «Quellen», die Information «So kündigte die Flüchtlingshilfe an, sie verzichte im Abstimmungskampf um die Asylinitiative auf eine Debatte mit der SVP, die das Volksbegehren lanciert hat: ÐDas wäre Perlen vor die Säue geworfenð», sei vom Autor nicht auf ihre Glaubwürdigkeit überprüft worden und zudem habe er eine falsche Quelle angegeben. Weiter rügt die Beschwerdeführerin den sehr weitgehenden Verzicht auf Quellenangaben. Dies gelte insbesondere für die Aussagen der aus dem Umfeld der Hilfswerke stammenden Personen.

d) Der Autor gibt in seiner Beschwerdeantwort an, es treffe zu, dass er die Aussage der SFH, eine Debatte mit der SVP wäre «Perlen vor die Säue geworfen», aus der «SonntagsZeitung» zitiert habe. Die Distanzierung der SFH von dieser Aussage habe er nicht mitbekommen, obwohl er ausgiebig auf ihrer Website und in allen gängigen Medien recherchiert habe. Die Abschnitte über die Argumentation der Hilfswerke beruhten auf einem langen Gespräch mit Hugo Köppel, Leiter Abteilung Asyl, Departement Migration, den die Medienstelle des SRK als kompetentesten Gesprächspartner vermittelt habe. Dessen Aussagen habe die Medienstelle des SRK beim Gegenlesen derart verfälscht, dass Markus Schär beschlossen habe, sie zu anonymisieren. Dies sei statthaft gewesen, weil Hugo Köppel «gemäss umfangreichen Recherchen die grundsätzliche Sicht der Hilfswerke vertrat und da ich ihn vor den Folgen gedankenloser Aussagen schützen wollte». Die Bemerkungen über das Schwänzen von Kursen und das Abbrechen von Ausbildungen sowie die haltlose Forderung «No Telephone? No TV?» seien aus den beruflichen von X. in den Artikel eingeflossen, die er wegen ihrer unternehmerischen Tätigkeit in diesem Gebiet ebenfalls durch Anonymisierung habe schützen müssen.

e) Hinsichtlich des umstrittenen Zitats, wonach laut SFH eine Debatte mit der SVP im Vorfeld der Abstimmung über die Asylinitiative «Perlen vor die Säue geworfen» gewesen wäre, hätte der Vermerk auf die Erstveröffentlichung in der «SonntagsZeitung» die Leserschaft zwar darauf hingewiesen, dass die «Weltwoche» diese Information nicht selber recherchiert, sondern von einer anderen Zeitung übernommen hatte. Es wäre aber angesichts der kurzen Passage unverhältnismässig, diese Unterlassung als Plagiat oder als plagiatorisches Verhalten im Sinne der Richtlinie 4.6 zur «Erklärung» zu werten.

In Bezug auf die Quellennennung trifft für den Presserat der Vorwurf der Beschwerdeführerin demgegenüber grundsätzlich zu, wonach gerade die Zitate aus dem Umfeld der Hilfswerke über die zwei von der «Weltwoche» angeführten Beispiele (Gespräch mit Hugo Köppel, Input von X.) hinaus weitgehend anonym bleiben («Kadermitglied eines Hilfswerks», «Vertreter der Hilfswerke», «Chef eines Hilfswerks
», «die Caritas», «Betreuer»). Auch wenn dies die Fassbarkeit und Nachprüfbarkeit des Beitrags erheblich schmälert, erscheint die Anonymisierung bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in untergeordneten Chargen gerechtfertigt. Anders ist dies bei Personen mit Kaderfunktionen oder gar beim «Chef» eines Hilfswerkes zu werten. Zudem wäre es selbst bei gerechtfertigter Anonymisierung der Quelle unabdingbar gewesen, sämtliche Funktionen wenigstens annähernd zu umschreiben, statt zum Teil bloss abstrakt von «Vertretern der Hilfswerke», der «Caritas», oder «Betreuern» usw. zu schreiben. Insoweit ist deshalb eine Verletzung von Ziffer 3 der «Erklärung» festzustellen. Angesichts der für die Leserschaft weitgehend unfassbaren Quellen wäre es zudem gerade auch unter dem Gesichtspunkt der Quellenüberprüfung unabdingbar gewesen, die betroffenen Hilfswerke oder wenigstens die hauptsächlich genannte Beschwerdeführerin vor der Veröffentlichung mit den sie betreffenden Rechercheergebnissen zu konfrontieren und eine «offizielle» Stellungnahme einzuholen (vgl. dazu auch die nachfolgende Ziffer 5 der Erwägungen).

Darüber hinaus fehlen für zwei wesentliche Elemente der beiden Artikel die Quellenangaben gänzlich. So erfährt die Leserschaft nicht, woher der Autor das Beispiel des Asylmissbrauchs aus dem Thurgau hat. Hier wäre die «Weltwoche» verpflichtet gewesen, sowohl die Erstpublikation durch den Journalisten Charly Pichler wie auch den Umstand zu erwähnen, dass dieses Beispiel auf einer anonymen, zweifelhaften Quelle beruht und von den zuständigen Behörden bis heute nie als zutreffend bestätigt worden ist. (vgl. hierzu auch die Stellungnahme 43/2000 i.S. Demokratische Jurist/innen Luzern c. «Anzeiger Luzern»). Ebenso wäre es hilfreich gewesen, wenn die «Weltwoche» als Quelle der von ihr geltend gemachten 40 Rechtsberatungsstellen und der in diesem Zusammenhang bei der Beschwerdeführerin anfallenden jährlichen Kosten von einer Million die Website der SFH genannt hätte.

5. a) Der Presserat hält in ständiger Praxis daran fest, dass von schweren Vorwürfen Betroffene vor der Veröffentlichung anzuhören sind und dass ihr Standpunkt im gleichen Medienbericht zumindest kurz wiederzugeben ist. Dieses berufsethische Anhörungsprinzip ist seit neuestem ausdrücklich in Ziffer 3.8 der Richtlinien zur «Erklärung» festgeschrieben: «Aus dem Fairnessprinzip und dem ethischen Gebot der Anhörung beider Seiten (ÐAudiatur et altera parsð) leitet sich die Pflicht der Journalistinnen und Journalisten ab, Betroffene vor der Publikation schwerer Vorwürfe anzuhören. Deren Stellungnahme ist im gleichen Medienbericht kurz und fair wiederzugeben. Ausnahmsweise kann auf die Anhörung verzichtet werden, wenn dies durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt ist. Der von schweren Vorwürfen betroffenen Partei muss nicht derselbe Umfang im Bericht zugestanden werden wie der Kritik. Aber die Betroffenen sollen sich zu den schweren Vorwürfen äussern können.»

b) Die Beschwerdeführerin rügt im Zusammenhang mit dem Vorwurf der ungenügenden Wahrheitssuche, der Autor sei nie direkt mit der von den anderen Hilfswerken beauftragten SFH in Kontakt getreten. Markus Schär habe vielmehr aufgrund eigener Recherchen entschieden, ob die Aussagen eines Angestellten der Hilfswerke deren grundsätzliche Sicht schildere oder nicht.

c) Die «Weltwoche» äussert sich nur am Rande zu diesem Vorwurf. Markus Schär macht dabei geltend, Hugo Köppel, sei ihm als kompetentester Gesprächspartner empfohlen worden, der gemäss den umfangreichen Recherchen der «Weltwoche» die grundsätzliche Sicht der Hilfswerke vertreten habe.

d) Dabei stellt die Unterlassung der Anhörung der von schweren Vorwürfen Betroffenen aus Sicht des Presserates gerade das zentrale Problem der beiden Artikel dar. Weder zum Vorwurf der Verweigerung der politischen Debatte über die Effektivität der Asylpolitik und der direkten Auseinandersetzung mit der SVP, der unbeantworteten Frage, ob «eine Million Franken pro Flüchtling» ein angemessener Betrag sei («An dieser Frage will sich niemand die Finger verbrennen), dem Asylmissbrauchsbeispiel aus dem Kanton Thurgau, dem impliziten Vorwurf, den Hilfswerken, allen voran der SFH, gehe es letztlich vor allem um wirtschaftliche Eigeninteressen, noch zur Vorhaltung, die Hilfswerke würden mithelfen, aussichtslose Verfahren um Jahre hinauszuzögern, hat die «Weltwoche» offensichtlich eine Stellungnahme der Direktbetroffenen (SFH, übrige Hilfswerke, Behörden des Kantons Thurgau) eingeholt. Zumindest aber fehlen im Text die entsprechenden Stellungnahmen der von diesen schweren Vorwürfen Betroffenen. Eine mehrfache Verletzung von Ziffer 3 der «Erklärung» ist deshalb auch unter diesem Gesichtspunkt festzustellen.

6. a) Zur von der Beschwerdeführerin weiter geltend gemachten Verletzung der Berichtigungspflicht (Ziffer 5 der «Erklärung), die von der «Weltwoche» umfassend zurückgewiesen wird, kann sich der Presserat aus den oben unter Ziffer 1 der Erwägungen dargelegten Überlegungen nicht näher äussern. Denn eine Redaktion ist nur dann zur Veröffentlichung einer Berichtigung verpflichtet, wenn sie nachweislich unzutreffende Fakten veröffentlicht hat. Der Presserat hat jedoch in der Stellungnahme 13/2001 i.S. Scientologykirche Zürich c. «L’Hebdo» festgehalten, den von schweren Vorwürfen Betroffenen sei nachträglich eine publizierte Äusserung zu ermöglichen, wenn die berufsethisch zwingend gebotene Stellungnahme des Betroffenen bei schweren Vorwurfen in einem veröffentlichten Medienbericht fehlt.

b) Zwar druckte die «Weltwoche» in der Folgewoche (Ausgabe 45/02) eine umfangreiche Stellungnahme von Jean-Daniel Gerber, Direktor des Bundesamts für Flüchtlinge, ab. Zudem nahm die «Weltwoche» unbestrittenermassen Kontakt mit SFH-Zentralsekretär Alberto Achermann auf. Auf ein Interview habe man aber in der Folge verzichtet, weil sich Jean-Daniel Gerber bereits zu den wichtigen Punkten geäussert habe. Demgegenüber macht die Beschwerdeführerin dazu geltend, es sei ein Interview vereinbart worden, der Interviewte habe die schriftlichen Fragen beantwortet, das Interview sei dann aber nie erschienen. Die SFH habe es lediglich im Internetforum der «Weltwoche» platzieren können. Im Rahmen des Presseratsverfahrens entschuldigten sich Chefredaktor Roger Köppel und der Ressortleiter Inland namens der «Weltwoche» gegenüber Alberto Achermann für die mangelnde Erreichbarkeit und Kommunikation.

c) Ebensowenig wie die unterlassene Anhörung der Betroffenen bei schweren Vorwürfen vor der Publikation vermag das Verhalten der «Weltwoche» nach der Publikation zu überzeugen. Jean-Daniel Gerber ging in seiner Replik zwar eingehend auf die Aussage «Eine Million Franken pro Flüchtling» ein. Hingegen blieben die nicht gegen das Bundesamt für Flüchtlinge, sondern gegen die Hilfswerke gerichteten Vorwürfe (Mithilfe bei Verfahrensverzögerungen, ökonomische Eigeninteressen usw.) nach wie vor unbeantwortet im Raum stehen. Die Hilfswerke hätten wenigstens nachträglich die Gelegenheit erhalten müssen, zu diesen Vorwürfen zumindest kurz Stellung zu nehmen, sei es im Rahmen einer Gegendarstellung, eines Interviews oder in einer anderen aus Sicht der Redaktion zweckmässigen Form. Die Antwort der Redaktion, dies sei aus konzeptionellen Gründen nicht erfolgt, ist offensichtlich unhaltbar.

7. a) Abschliessend rügt die Beschwerdeführerin, mit der Veröffentlichung der Aussage, «auf Anraten eines auf Ansprüche an den Sozialstaat spezialisierten Büros, das eine jugoslawische Anwältin in Zürich betreibt (…)» werde das berufsethische Diskriminierungsverbot verletzt. Die Staatsangehörigkeit der Anwältin sei irrelevant und bei sämtlichen anderen Personen, die im Text erwähnt werden, werde die Staatsangehörigkeit nicht genannt. Bereits mit dem ersten Halbsatz werde der Beraterin unterstellt, sie nehme den Staat aus. Mit dem Verweis auf ihre jugoslawische Staatsangehörigkeit werde das Klischee des schmarotzenden Ausländers
bemüht und rassistische Vorurteile bestärkt.

b) Der Autor des Artikels entgegnet dazu, Praktiker aus dem Alltag im Sozialwesen berichteten, gerade Asylbewerber aus dem ehemaligen Jugoslawien seien häufig besser über ihre Ansprüche an den Sozialstaat informiert als die Schweizer Verantwortlichen. Zudem bestätigten Experten des Schadeninspektorats Zürich derartige kulturelle Unterschiede. Gerade Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien sähen nicht ein, weshalb sie Staat und Versicherungen nicht auf jede erdenkliche Weise ausnützen sollten. «Wenn es rassistisch ist, eine jugoslawische Anwältin, die Tipps zum Erschleichen von Leistungen gibt, als jugoslawisch zu bezeichnen, dann lasse ich mich gerne als rassistisch beschimpfen.»

c) Laut Ziffer 8 der «Erklärung der Pflichten» sollten Medienschaffende auf diskriminierende Anspielungen verzichten, welche die nationale Zugehörigkeit zum Gegenstand haben. Richtlinie 8.2 (Diskriminierungsverbot) zur «Erklärung» führt dazu näher aus: «Die Nennung der Nationalität darf keine Diskriminierung zur Folge haben: sofern sie nicht systematisch erwähnt (und also auch bei schweizerischen Staatsangehörigen angewendet wird) sollten sie nur dann genannt werden, wenn sie für das Verständnis notwendig sind.»

d) Letzteres würde zutreffen, wenn der Autor des Artikels die von ihm nachträglich geltend gemachten kulturellen Unterschiede in der Verfolgung von Rechtsansprüchen gegenüber dem Sozialstaat im beanstandeten Medienbericht näher ausgeführt hätte. Denn es muss möglich bleiben, auch unter dem Gesichtspunkt der Diskriminierung heikle Themen öffentlich zu diskutieren. Um jedoch sachlich ungerechtfertigte Verallgemeinerungen, die Förderung des Denkens in Stereotypen und diskriminierenden Klischees zu vermeiden, bedarf es hier aber besonderer Genauigkeit und Differenzierung. Diesen Anforderungen vermag die allzu verkürzte, diffuse Anspielung auf einen allfälligen Zusammenhang zwischen jugoslawischer Staatsangehörigkeit und Ausnützung des schweizerischen Sozialstaats nicht zu genügen. Im Zusammenhang mit der Nennung der Anwältin war die Angabe der Nationalität für das Verständnis jedenfalls nicht notwendig, da es auch Aufgabe schweizerischer Anwälte ist, Rechtsuchende bei der Geltendmachung von Rechtsansprüchen möglichst umfassend zu beraten und zu vertreten. Die isolierte Nennung der Nationalität der Anwältin war unter diesen Umständen für jugoslawische Staatsangehörige unnötig herabsetzend und dementsprechend diskriminierend.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen, soweit der Presserat darauf eintritt.

2. Die Berufung auf den Quellenschutz und die Anonymisierung der Quelle ist bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in untergeordneten Chargen gerechtfertigt, die andernfalls unter Umständen mit Nachteilen zu rechnen haben. Demgegenüber überwiegt bei Personen mit Kaderfunktionen oder gar beim «Chef» eines Hilfswerkes in aller Regel das öffentliche Interesse an einer Quellennennung. Zudem gebietet das Verhältnismässigkeitsprinzip selbst bei grundsätzlich gerechtfertigter Berufung auf den Quellenschutz, die Quelle trotzdem so genau wie möglich zu umschreiben, als dies die Wahrung der Vertraulichkeit erlaubt.

3. Angesichts von für die Leserschaft weitgehend unfassbaren Quellen wäre die «Weltwoche» sowohl unter dem Gesichtspunkt der Quellenüberprüfung wie auch der Anhörung der Betroffenen bei schweren Vorwürfen verpflichtet gewesen, insbesondere die hauptsächlich angegriffene Beschwerdeführerin vor der Veröffentlichung mit den sie betreffenden Rechercheergebnissen zu konfrontieren und eine «offizielle» Stellungnahme einzuholen.

4. Nach erfolgter Publikation hätte sich die «Weltwoche» nicht auf den Abdruck einer ausführlichen Stellungnahme von BFF-Direktor Jean-Daniel Gerber beschränken dürfen. Vielmehr hätten auch die Hilfswerke wenigstens nachträglich in einer aus Sicht der Redaktion geeigneten Form kurz zu Wort kommen müssen.

5. Die Nennung der Staatsangehörigkeit in einem negativen Kontext wirkt dann diskriminierend, wenn sie für das Verständnis nicht notwendig ist und bei der Leserschaft den sachlich im Medienbericht nicht belegten und begründeten Eindruck suggeriert, zwischen der Staatszugehörigkeit und dem beanstandeten Verhalten bestehe ein direkter Zusammenhang.

6. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.