Nr. 49/2001
Kommentarfreiheit

(David c. «Berner Zeitung») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 9. November 200

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I. Sachverhalt

A. In der «Berner Zeitung» vom 16./17. Juni 2001 erschien unter dem Titel «Erbauungslektüre für die Kinder Israels» eine Kolumne von Margrit Sprecher. Darin kritisierte sie den israelischen Ministerpräsidenten Ariel Sharon, der bereits vor den Wahlen verkündet habe, «er werde den jüdisch-zionistischen Charakter des Erziehungssystems stärken, und zwar mit Bibelunterricht für alle. Dabei solle das Buch Josua besondere Berücksichtigung finden.» Die Kolumnistin machte geltend, das Buch Josua schlage in Sachen Blutrünstigkeit sämtliche anderen Bücher der Bibel, illustrierte dies mit einigen Beispielen und zog daraus folgenden Schluss: «Das ist keine Literatur, die für Frieden im Land sorgt.»

B. Mit Beschwerde vom 28. Juni 2001 machte Frank Lübke namens der Organisation David, «das Zentrum gegen Antisemitismus und Verleumdung», geltend, Margrit Sprecher bzw. die verantwortlichen Redaktoren der «Berner Zeitung» hätten mit dem Abdruck dieser «eindeutig antisemitischen» Kolumne gegen Ziff. 8 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verstossen. Er begründete dies so: «Frau Sprecher bringt in erwähnter Kolumne martialische biblische Texte in einen direkten und gewollten Zusammenhang mit der Bildungspolitik des modernen Staates Israel. Durch mehrmaliges Zitieren blutrünstiger Passagen setzt sie für den Leser dabei alttestamentarische Gewalt nicht nur mit israelischer, sondern mit jüdischer Tradition und Gegenwart gleich. Sie verwendet und belebt damit zugleich eines der ältesten antisemitischen Stereotype: der rachsüchtige Jude.»

C. Das Presseratspräsidium erachtete die Beschwerde als offensichtlich unbegründet (Art. 9 Abs. 3 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserates) und verabschiedete den Entwurf einer entsprechenden Stellungnahme per 24. August 2001 auf dem Korrespondenzweg.

D. Innert der reglementarischen Frist von 10 Tagen nach Zustellung des Entwurfs des Präsidiums (Art. 14 Abs. 8 des Geschäftsreglements) beantragten zwei Mitglieder des Presserates die Behandlung der Beschwerde durch eine Kammer bzw. durch das Plenum. Namentlich eines der beiden Mitglieder wandte ein, die abweisende Stellungnahme des Präsidiums sei zu oberflächlich und gehe am Kern der Sache vorbei. Die Kolumne habe darauf abgezielt, die antisemitischen Tendenzen in einem Teil der hiesigen Bevölkerung anzuheizen. Aus einem angeblichen Wahlversprechen von Ministerpräsident Sharon baue der Text eine üble Horrorszene auf. Schulbücher die weder beschlossen und schon gar nicht existent seien, würden als Faktum hingestellt. Die Kolumne erwähne hingegen keine palästinensischen Schulbücher, die seit Jahrzehnten zum Hass und zur Zerstörung Israels aufriefen. Religiös diskriminierend sei es zudem, wenn die Kolumne behaupte, das Buch Josua, in dem viel Übles und Grausames stehe, werde wortwörtlich zum Erziehungsprogramm der israelischen Jugend erklärt. Das Buch Josua «erzähle» Taten in literarischer und parabelhafter Einkleidung; so sei der ominöse Satz «Aug‘ um Auge, Zahn um Zahn» auch als Aufruf zur Schadenersatzleistung interpretierbar. Für die Publikation des Artikels von Margrit Sprecher habe sich die «Berner Zeitung» entschuldigen müssen.

E. Beim Presserat trafen erst nach Entwurf der Stellungnahme vom 24. August ergänzende Unterlagen ein. Aus ihnen geht hervor, dass die angefochtene Kolumne heftiges Echo auslöste. Die Chefredaktion der «Berner Zeitung» sah sich in der Ausgabe vom 23. Juni 2001 unter dem Titel «Religiöse Gefühle der Juden verletzt» zu folgender Erklärung auf der Leserbriefseite veranlasst: «Letzten Samstag ist auf der Seite Meinung die Kolumne ÐErbauungslektüre für die Kinder Israelsð von Margrit Sprecher erschienen. Der Beitrag hat in jüdischen Kreisen, aber nicht nur dort, heftigste Reaktionen ausgelöst. Wir geben dieser Kritik hier Raum. (…) Es lag nicht in unserer Absicht, religiöse Gefühle zu verletzen. Wenn das so war, entschuldigen wir uns, auch im Namen der Autorin.»

F. Das Präsidium beschloss am 30. August 2001, die Beschwerde dem Plenum zum Entscheid zu unterbreiteten.

G. Das Plenum des Presserates entschied an seiner Sitzung vom 9. November 2001 nach eingehender Diskussion, an der Abweisung der Beschwerde festzuhalten, der Argumentation der Minderheit jedoch insoweit Rechnung zu tragen, als dies aus den nachfolgenden Erwägungen hervorgeht.

II. Erwägungen

1. Gemäss Ziff. 8 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» sollen Medienschaffende in Text, Bild und Ton auf diskriminierende Anspielungen zur ethnischen oder nationalen Zugehörigkeit verzichten. Von einer Diskriminierung im Sinne dieser Bestimmung kann jedoch nur dann die Rede sein, wenn in einem Medienbericht durch eine unzutreffende Darstellung das Ansehen der geschützten Gruppe beeinträchtigt, die Gruppe herabgewürdigt wird.

2. Der Presserat hat in seiner Stellungnahme 21/2001 vom 5. April 2001 («Veröffentlichung anti-israelischer Leserbriefe», W. c. «Tages-Anzeiger») für den Bereich der Leserbriefe darauf hingewiesen, dass rassistische bzw. antisemitische Äusserungen Personen und Gruppen wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Ethnie oder ihrer Religion diffamieren. Latent rassistisch seien Briefe, die Menschen oder Gruppen indirekt diffamieren oder dies bloss andeuten. Im Einzelfall sei es oft schwierig, einen Brief klar zuzuordnen. Der Presserat empfahl folgendes Vorgehen: «Bei jeder Aussage ist deshalb kritisch zu fragen, ob damit eine angeborene oder kulturell erworbene Eigenschaft herabgesetzt oder ob herabsetzende Eigenschaften kollektiv zugeordnet werden, ob lediglich Handlungen der tatsächlich dafür Verantwortlichen kritisiert werden oder ob die berechtigte Kritik an einzelnen in ungerechtfertigter Weise kollektiviert wird.»

Diese Grundsätze erscheinen ohne weiteres auch auf die vorliegende Kolumne anwendbar. Kommentare sind – wie Leserbriefe – wegen des direkten Bezugs zur Meinungsfreiheit mit beträchtlicher Grosszügigkeit zu beurteilen (vgl. die Stellungnahme i.S. Redaktionelle Verantwortung für Kolumnen vom 2. November 2000, Sammlung 2000, S. 321ff.).

3. Im Lichte der Kommentarfreiheit muss es möglich sein, die Erziehungs- und Schulpolitik eines Staates, auch diejenige Israels, kommentierend zu hinterfragen und die aus Sicht der Autorin rückständigen Bilder zu kritisieren, die mit Schulbüchern oft vermittelt werden – nicht nur in Israel, auch anderswo, gegenwärtig zum Beispiel sehr kontrovers in Japan. Die Kolumne als Typus darf innerhalb weitgesteckter Grenzen auch scharf und polemisch ausfallen, um den lebhaften Diskurs der Meinungen anzuregen. So erscheint es zulässig, wenn die Autorin in diesem Zusammenhang kritisiert, dass die israelische Erziehungsministerin in Erfüllung eines Wahlversprechens des neuen Ministerpräsidenten ausgerechnet das nach Einschätzung von Margrit Sprecher «blutrünstigste» Buch der Bibel ins Zentrum eines verstärkten Bibelunterrichts rückt. Der Beschwerdeführer macht nicht geltend, die der Kommentierung zugrundeliegenden Fakten seien unrichtig. In der breit genutzten Schweizerischen Mediendatenbank (www.smd.ch) kommt diese Faktenbasis übrigens schnell zum Vorschein: «Der jüngste Rechtsruck in der Bildungspolitik des Landes» solle den «zionistischen Charakter des Erziehungssystems» stärken, und zwar mittels des Buchs Josua, das die militärische Eroberung des Heiligen Landes feiere. Bereits sei ein prominentes liberal-kritisches Geschichtsbuch abgesetzt worden (so ein Korrespondentenbericht im «Tages-Anzeiger» vom 7. 4. 2001). Ebensowenig vermag der Presserat in der Kritik an der israelischen Erziehungspolitik und im blossen Zitieren «martialischer» biblischer Texte, die ebensosehr der christlichen Kreuzfahrer-Tradition zugerechnet werden könnten, eine direkte oder indirekte Diffamierung oder He
rabsetzung «jüdischer Tradition und Gegenwart» zu erkennen. Zudem macht die Journalistin weder direkte noch indirekte Aussagen über die Juden und das Judentum. Sie zieht lediglich Linien zur umstrittenen Friedenspolitik der heutigen Regierung Sharon und macht damit eine politische und nicht eine religiöse Aussage. Bei einer Gesamtbetrachtung des Textes ist deshalb eine offensichtliche Diskriminierung der Jüdinnen und Juden im Sinne von Ziffer 8 der «Erklärung» zu verneinen.

4. Der Einwand, die Autorin hätte auch die blutrünstigen palästinensischen Schulbücher anführen müssen, zielt am Typus der Kolumne vorbei. Diese will nicht eine ausgewogene Sachdarstellung abliefern. Sie lässt zu, dass aus Empörung und Besorgnis durchaus einseitige Denkanstösse für den öffentlichen Diskurs vermittelt werden – immer vorausgesetzt, dass die Kolumne Minima der Faktenberücksichtigung einhält.

5. Auch wenn eine Verletzung der Ziffern 3 (Unterschlagung wesentlicher Informationselemente) und 8 (Diskriminierungsverbot) der «Erklärung» zu verneinen ist, hätte die Autorin von vornherein berücksichtigen können, dass ihre Kolumne die Gefühle der Jüdinnen und Juden verletzen konnte, selbst wenn diese darin nicht diskriminiert wurden. Sie hätte dieser besonderen Sensibilität zum Beispiel Rechnung tragen können, wenn sie sich von einer strikt wörtlichen Interpretation des Buchs Josua gelöst und auf die verschiedenen – auch weniger martialischen – Lesarten dieses biblischen Textes hingewiesen hätte.

6. Offensichtlich hat die Kolumne eine Flut von gegenläufigen Meinungsäusserungen provoziert. Es ist der «Berner Zeitung» hoch anzurechnen, dass sie diesem Diskurs auf mehreren Seiten über Tage hinweg Raum gab, und sich zudem zwar nicht für die Kolumne, aber für damit allenfalls bewirkte – unbeabsichtigte – Verletzungen religiöser Gefühle entschuldigte.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird als unbegründet zurückgewiesen.

2. Im Lichte der Kommentarfreiheit ist es zulässig, die Erziehungs- und Schulpolitik eines Staates, auch diejenige Israels, kommentierend zu hinterfragen und die aus Sicht der Autorin rückständigen Bilder zu kritisieren, die mit Schulbüchern oft vermittelt werden.

3. Eine diskriminierende Herabsetzung einer Religionsgemeinschaft im Sinne von Ziff. 8 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» ist zu verneinen, wenn ein Text lediglich Handlungen und Meinungen der tatsächlich dafür Verantwortlichen kritisiert, ohne diese Kritik zu verallgemeinern.

4. Journalistinnen und Journalisten sollten jedoch auch bei nicht diskriminierenden Texten, welche auf Angehörige einer Religionsgemeinschaft verletzend wirken könnten, deren besondere Sensibilität berücksichtigen.