Nr. 53/2004
Kindesschutz

(X. c. «Bolero») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 15. Oktober 2004

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I. Sachverhalt

A. Die Zeitschrift «Bolero» veröffentlichte in ihrer Ausgabe vom Juni 2004, unter dem Titel «Alarmstufe Rot», eine Serie von sieben Fotos von sieben Fotografen mit denen diese ihre Vision zum Thema «Knallrote Lippen» umsetzen sollten. Der Einleitungstext lautete: «Knallrote Lippen sind Magie, pure Magie. Denn nichts hat eine derart umwerfende Signalwirkung. Roten Lippen huldigt man in Gedichten und man besingt sie in Schlagern, kurz: Sie sind der Inbegriff der Beauty. Grund genug, sieben Fotografen zu bitten, ihre Vision des Themas umzusetzen. Ob Rita Palanikumars ironische Inszenierung, David Willens ÐSpurensicherungð oder Diana Scheunemanns aufreizend-provokante Interpretation: Stets zeigen die Arbeiten den verführerischen und symbolischen Furor roter Lippen.»

B. Unaufgefordert sandte «Bolero» diese und die vorherige Ausgabe der Zeitschrift an Frau X. in Zürich. Frau X. ist Mutter von zwei Kindern. Am 24. Mai 2004 wandte sie sich an den Presserat. «Bolero» habe mit den beiden Ausgaben die Abgrenzung zwischen Lifestyle, Mode und Kinderpornografie nicht mehr gewährleistet. «Beide ÐBolerosð, die ich unaufgefordert erhalten habe, haben weder zwischen Frauen und Mädchen unterschieden, noch die Kleinstkinder ausgelassen.» Insbesondere beanstandete die Beschwerdeführerin drei Fotos der Serie «Alarmstufe Rot» in der «Bolero»-Ausgabe vom Juni 2004:

– Das Bild von Derek Stierli und Philip Schaub auf Seite 130 zeigt ein etwa 10-12-jähriges Mädchen, das sich – den Kopf gegen unten – auf einem Sofa räkelt Es hält einen roten Lippenstift in einer Hand und schaut den Betrachter an. Das Mädchen ist mit T-Shirt und langer Jeanshose angezogen. Der Bildtext lautet: «Wie heisst ihr Bild? Lippenstift. Beschreiben sie ihr Bild. Ein Mädchen liegt auf einem schwarzen Ledersofa. Es trägt ein mit roten Herzen übersätes Shirt. Der rechte Arm ist angewinkelt. In der Hand hält es einen roten Lippenstift. Es schaut uns an. Was symbolisiert Lippenstift für Sie? Die Farbe Rot. Welche persönliche Erinnerung verbinden Sie mit Lippenstift? Das Klicken beim Schliessen des Deckels.»

– Das Bild von Diana Scheunemann auf Seite 132 zeigt eine in sexy Unterwäsche gekleidete junge Frau. Auf ihren Bauch ist mit Lippenstift ein ejakulierender Penis gemalt. Der Bildtext lautet: «Wie heisst Ihr Bild? Dickstick. Beschreiben Sie Ihr Bild. Look at it. Was symbolisiert Lippenstift für Sie? Lust auf Sex im weitesten Sinne. Welche persönlichen Erinnerung verbinden Sie mit Lippenstift? Kein Kommentar.»

– Das Bild von Joachim Baldauf auf Seite 133 zeigt ein etwa einjähriges, lächelndes Kleinkind, mit Lippenstift verschmiertem Mund. Der zugehörige Bildtext lautet: «Wie heisst Ihr Bild? Mamas Liebling. Beschreiben sie Ihr Bild. Das Bild thematisiert Liebe und Spuren, die sie hinterlässt. Was symbolisiert Lippenstift für Sie? Rote Lippen schaffen eine Distanz, eine Erhöhung. Sex, der nicht zu bekommen ist. Welche persönliche Erinnerung verbinden sie mit Lippenstift? Der Duft von Lippenstift erinnert mich an meine Mutter Erika und damit an die 70er-Jahre.»

C. In einer ergänzenden Beschwerdebegründung vom 24. Juni 2004 machte X. geltend, die Publikation der drei Fotos verstosse gegen die Richtlinie 7.4 (Kinder) zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten».

D. Am 30. Juni 2004 beantragte die anwaltlich vertretene «Bolero»-Redaktion, die Beschwerde sei vollumfänglich abzuweisen. Die beiden Bilder, die Kinder zeigten, hätten keinerlei sexuellen Bezug. Das Bild mit der jungen Frau sei zwar nur schwer nicht sexuell interpretierbar, habe aber nichts mit Kinderpornografie zu tun. Wenn überhaupt könnte hier allenfalls über Jugendschutz diskutiert werden. Hingegen sei ein Bezug zur angeblich verletzten Richtlinie 7.4 nicht ansatzweise zu sehen.

E. Das Präsidium des Presserates wies die Beschwerde zur Behandlung an die erste Kammer. Diese setzt sich zusammen aus Peter Studer (Kammerpräsident), Luisa Ghiringhelli Mazza, Pia Horlacher, Philip Kübler, Katharina Lüthi und Edy Salmina. Die Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 15. Oktober 2004 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Die berufsethischen Regeln der «Erklärung» und der zugehörigen Richtlinien, welche für Texte gelten, gelten im Grundsatz auch für Bilder. Bei heiklen, sensiblen Themen sollen Bilder zurückhaltend und erst nach Interessenabwägung eingesetzt werden. (Stellungnahme 2/1998).

2. Die Richtlinie 7.4 (Kinder) lautet: «Kinder bedürfen eines besonderen Schutzes; dies gilt auch für Kinder von Prominenten oder weiteren Personen, die Gegenstand des Medieninteresses sind. Besondere Zurückhaltung ist angezeigt, bei der Berichterstattung im Zusammenhang mit Kindern (sei es als Opfer, mögliche Täter/innen oder als Zeug/innen), bei Gewaltverbrechen. Dies gilt vor allem bei Befragungen.» Mit andern Worten bezweckt diese Richtlinie vorrangig den Schutz von Kindern, die als Opfer, Täter oder Zeugen eines Deliktes direkt Gegenstand des Medieninteresses sind oder die als Verwandte von Personen, die im Schweinwerfer der Medien stehen, öffentliche Aufmerksamkeit erlangen.

3. Nur zwei der drei Fotos bilden Kinder ab. Weder das Foto mit dem 10-12-jährigen Mädchen, noch dasjenige mit dem – für das Bild instrumentalisierten – Baby zeigen Kinder in einer Situation, die sie als besonders schutzbedürftig erscheinen lässt. Dennoch erscheint die Publikation der beiden Bilder im gegebenen Kontext aber berufsethisch doch problematisch. Denn die Bildfolge ist bereits durch den Titel «Alarmstufe rot», den Einleitungstext («Knallrote Lippen sind Magie, pure Magie», «Signalwirkung», «verführerischer und symbolischer Furor roter Lippen») erotisch aufgeladen. Hinzu kommt das sexuell explizite Bild von Diana Scheunemann, dass dem gesamten Beitrag noch einen zusätzlich lustbetonten Unterton verleiht. In diesem Zusammenhang könnte gerade auch beim Bild des Babys mit den mit Lippenstift verschmierten Lippen der Bildtext «Rote Lippen Schaffen eine Distanz, eine Erhöhung. Sex der nicht zu bekommen ist.» Anlass zu Missverständnissen nicht nur bei der Beschwerdeführerin geben. Ein Stück weit gilt dies wohl auch für das Foto des auf dem Sofa liegenden ca. 10-12 jährigen Mädchen.

Die dargelegte Problematik ändert aber nichts daran, dass es nach Auffassung des Presserates wesentlich zu weit führen würde, die beiden Bilder wie die Beschwerdeführerin als Kinderpornographie zu bewerten. Ebenso ist eine Verletzung der Richtlinie 7.4 zu verneinen.

4. a) Schliesslich fällt das Foto der jungen Frau mit dem auf den Bauch aufgezeichneten ejakulierenden Penis nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 7.4. Denn es zeigt kein Kind (vgl. hierzu auch die Stellungnahme 39/2004). X. beschwert sich in diesem Zusammenhang allerdings sinngemäss, mit der Publikation von derartigen Bildern in einer Modezeitschrift, in der sie nicht zu erwarten seien, werde der gesetzliche Kinder- und Jugendschutz unterlaufen.

b) Die «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen» und die zugehörigen Richtlinien enthalten keine explizite Bestimmung, die den – nicht vom Presserat zu interpretierenden – strafrechtlichen Jugendschutzbestimmungen (Art. 197 StGB) in diesem Bereich entsprechen. Allenfalls könnte eine derartige Verpflichtung aus der in der Präämbel zur «Erklärung» postulierten Verantwortlichkeit der Medienschaffenden gegenüber der Öffentlichkeit abgeleitet werden. Der Presserat hat in der Stellungnahme vom 20. Februar 1991 i.S. Free Base festgehalten, dass die Verantwortung der Medienschaffenden nicht nur eine Informationspflicht, sondern auch die Abwägung der sich aus einer Publikation ergebenden Folgen umfasst.

c) Ist die Zeitschrift «Bolero» mit der Publikation des Fotos von Diana Scheunemann in diesem Sinne zu weit gega
ngen? Die Pop- und Fotokunst hat seit den 1960er Jahren die Grenzen zwischen neutralem Porträt und erotisch suggestiver Inszenierung stark ausgeweitet (Tom Wesselmanns gemalte Lippenstifte; Thomas Ruffs und Bettina Rheims Fotoserien; letzterer ist übrigens eine Aufnahme in der «Bolero»-Serie nachempfunden). Der Lippenstift erscheint längst als Fetisch. Folglich beansprucht die «Bolero»-Serie offensichtlich auch die Freiheit künstlerischer Kommentierung. «Bolero» ist zudem keine Zeitschrift für Kinder und Jugendliche. Aus der Pflicht der Journalistinnen und Journalisten, in den Publikationsentscheid auch mögliche Folgen einzubeziehen, kann nicht abgeleitet werden, dass auch wenig wahrscheinliche Konsequenzen in die geforderte Abwägung einzubeziehen wären. Dementsprechend darf man bei einem Mode- und Lifestyle-Magazin für Erwachsene nicht erwarten, dass sich jedes Wort und jedes Bild auch für durchblätternde Kinder und Jugendliche eignet. Dies gilt auch dann, wenn eine Publikation wie vorliegend unaufgefordert zugestellt wird. Ebenso wie bei Fernsehsendungen ist es auch bei Zeitungen und Zeitschriften in erster Linie Aufgabe der Eltern, zu kontrollieren, was ihren Kindern zugemutet werden soll.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. Bei heiklen, sensiblen Themen sollen Bilder mit Zurückhaltung und erst nach sorgfältiger Interessenabwägung eingesetzt werden. Dies gilt insbesondere auch für Bilder von Kindern, die in einem sexualisierten Kontext veröffentlicht werden.