Nr. 51/2001
Journalistische Unabhängigkeit / Identifizierende Berichterstattung

(H. c. «Uster und Züri Oberland Nachrichten») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 29. November 200

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I. Sachverhalt

A. Unter dem Titel «Denunzieren aus Langeweile: Heisst ehrenamtlich eigentlich vogelfrei?» und dem Lead «Unglaublich, was Menschen passieren kann, die sich um schwächere Mitglieder der Gesellschaft kümmern» erschien in den «Uster und Züri Oberland Nachrichten» am 30. August 2001 ein Artikel über eine zwischen einem Vormund und einem Dritten geführten Auseinandersetzung. Danach hatte der durch eine «Anzeige» des Dritten «angeschwärzte» Vormund der Vormundschaftsbehörde «beweisen» müssen, dass er sein bereits während acht Jahren ausgeübtes Amt nach bestem Wissen und Gewissen im Dienste seines Mündels wahrnehme. Wegen des Amtsgeheimnisses dürften weder die Namen des Mündels noch des Vormundes genannt werden. In der Folge schilderte der Artikel den Sachverhalt aus Sicht des Vormunds. Der Text erwähnte den am Konflikt beteiligten Dritte und «Anzeiger» als «(…) Keramik-Künstler E. H., aus der B. in W.» (Ortsnamen im Artikel ausgeschrieben) und eine in der Sache ebenfalls engagierte Primarlehrerin C.O. erwähnt, «die mit dem Künstler unter dem gleichen Dach lebt». Illustriert war der Artikel mit einer Fotografie, auf der zwei tuschelnde Männer abgebildet sind. Darunter stand die Legende: «Erst mal tüchtig über jemanden herziehen – das Amtsgeheimnis ist schliesslich eine perfekte Rüstung …». Gezeichnet war der Bericht mit dem Kürzel «nn».

B. Einen Tag nach Erscheinen des Artikels wandte sich H. mit einer Beschwerde an den Presserat. Beim Beschwerdeführer handelt es sich um den im Artikel bezeichneten «Keramik-Künstler E.H.». In seiner Beschwerde rügte er, dass der Autor des Berichts und der darin beschriebene Vormund identisch seien, was die Leserschaft jedoch nicht erkennen könne. Der Chefredaktor und Vormund habe als Autor des Berichts seine Stellung missbraucht, um den Beschwerdeführer öffentlich anzugreifen. Chefredaktor Bodenmann habe ihm bereits vor der Veröffentlichung des Artikels mit einem identifizierenden Zeitungsbericht gedroht. Damit habe er die Ziffern 1 und 3 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» sowie der zugehörigen Richtlinien 2.3 und 3.1 verletzt. Zudem sei er, also der Beschwerdeführer, im Artikel identifizierbar gewesen, was ihn in seiner Privatsphäre (Ziffer 7 der «Erklärung») verletze. Abschliessend rügte der Beschwerdeführer, die beigegebene Foto sei – obwohl gestellt – nicht als «Symbolbild» gekennzeichnet (Richtlinie 3.4).

C. In einer Stellungnahme vom 9. Oktober 2001 wies der Chefredaktor der «Uster und Züri Oberland Nachrichten», Heinz Bodenmann, die Beschwerde sinngemäss als unbegründet zurück. Der Artikel habe die Wehrlosigkeit eines Vormundes gegenüber anonymen Beschuldigungen aufzeigen wollen. Er habe seinen Namen und den des Mündels nicht genannt, weil er sonst gegen das Amtsgeheimnis verstossen hätte. Er hätte zwar in den Ausstand treten können und den Artikel von jemand anderem schreiben lassen können. In einem Redaktionsteam von nur zwei Leuten wäre dies aber nicht ohne weiteres machbar gewesen.

D. Das Präsidium des Presserats wies den Fall seiner 3. Kammer zu; ihr gehören Catherine Aeschbacher als Präsidentin an sowie Esther Diener Morscher, Judith Fasel, Sigi Feigel, Roland Neyerlin, Daniel Suter und Max Trossmann. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 29. November 2001 und auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Bei den Rügen der Beschwerdeführers betreffend den Missbrauch der beruflichen Stellung, der identifizierenden Berichterstattung sowie der unterlassenen Kennzeichnung eines Symbolbildes geht es schwergewichtig um die Ziffer 9 (Unabhängigkeit der Journalistinnen und Journalisten) bzw. die Richtlinie 2.4 (Öffentliche Funktionen) sowie die Ziffern 7 (Respektierung der Privatsphäre) und 3 (Vollständigkeit der Information) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten».

2. Der Presserat hat zuletzt in seiner Stellungnahme 15/2001 i.S. David c. NZZ / Frenkel (Stellungnahme vom 15. März 2001) darauf hingewiesen, dass sich der Anwendungsbereich von Ziffer 9 der «Erklärung» («Sie nehmen weder Vorteile noch Versprechungen an, die geeignet sind, ihre berufliche Unabhängigkeit und die Äusserung ihrer persönlichen Meinung einzuschränken.») nicht nur auf die Annahme verpönter materieller Vorteile beschränkt. Vielmehr geht es generell um die Gefahr, dass Medienschaffende ihre berufliche Unabhängigkeit verlieren könnten. Deshalb stützte sich der Presserat bereits in seiner Stellungnahme 7/96 i.S. H. Co. c. «Stadtanzeiger Opfikon-Glattbrugg» vom 7. November 1996 (Sammlung der Stellungnahmen des Presserates 1996, S. 88ff.) auf diese Norm (welche damals noch unter Ziffer 8 aufgeführt war), als er die strikte Trennung zwischen einem politischen Amt und journalistischer Tätigkeit forderte. Der Presserat hielt damals fest, «dass das Prinzip der Wahrung der Unabhängigkeit der Medienschaffenden der ÐErklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalistenð immanent ist» (a.a.O., S. 98). Weiter postulierte der Presserat damals eine Ausstandspflicht, wenn bei der Behandlung eines Themas eine «grosse Nähe» bestehe. Journalistinnen und Journalisten sollten in dieser Situation grundsätzlich weder über das Thema berichten noch kommentieren, zumindest sei aber in jedem Fall Transparenz gegenüber dem Publikum herzustellen. Diese Grundsätze sind zudem in 2.4 der Richtlinien zur «Erklärung» wie folgt zusammengefasst: «Die Ausübung des Berufs der Journalistin, des Journalisten ist grundsätzlich nicht mit der Ausübung einer öffentlichen Funktion vereinbar. Wird eine politische Tätigkeit aufgrund besonderer Umstände ausnahmsweise wahrgenommen, ist auf eine strikte Trennung der Funktionen zu achten. Zudem muss die politische Funktion dem Publikum zur Kenntnis gebracht werden. Interessenkonflikte schaden dem Ansehen der Medien und der Würde des Berufs. Dieselben Regeln gelten auch für private Tätigkeiten, die sich mit der Informationstätigkeit überschneiden könnten.»

3. Im vorliegenden Fall ist der Autor des Artikels mit dem darin beschriebenen Vormund identisch – ohne dass dies aber für die Leserin oder den Leser ersichtlich wird. Zwar ist die Übernahme einer Vormundschaft selbstverständlich auch für Journalistinnen und Journalisten möglich. Chefredaktor Bodenmann hätte als Direktbetroffener aber von sich aus in den Ausstand treten müssen. Es kann nicht angehen, die berufliche Funktion als Chefredaktor bzw. Journalist dazu auszunützen, um eine private Auseinandersetzung rund um eine Vormundschaft über die eigene Zeitung auszutragen. Und ebensowenig zulässig wäre es, im Rahmen einer solchen Auseinandersetzung mit der Veröffentlichung eines Artikels zu drohen. Ob Chefredaktor Bodenmann dem Beschwerdeführer tatsächlich mit dem nachträglich veröffentlichten Zeitungsbericht gedroht hat, muss hier offen bleiben, da er sich zu diesem Vorwurf in der Beschwerdeantwort nicht geäussert hat.

Aufgrund der berufsethischen Pflicht, Privates und Berufliches strikt zu trennen, wäre es zudem auch nicht angegangen, den Artikel durch Weisung des Chefredaktors von einem Redaktionskollegen verfassen zu lassen. Wenn die Redaktion der «Uster und Züri Oberland Nachrichten» das generelle Thema der Hilflosigkeit von ehrenamtlich Tätigen gegenüber anonymer Kritik an einem konkreten Beispiel aufgreifen wollte, hätte sie nicht ausgerechnet ein Beispiel aufgreifen sollen, bei dem der Chefredaktor und Autor des Berichts offensichtlich befangen war. War schon die Publikation des beanstandeten Berichts von vornherein berufsethisch unzulässig, braucht der Presserat auf weitere im Zusammenhang mit der Darstellung des Sachverhalts vom Beschwerdeführer gerügte Details nicht näher einzugehen.

4. Im Artikel wird der Beschwerdeführer mit seinen Initialen
, seiner Berufsbezeichnung und dem Wohnort erwähnt. Mit diesen Angaben ist er identifizierbar. Auch die als Primarlehrerin C.O. ist mit dem Hinweis auf «das unter einem Dach wohnen mit dem Keramikkünstler» (in B. in W. sind 8 Eintragungen im Telefonbuch) ohne weiteres zu erkennen. Die Veröffentlichung dieser Details verstösst deshalb gegen Ziffer 7 der «Erklärung». Denn eine identifizierende Berichterstattung ist nur ausnahmsweise gerechtfertigt. Vorliegend ist nicht ersichtlich und wird dies vom Beschwerdegegner auch nicht geltend gemacht, dass eine Identifikation des Beschwerdeführers ausnahmsweise, z.B. aufgrund eines überwiegenden öffentlichen Interesses, zulässig gewesen wäre.

5. Abschliessend ist noch die Rüge des Beschwerdeführers zu prüfen, das zur Illustration des Berichts verwendete gestellte Bild sei ungenügend gekennzeichnet gewesen. Nach Auffassung des Presserates dürfte kaum eine Leserin oder ein Leser zum Schluss gekommen sein, dass es sich bei den Abgebildeten um im Text erwähnte Akteure handelt. Dementsprechend ist eine Verletzung der Richtlinie 3.4 zur «Erklärung» zu verneinen. Trotzdem empfiehlt der Presserat, solche Bilder durch einen entsprechenden Hinweis (etwa «Symbolbild» oder «Bild gestellt») eindeutig zu kennzeichnen.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird gutgeheissen.

2. Es verstösst gegen Ziffer 9 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» sowie gegen Ziffer 2.4 der Richtlinien zur «Erklärung», die berufliche Funktion als Journalist dazu auszunützen, um eine private Auseinandersetzung rund um eine Vormundschaft über die eigene Zeitung auszutragen. Wenn die Redaktion der «Uster und Züri Oberland Nachrichten» ein generelles Thema anhand eines konkreten Beispiels aufgreifen wollte, hätte sie nicht ausgerechnet ein Beispiel wählen dürfen, bei dem der Chefredaktor und Autor des Artikels offensichtlich befangen war und deshalb hätte in den Ausstand treten müssen.

3. Die Redaktion der «Uster und Züri Oberland Nachrichten» hat Ziffer 7 der «Erklärung» verletzt, indem sie ohne ein überwiegendes Interesse die Initialen, den Beruf und den genauen Wohnort des Beschwerdeführers veröffentlichte und so seine Identifikation durch die Leserschaft ermöglichte.

4. Auch wenn Symbolbilder für die Leserschaft als solche erkennbar sind, sollten sie durch einen entsprechenden Hinweis (zum Beispiel mit den Worten «Symbolbild» oder «Bild gestellt») möglichst eindeutig gekennzeichnet werden.