Nr. 46/2012
Identifizierung / Eindringen in Privatsphäre / Anhörung

(X. c. «Blick») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 24. August 2012

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I. Sachverhalt

A.
Am 5. November 2011 berichteten Ralph Donghi und Adrian Schulthess im «Blick» auf der Titelseite («Rentner verhaftet») und auf Seite 4 («Der Tot-Raser hatte beim Eindunkeln schon 1,9 Promille!») über das «Zebrastreifen-Drama von Worb». Auslöser des Berichts ist ein tragischer Unfall, der sich am frühen Abend des 2. November 2011 in Worb BE ereignete. Dabei wurde ein 10-jähriger Knabe auf einem Fussgängerstreifen von einem Auto überfahren. Wenig später erlag er seinen schweren Verletzungen. Die Ermittler seien überzeugt, ein 70-jähriger Schweizer Rentner, der mit gegen zwei Promille Alkohol im Blut durch Worb gefahren sei, habe den Jungen totgefahren. Er habe versucht, im dichten Feierabendverkehr bei einem Fussgängerstreifen zu überholen und habe dabei den Primarschüler frontal getroffen. Der «Besoffene» sei davon gebraust, ohne sich um den Schwerverletzten zu kümmern. «Der Unfall-Rentner» wohnt offenbar in der Nähe. In einem bloss zwei Kilometer entfernten Dorf habe ihn die Polizei zwei Stunden später aus dem Verkehr gezogen. «Die Schäden an seinem Auto verraten ihn.» Laut den Untersuchungsbehörden stehe der Mann unter «dringendem Tatverdacht auf fahrlässige Tötung». Die Staatsanwaltschaft beantrage deshalb Untersuchungshaft.

B. Am 1. Dezember 2011 berichteten Ralph Donghi, Patrik Berger und Gita Topiwala wiederum im «Blick» («Ex-Politiker verhaftet») unter Nennung des Vornamens und des Initials des Nachnamens, der ehemalige Präsident der Arbeitnehmer- und Rentnerpartei, solle den zehnjährigen Knaben in Worb totgefahren haben. «Ein renovierter Genossenschaftsblock in Bern. Weiss gestrichen, blaue Fensterläden (…) Hier wohnt (…)* [*Name der Redaktion bekannt] in einer Mansarde oberhalb der Wohnung seiner Mutter.» Der Ex-Politiker solle am 2. November 2011 in Worb BE einen zehnjährigen Knaben auf einem Zebrastreifen totgefahren haben. «‹Blick› weiss: Es ist nicht das erste Mal, dass X. im Knast sitzt. Er hat eine belastete Vergangenheit. Am 14. März 1997 wird X. Präsident der Arbeitnehmer- und Rentnerpartei (ARP) in Bern, obwohl er erst seit drei Wochen Mitglied ist. Seinen Parteikollegen erzählt er, er sei in der Fremdenlegion gewesen. In Wahrheit ist der Mann ein Betrüger. Vier Tage nach seiner Nomination zum Parteipräsidenten verurteilt ihn das Obergericht zu zweieinhalb Monaten Gefängnis. Es bescheinigt ihm eine ‹mindestens mittlere Verminderung der Zurechnungsfähigkeit›. (…) Nach seiner Verurteilung durch das Obergericht taucht X. ab. Seine Parteikollegen hören nichts mehr von ihm. (…) Es dauert ein Jahr, bis ihn die ARP aus der Partei ausschliesst. Im Februar 1998 hat ihn die Polizei endlich gefasst, X. muss seine Strafe absitzen.» Illustriert ist der Bericht unter anderem mit einem Profilbild von X. auf dem die Augenpartie mit einem schwarzen Balken abgedeckt ist. Die Legende lautet: «X. sass schon wegen Betrugs im Gefängnis.»

C.
Am 19. März 2012 beschwerte sich X. beim Presserat, die obengenannten «Blick»-Berichte verletzten die Ziffern 3 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) und 7 (Privatsphäre/Identifizierung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten».

Die «Blick»-Reporter seien am Wohnsitz des Beschwerdeführers mehrmals in die Mietliegenschaft eingedrungen, hätten bei Mitbewohnern geläutet und seine 89-jährige Mutter belästigt, zusätzlich auch mehrmals telefonisch. Selbst am Wohnort des Bruders des Beschwerdeführers seien die «Blick»-Reporter ins Wohnhaus eingedrungen und hätten auch dort die Mitbewohner durch unerlaubtes Klingeln an sämtlichen Wohnungstüren gestört.

Die Erwähnung der früheren politischen Tätigkeit trage ebensowenig zur Aufklärung des Verkehrsunfalls von Worb bei, wie die Nennung der angeblichen strafrechtlichen Verurteilung aus dem Jahr 1997. Weiter sei die Veröffentlichung eines Bilds aus dem Jahr 1997 ohne Zustimmung des Beschwerdeführers erfolgt. Zu keinem Zeitpunkt habe zudem Anlass bestanden, ihn als «Tot-Raser» zu bezeichnen und seinen Vornamen und den ersten Buchstaben seines Nachnamens veröffentlichen.

Nebst der unzulässigen Identifizierung und der fragwürdigen Recherchemethoden habe es «Blick» schliesslich auch unterlassen, ihn vor der Veröffentlichung der beanstandeten Berichte zu schweren Vorwürfen zu befragen.

D.
Am 23. Mai 2012 teilte der Blattmacher Urs Helbling im Auftrag von Chefredaktor Ralph Grosse-Bley mit, «Blick» verzichte auf eine Stellungnahme zur Beschwerde von X.

E. Am 25. Mai 2012 schrieb der Presserat den Parteien, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

F. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 31. August 2012 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Gemäss der Ziffer 7 zur «Erklärung» respektieren die Medienschaffenden «die Privatsphäre der einzelnen Personen, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt». Die zugehörige Richtlinie 7.1 bekräftigt, dass jede Person Anspruch auf den Schutz ihres Privatlebens hat. Deshalb ist jede Belästigung von Personen in ihrem Privatbereich zu unterlassen (Eindringen in Häuser, Verfolgung, Auflauern, telefonische Belästigung usw.). Die Richtlinie 7.2 (Identifizierung) verlangt, dass die Medienschaffenden «die beteiligten Interessen (Recht der Öffentlichkeit auf Information, Schutz der Privatsphäre) sorgfältig abwägen. «Überwiegt das Interesse am Schutz der Privatsphäre das Interesse der Öffentlichkeit an einer identifizierenden Berichterstattung, veröffentlichen Journalistinnen und Journalisten weder Namen noch andere Angaben, welche die Identifikation einer Person durch Dritte ermöglichen, die nicht zu Familie, sozialem oder beruflichem Umfeld des Betroffenen gehören, also ausschliesslich durch die Medien informiert werden.»

2. Die Berichterstattung über den tragischen Todesfall auf einem Fussgängerstreifen in Worb und dessen Hintergründe ist von öffentlichem Interesse. Ungeachtet davon, welche Verdachtsmomente und/oder Beweise gegen den Beschwerdeführer vorlagen und wie der Stand des offenbar gegen ihn geführten Strafverfahrens zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des «Blick»-Berichts vom 1. Dezember 2011 war, rechtfertigt dieser Umstand für sich allein aber keine identifizierende Berichterstattung. X. war – wenn überhaupt – lediglich im Jahr 1997, also vor knapp 15 Jahren, im Zusammenhang mit der kurzzeitigen Übernahme des Präsidiums einer politischen Kleinpartei vorübergehend eine Person des öffentlichen Interesses. Weder besteht ein Zusammenhang zwischen der früheren politischen Tätigkeit und der möglichen Verwicklung des Beschwerdeführers in den Unfall von Worb noch ist auch nur annähernd ein sachlicher Zusammenhang zwischen der von «Blick» erwähnten früheren strafrechtlichen Verurteilung wegen Betrugs und der ihm aktuell offenbar vorgeworfenen fahrlässigen Tötung eines Kinds im Strassenverkehr ersichtlich.

Zwar hat «Blick» nicht den ganzen Namen des Beschwerdeführers genannt. Mit der Kombination von Vornamen und Initial des Nachnamens, dem Profilbild (mit abgedeckter Augenpartie), dem Wohnort und der früheren politischen Tätigkeit ist X. nach Auffassung des Presserats aber trotzdem über sein engeres Umfeld hinaus erkennbar. Insoweit hat «Blick» deshalb die Ziffer 7 der «Erklärung» (Identifizierung) verletzt.

3. Der Beschwerdeführer beanstandet weiter die Recherchemethoden von «Blick». Der Presserat hat in der Stellungnahme 3/2012 darauf hingewiesen,
dass es berufsethisch problematisch ist, das private Umfeld einer Person, die zum Gegenstand des Medieninteresses wird, systematisch zu durchleuchten. Im Rahmen des öffentlichen Interesses ist es den Medien aber nicht verwehrt, über die Hintergründe eines Unfalls zu recherchieren. Der Beschwerdeführer gibt dazu an, dass sich «Blick»-Reporter in seinem Wohnhaus in Bern sowie in demjenigen seines Bruders in einem Vorort von Bern umgesehen und bei Mitbewohnern geläutet hätten. Eine Verletzung der Richtlinie 7.1 – im Sinne einer Verletzung des Hausrechts – ist allein durch diese Handlungen noch nicht erstellt. Grenzwertig erscheint hingegen die von X. behauptete mehrfache «Belästigung» seiner 89-jährigen Mutter. Da die Beschwerde allerdings keine näheren Ausführungen dazu macht, wie diese Kontakte abgelaufen sein sollen – ob es sich bloss um kurze Anfrage handelte oder ob die «Blick»-Reporter die betagte Frau regelrecht bedrängten – ist für den Presserat eine Verletzung von Ziffer 7 der «Erklärung» diesbezüglich nicht belegt.

4. Wäre «Blick» schliesslich verpflichtet gewesen, X. vor der Veröffentlichung des Tatverdachts zu kontaktieren und ihn zum schweren Vorwurf anzuhören, er habe einen 10-jährigen Knaben totgefahren? Beim gänzlich anonymisierten Bericht vom 5. November 2012 bestand offensichtlich keine Anhörungspflicht, ist doch darin lediglich allgemein von einem 70-jährigen Schweizer Rentner und nicht konkret von der Person des Beschwerdeführers die Rede. Näher zu prüfen ist die Frage hingegen beim Bericht vom 1. Dezember 2012. Diesem ist zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer sich damals seit einem Monat in Untersuchungshaft befand und dass er immer noch alles abstreite. Ist damit der Anhörungspflicht Genüge getan?

Der Presserat hat in der Stellungnahme 58/2010 festgehalten, dass primär vor der Publikation von schweren Vorwürfen immer versucht werden sollte, den direkt Betroffenen für eine Stellungnahme zu erreichen. «Ist der Kritisierte für eine Stellungnahme nicht erreichbar (befindet sich beispielsweise ein Angeschuldigter in Haft oder auf der Flucht), kann – falls bekannt – stattdessen ein Vertreter (z.B. ein Anwalt) angehört werden.» Vorliegend kann der Presserat gestützt auf die Unterlagen nicht beurteilen, ob den Beschwerdegegnern die anwaltliche Vertretung des Beschwerdeführers zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Berichts vom 1. Dezember 2012 bekannt war oder ob sie in der Lage gewesen wären, diese in Erfahrung zu bringen. Im Zweifel ist deshalb davon auszugehen, dass eine Stellungnahme des Beschwerdeführers oder eines Vertreters nicht erhältlich war. Unter diesen Umständen genügte es, wenn «Blick» das Dementi veröffentlichte und implizit darauf hinwies, dass X. unter den gegebenen Umständen nicht für eine Stellung erreichbar war. Eine Verletzung der Anhörungspflicht ist deshalb zu verneinen.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde gegen «Blick» wird teilweise gutgeheissen.

2. «Blick» hat mit der Veröffentlichung des Berichts vom 1. September 2012 («Ex-Politiker verhaftet») die Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (in Bezug auf die Identifizierung) verletzt.

3. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde abgewiesen.

4. «Blick» hat mit der Recherche und Veröffentlichung der Berichte vom 5. November («Der Tot-Raser hatte beim Eindunkeln schon 1.9 Promille» und vom 1. Dezember («Ex-Politiker verhaftet») die Ziffern 3 (Anhörung) und 7 (in Bezug auf das Eindringen in die Privatsphäre) der «Erklärung» nicht verletzt.