Nr. 2/2010
Identifizierende Berichterstattung

(X. c. «Blick»)

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I. Sachverhalt

A. Am 30. Juni 2009 veröffentlichte «Blick» unter dem Titel «Sado-Maso im Sozialamt» über drei Seiten mehrere gross- und kleinformatige Bilder von einer «Sado-Maso-Website», auf welchen die «Leiterin des Sozialamts» einer kleinen Gemeinde im Zürcher Unterland als «Sex-Sklavin» posiert. Laut dem Artikel von Debora Zeier sind die Aufnahmen unter dem Spitznamen «Snouky» auf der Webseite des Fotografen Frank B. öffentlich zugänglich. «Blick» fragt dazu: «Darf eine Schweizer Amtsperson sich so im Internet zeigen?» Das Gesicht der Frau auf den Bildern ist durch Verpixelung anonymisiert. Hingegen nennt der Bericht die Namen von Website und Gemeinde sowie den Vornamen der Betroffenen. Diese habe, von «Blick» auf «ihr seltsames Hobby» angesprochen, keinen Kommentar abgeben wollen. Früher sei sie weniger scheu gewesen. So habe sie gegenüber der «Bündner Woche» zu ihrer «Miss Bikini-Kandidatur» ausgeführt: «Ich habe kein Problem, meinen Körper zu zeigen. Ich stehe gern vor der Kamera. Es ist ein guter Ausgleich zu meinem Job auf dem Sozialamt.»

Ein Kasten mit dem Titel «Fristlose Kündigung» begleitet den Hauptartikel. Dieser bildet das Gemeindehaus und die Gemeindepräsidentin (und Vorgesetzte der Sozialamtsleiterin) ab. Die Gemeindepräsidentin betrachte die Fotos als Privatsache und wolle deshalb dazu keine Stellung nehmen. Anders sehe dies der Arbeitsrechtler Martin Zwahlen. Für ihn seien solche Bilder auch dann ein Problem, wenn sie nach Dienstschluss aufgenommen werden. Denn Nebenbeschäftigungen im öffentlichen Dienst seien grundsätzlich bewilligungspflichtig und dürften dem Ansehen einer Person nicht schaden. Auch wer nicht im öffentlichen Dienst, sondern in einer privaten Firma arbeite, sollte sich freizügige Posen zweimal überlegen: «‹Auch dort kann das zur Kündigung führen. Je mehr Leute jemand unter sich hat, desto eher fällt ein Verlust des Ansehens ins Gewicht›, sagt Zwahlen.»

B. Am 1. Juli 2009 nahm «Blick» dieselbe Geschichte nochmals auf (Titel: «Sado-Maso-Frau vom Amt: ‹Hübsch ist sie immerhin›»). Martin Meier und Thomas Ley berichten über eine «heisse Diskussion» in der wiederum namentlich genannten Gemeinde. Der Beitrag endet mit der Information, die «Sozialamtsleiterin» habe sich dem «Sado-Maso-Fotograf Frank B.» für ein erotisches Shooting zur Verfügung gestellt. «Für 150 Franken überliess sie ihm vertraglich die Rechte an der Nutzung der Bilder. Frank B. genehmigte ‹Blick› den Abdruck der Fotos. Ein geplantes Interview mit den beiden kam gestern zunächst nicht zustande.»

C. Gleichentags gelangte X. einer Beschwerde an den Presserat. Mit der Veröffentlichung der Bilder und den Angaben im Text habe die Zeitung die Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Privatsphäre) verletzt. Durch die Nennung von Vornamen, Gemeinde, beruflicher Funktion, Alter, Pseudonym, Website und dem Hinweis auf die Teilnahme am Bikini-Wettbewerb habe die Zeitung die Identifizierung mühelos ermöglicht. Mit dem Hinweis, die Fotos seien unzensiert in einem öffentlich zugänglichen Bereich im Internet zu finden, habe «Blick» seine Leserschaft zudem geradezu motiviert, die Bilder unverpixelt anzuschauen. Ein öffentliches Interesse an einer identifizierenden Berichterstattung sei offensichtlich zu verneinen. Die Betroffene übe eine administrative Tätigkeit in einer kleinen Gemeinde aus. Zudem stünden die Bilder in keinem Zusammenhang mit der amtlichen Tätigkeit. «Blick» sei aufgrund der Einschätzung des zitierten Arbeitsrechtlers bewusst gewesen, welchem Risiko er die Betroffene mit der ungenügenden Anonymisierung aussetze. Sollte sich hingegen herausstellen, dass «Blick» die Bilder mit dem ausdrücklichen Einverständnis der Abgebildeten veröffentlichte, ziehe er seine Beschwerde zurück.

D. Am 3. August 2009 beantragte die durch ihren Anwalt vertretene «Blick»-Redaktion, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten. Der Beschwerdeführer sei als unbeteiligter Dritter nicht zur Beschwerde wegen einer angeblichen Verletzung der Privatsphäre legitimiert.

Falls der Presserat trotzdem auf die Beschwerde eintrete, sei sie abzuweisen. Wer damit einverstanden sei, dass Bondage-Bilder von ihm gemacht und auf dem Netz publiziert würden, verzichte insoweit auf seine Privatsphäre. Denn wer sich als «Sklavin» ablichten lasse und derartige Bilder unverfremdet ins Netz stelle, müsse – im Gegensatz zu jemandem, der dies im Versteckten tue – damit rechnen, dass jeder, der sie kenne, dann eben wisse, wer «Snouky» sei. Im Internet-Zeitalter sei auch hinzunehmen, dass man aus einzelnen Angaben auf weitere schliessen kann. Wer nicht gefunden werden wolle, dürfe heute weder in der Öffentlichkeit auftreten noch bei Facebook oder ähnlichen Einrichtungen in Erscheinung treten. Unbestritten sei die Abgebildete zudem eine Angestellte des öffentlichen Dienstes und damit – «egal, wie gross die Gemeinde ist, und ungeachtet ihrer genauen amtlichen Stellung – nicht völlig frei in ihrem Verhalten. Durch die Teilnahme an Bikini-Wettbewerben und die Zustimmung zur Ablichtung als ‹Bondage-Girl› (…) hat sie insoweit Öffentlichkeit hergestellt, die wiederum Rückwirkungen auf ihre öffentliche Stellung hat.»

E. Der Presserat wies die Beschwerde seiner 3. Kammer zu; ihr gehören Esther Diener-Morscher als Präsidentin an, sowie Thomas Bein, Andrea Fiedler, Peter Liatowitsch, Daniel Suter und Max Trossmann. Claudia Landolt Starck, ehemalige Mitarbeiterin des «Blick», trat von sich aus in den Ausstand.

F. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 7. Januar 2010 und auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Gemäss Art. 6 Abs. 1 ist jedermann zur Beschwerde an den Presserat berechtigt. Die Presseratsbeschwerde ist eine Popularbeschwerde und nicht von einer persönlichen Betroffenheit abhängig. Dies gilt auch für eine Beschwerde, die sich auf Ziffer 7 der «Erklärung» (Privatsphäre) bezieht. Der Presserat tritt deshalb auf die Beschwerde ein.

2. Die Veröffentlichung der Bondage-Bilder greift offensichtlich in die Privatsphäre der Abgebildeten ein. Denn auch wenn «Blick» das Gesicht auf den Fotos verpixelt hat, ist die Abgebildete aufgrund der weiteren Angaben über ihr nächstes Umfeld hinaus erkennbar. Gestützt auf Ziffer 7 der «Erklärung» und die zugehörigen Richtlinien wäre die identifizierende Berichterstattung zulässig, falls die junge Frau ausdrücklich in die Veröffentlichung einwilligte oder sofern ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Publikation von Text und Bildern bestand.

3. Eine Einwilligung ist für den Presserat nicht erstellt. «Blick» schreibt in der Ausgabe vom 1. Juli 2009 bloss, der Fotograf habe die Veröffentlichung der Bilder genehmigt. Hätte die Zeitung darüber hinaus auch die Einwilligung der Abgebildeten eingeholt, hätte die Redaktion dies spätestens im Presseratsverfahren vorgebracht.

«Blick» beruft sich darauf, die Einwilligung zur Publikation der Bilder zusammen mit weiteren Angaben, die eine Identifizierung ermöglichen, lasse sich insbesondere auch daraus ableiten, dass die Bilder im Internet abrufbar sind. Der Presserat hat jedoch in seiner Stellungnahme 27/2009 darauf hingewiesen, dass der Begriff der Öffentlichkeit in Bezug auf das Internet nicht ohne Weiteres mit dem Begriff der «Medienöffentlichkeit» gleichzusetzen ist. «Ein Artikel in einer auflagestarken Zeitung (…) findet ein wesentlich grösseres und ein ganz anderes Publikum als eine private Website, die sich in den Weiten des Internets verliert und nur wenige speziell an einem Thema Interessierte anspricht.» Dies gilt vorliegend umso mehr, als die Abgebildete im Internet unter einem Pseudonym auftritt und sich dem Betrachter der Bilder auf der Website die von «Blick» hergestellte Verknüpfung zur beruflichen Tätigkeit auf dem Sozialamt nicht aufdrängt.

4. Eine namentliche oder anderweitig identifizierende Berichterstattung ist gemäss der Richtlinie 7.6 zur «Erklärung» (Namensnennung) ausnahmsweise zulässig, wenn die betroffene Person mit einem politischen Amt oder einer staatlichen Funktion betraut ist und wenn sie beschuldigt wird, damit unvereinbare Handlungen begangen zu haben. Der Presserat hat in seiner Praxis den Anwendungsbereich dieser Bestimmung auf leitende Funktionen beschränkt (Stellungnahmen 6/1999 und 2/2003). Eine solche ist bei einer «Sozialamtsleiterin» einer kleinen Gemeinde, die soweit ersichtlich in erster Linie administrative Aufgaben wahrnimmt, ungeachtet der Bezeichnung der Tätigkeit zu verneinen. Darüber hinaus erscheint es dem Presserat selbst bei einer bedeutenderen staatlichen oder gesellschaftlichen Funktion fraglich, ob in einem solchen Fall das öffentliche Interesse an einer Publikation derartiger Bilder das Interesse am Schutz der Privatsphäre überwöge.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird gutgeheissen.

2. «Blick» hat mit der Publikation des Artikels «Sado-Maso im Sozialamt» (Bericht und Fotos) in der Ausgabe vom 30. August 2009 die Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Privatsphäre) verletzt.