Nr. 2/2012
Fotos und Videos des toten Muammar al-Gaddafi

(X. c. «20 Minuten Online» / Y. c. «20 Minuten») Stellungnahme des Presserates vom 8. Februar 2012

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I. Sachverhalt

A. Am Nachmittag des 20. Oktober 2011 meldeten zahlreiche Online-Newsportale, wenig später auch elektronische und Printmedien, der libysche Machthaber Muammar al-Gaddafi sei getötet worden. Die Nachricht lief zunächst ohne Bestätigung, stammte aber von der seriösen französischen Nachrichtenagentur AFP (Agence France Presse) und war mit einem Bild unterlegt, das der AFP-Fotograf Philippe Desmazes vom Handy-Display eines Kämpfers der Oppositionsstreitkräfte herunterfotografiert hatte. Das Bild zeigte den Diktator blutend, kraftlos und derangiert, also offensichtlich schwer verletzt oder tot.

B. Unter der Überschrift «Gaddafi ist tot» brachte «20 Minuten Online» sehr bald die Nachricht und das Bild. Der Lead lautete «Wie mehrere Medien übereinstimmend berichten, ist der frühere libysche Machthaber bei seiner Gefangennahme getötet worden» und war mit einem grossformatigen Ausschnitt von Desmazes’ Aufnahme unterlegt. Er zeigt den Kopf Gaddafis, angelehnt an die offenbar mit seinem Blut besudelten Beine eines Kämpfers der Anti-Gaddafi-Truppen oder zwischen dessen Knien eingeklemmt.

C. Im Verlauf des Nachmittags des 20. Oktobers bestätigte Libyens «Nationaler Übergangsrat» in Tripolis Gaddafis Tod.

D. In der Folge ergänzte «20 Minuten Online» seine Berichterstattung durch immer neue Fotografien und Bewegtbilder von der Gefangennahme, die stets dieselben Momente aus mehreren Blickwinkeln zeigten, also von verschiedenen Mobiltelefonen mit Kamera- oder Videofunktion aufgenommen. Damit wurde nach und nach deutlich, dass die ursprüngliche Aufnahme des AFP-Fotografen den noch lebenden Gaddafi gezeigt hatte.

Auf «20 Minuten Online» liessen sich neben zahlreichen Fotografien gleich mehrere Videos durch Anklicken betrachten, die Gaddafis Misshandlung bis kurz vor dessen Tötung, sehr wahrscheinlich aber auch dessen Leichnam, aus einem Abstand von teilweise nur wenigen Zentimetern in allen Details und in Farbe zeigten.

E. Am folgenden Tag, Freitag, 21. Oktober, erschien die Printausgabe von «20 Minuten» mit dem Aufmacher «Gaddafi von Rebellen getötet – Libyen jubelt». Das Titelblatt zeigt halbseitig winkende und klatschende Demonstranten unter den Fahnen der Oppositionsbewegung, darüber – neben einer achtzeiligen Zusammenfassung der Berichterstattung im Inneren des Hefts – einen Ausschnitt aus dem Desmazes-Foto.

Auf den Seiten 2 und 3 folgen untter dem Titel «Gaddafi lebend gefasst – und getötet» ein weiteres grossformatiges Jubelbild, flankiert von kleineren Aufnahmen der Kanalisationsröhre, in der Gaddafi von Kämpfern der Opposition gestellt worden war, sowie ein Foto, das die Leiche des früheren Machthabers aus nächster Nähe am Boden oder in einem Fahrzeug liegend zeigt.

F. Gleichentags beschwerte sich Y., Scherzingen, beim Presserat über die Berichte in der Printausgabe von «20 Minuten». Er beklagt, dass «auf den Titelseiten mehrerer Zeitungen (…) Bilder des Ermordeten, z. T. in Grossaufnahme, gezeigt» wurden: «Das leblose Gesicht mit gebrochenem Blick, die Einschlagstelle des Kopfschusses, ein blutüberströmter Kopf/Körper, eine schutzlos daliegende Leiche.» Besonders stossend sei die Bebilderung in der Ausgabe vom 21. Oktober von «20 Minuten». «Diese Zeitungen sind auch für Kinder zugänglich und liegen schon am frühen Morgen in Massen im Zug herum. Kinder, die ohne Begleitung Zug fuhren (…), waren diesen expliziten Gewaltdarstellungen schutzlos ausgeliefert.» Diese Art der Berichterstattung sei menschenunwürdig – «egal, was man von Gaddafi als Mensch oder als Politiker halten will. Dazu kommt, dass es sich bei diesem Todesfall mit grosser Wahrscheinlichkeit um eine brutale Exekution eines zum Todeszeitpunkt wehrlos ausgelieferten Menschen handelte.»

G. Am 24. Oktober 2011 beschwerte sich X. in ähnlicher Weise über «20 Minuten Online». In den Berichten über angebliche Gefangennahme und den Tod des libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi hätten Schweizer Medien Bildmaterial verwendet, «dessen Herkunft zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht gesichert war». Dadurch sei die Ziffer 3 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Quellenüberprüfung) zumindest «tangiert». Vor allem sieht der Beschwerdeführer aber die Ziffer 8 der «Erklärung» (Menschenwürde) verletzt: «Das Medium (…) stufte die Story als dermassen wichtig ein, dass das fragliche Bild, das problemlos aus einem Horrorfilm oder Brutalostreifen hätte stammen können, auf der Frontpage sehr gross präsentiert wurde. Später folgten weitere Bilder und auch Videos, die den verletzten und getöteten Diktator schonungslos zeigten, inklusive der Misshandlungen, denen er ausgesetzt war.» An der Veröffentlichung dieser Bilder habe kein öffentliches Interesse bestanden.

H. Am 25. November und 9. Dezember 2011 wies der Rechtsdienst der Tamedia AG die Beschwerden namens der beiden Redaktionen in zwei weitgehend identischen Stellungnahmen als unbegründet zurück. Bei der Publikation der Bilder des toten Gaddafi sei es zunächst darum gegangen, die Richtigkeit der Meldung über den Tod zu verifizieren, zumal dieser bereits mehrmals fälschlicherweise vermeldet worden sei. Sobald der Tod Gaddafis nicht mehr strittig war, habe «20 Minuten Online» die Videos und Bilder aus dem Netz entfernt.

Darüber hinaus handle es sich bei den Bildern des toten Gaddafi um ein historisches Dokument im Sinne der Richtlinie 7.8 zur «Erklärung», welches «das definitive Ende des Machtregimes von Gaddafi» festhalte. Deshalb überwiege hier das öffentliche Interesse an der Publikation gegenüber dem Recht auf Totenruhe. Fast alle Medien, sogar das öffentlich-rechtliche Schweizer Fernsehen, hätten Bilder von Gaddafis Leiche veröffentlicht. Die veröffentlichten Bilder zeigten den gefallenen Machthaber mit den erlittenen Schussverletzungen. «Jedoch zeigen diese Bilder keinen Inhalt, den man nicht tagtäglich auch in Kino- und Fernsehfilmen, Games, Nachrichten antreffen würde.»

I. Der Presserat wies die Beschwerde der 1. Kammer zu, der Francesca Snider (Kammerpräsidentin), Pia Horlacher, Klaus Lange, Francesca Luvini, Sonja Schmidmeister und David Spinnler (Mitglieder) angehören.

J. Die 1. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 8. Februar 2012 sowie auf dem Korrespondenzweg.


II. Erwägungen

1. a) Gemäss Ziffer 3 der «Erklärung» veröffentlichen Journalistinnen und Journalisten nur Informationen, Dokumente, Bilder, und Töne, deren Quellen ihnen bekannt sind. Die zugehörige Richtlinie 3.1 (Quellenbearbeitung) lautet: «Ausgangspunkt der journalistischen Sorgfaltspflichten bildet die Überprüfung der Quelle einer Information und ihrer Glaubwürdigkeit. Eine genaue Bezeichnung der Quelle eines Beitrags liegt im Interesse des Publikums, sie ist vorbehältlich eines überwiegenden Interesses an der Geheimhaltung einer Quelle unerlässlich, wenn dies zum Verständnis der Information wichtig ist.»

b) X. stellt in seiner Beschwerde die Frage in den Raum, ob «20 Minuten Online» sich bei der frühzeitigen Vermeldung des Todes von Gaddafi auf der Redaktion unbekannte Quellen gestützt und Bildmaterial verwendet hat, dessen Herkunft zur Zeit der Veröffentlichung nicht gesichert war. «20 Minuten Online» wendet dazu ein, die Redaktion habe sich bei ihrer Berichterstattung auf zuverlässige abonnierte Nachrichtenagenturen gestützt. Auf den mit der Beschwerde eingereichten Bildauszügen seien die Quellen zudem vermerkt.

c) Die Quellenlage war am frühen Nachmittag des 20
. Oktober 2011, wie häufig in derartigen Fällen, zunächst nicht ganz eindeutig. Dann aber wären die Medien verpflichtet, den Grad der Authentizität ihrer Berichterstattung gegenüber ihrem Publikum möglichst unmissverständlich zu deklarieren, hier beispielsweise mit der Formulierung, Gaddafis Tod sei «bisher nicht offiziell bestätigt». Demgegenüber erweckt die von «20 Minuten Online» verwendete Umschreibung «Wie mehrere Medien übereinstimmend berichten» Zweifel daran, dass der Bericht auf mehreren unabhängigen Quellen basiert. Zumal wahrscheinlich erscheint, dass sich die nicht genannten Medien im konkreten Fall zunächst alle auf die AFP stützten. Da aus dem vom Beschwerdeführer eingereichten Ausdruck der Berichterstattung von «20 Minuten Online» jedoch nicht hervorgeht, wann dieser veröffentlicht worden ist und wie sich die Quellenlage zu diesem Zeitpunkt präsentierte, kann der Presserat die Frage einer allfällig ungenügenden Quellenüberprüfung nicht beurteilen. Eine Verletzung von Ziffer 3 der «Erklärung» ist mithin nicht erstellt.

2. a) Ziffer 8 der «Erklärung lautet: Journalisten « respektieren die Menschenwürde (…) Die Grenzen der Berichterstattung in Text, Bild und Ton über Kriege, terroristische Akte, Unglücksfälle und Katastrophen liegen dort, wo das Leid der Betroffenen und die Gefühle ihrer Angehörigen nicht respektiert werden». Die Richtlinie 8.3 (Opferschutz) konkretisiert: «Autorinnen und Autoren von Berichten über dramatische Ereignisse oder Gewalt müssen immer sorgfältig zwischen dem Recht der Öffentlichkeit auf Information und den Interessen der Opfer und der Betroffenen abwägen. Journalistinnen und Journalisten sind sensationelle Darstellungen untersagt, welche Menschen zu blossen Objekten degradieren. Als sensationell gilt insbesondere die Darstellung von Sterbenden, Leidenden und Leichen, wenn die Darstellung in Text und Bild hinsichtlich detailgetreuer Beschreibung sowie Dauer und Grösse der Einstellungen die Grenze des durch das legitime Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit Gerechtfertigten übersteigt.» In Bezug auf «Bilder von Kriegen und Konflikten» weist die Richtlinie 7.8 zudem darauf hin, dass diese zwar historische Momente dokumentieren: «Das öffentliche Interesse an ihrer Publikation muss jedoch abgewogen werden gegen
– die Gefahr, die Privatsphäre der abgebildete(n) Person(en) und/oder die Sensibilität der Betrachter zu verletzen;
– das Recht auf Totenruhe des/der Abgebildeten.»

b) Für den Presserat ist unbestritten, dass das Bild des toten Gaddafi aus zwei Gründen gezeigt werden durfte: Einerseits um Zweifel am Endgültigkeitscharakter der Nachricht seines Todes zu beseitigen und wegen dessen historischen Charakters. Die Bedeutung des Todes von Muammar al-Gaddafi geht weit über dessen persönliches Schicksal hinaus. Die genauen Umstände der Ereignisse des 20. Oktobers sind uneingeschränkt als historisch zu werten. Eine detaillierte Berichterstattung lag im öffentlichen Interesse, zumal sich das Schweizer Publikum in der sogenannten «Geiselaffäre» 2008–10 intensiv mit der Person des Machthabers und dem von ihm beherrschten Libyen beschäftigt hat.

c) Doch die Menschenwürde ist ein absolutes Gut. Sie darf niemandem aberkannt werden. Nicht einmal einem Menschen, der sie im Umgang mit anderen nicht oder nur eingeschränkt respektiert. Und auch nicht unter den extremsten Umständen. Deshalb bleibt es den Medien selbst im Fall des Tyrannenmords nicht erspart, die in der Richtlinie 8.3 geforderte Abwägung zwischen «dem Recht der Öffentlichkeit auf Information und den Interessen der Opfer und der Betroffenen» vorzunehmen. Die vermeintlich naheliegende Faustregel: «Je brutaler ein Diktator, desto blutiger darf auch sein Ende dargestellt werden» führt – konsequent zu Ende gedacht – zur Auflösung der Medienethik in Extremsituationen.

Zu berücksichtigen ist darüber hinaus nicht nur die Situation des Opfers allein – der Klarheit halber: Bei seiner Misshandlung und Tötung war Muammar al-Gaddafi nicht mehr Täter, obwohl zum Zeitpunkt der inkriminierten Aufnahmen weiterhin auf seinen Befehl und in seinem Namen getötet wurde, sondern eindeutig wehrloses Opfer –, sondern nicht zuletzt die Wahrnehmung der Bilder durch das Publikum (Richtlinie 7.8: «Ist die im Bild dargestellte Szene geeignet, (…) die Betrachterin/den Betrachter zu verletzen?»).

Zumindest auf die beiden Beschwerdeführer trifft die Argumentation der Beschwerdegegner nicht zu, sämtliche Mediennutzer seien durch das Brutalbilder-Bombardement auf allen Kanälen gegen diese Art der seelischen Verletzung bereits abgestumpft oder gar immun. Nicht von der Hand zu weisen ist zudem der Hinweis des Beschwerdeführers Y., dass gerade Gratiszeitungen wie «20 Minuten» leicht in die Hände von Kindern geraten, bei denen der unterstellte Prozess der Immunisierung möglicherweise noch weniger weit fortgeschritten ist. Allerdings hat der Presserat bereits in seiner Stellungnahme 53/2004 darauf hingewiesen, dass aus der Richtlinie über den Schutz von Kindern (7.3) nicht abgeleitet werden kann, dass bei Publikationen, die sich an Erwachsene richten, jedes Wort und jedes Bild auch für durchblätternde Kinder und Jugendliche geeignet sein muss. Dies gelte auch dann, wenn eine Publikation unaufgefordert zugestellt wird. Ebenso wie bei Fernsehsendungen sei es auch bei Zeitungen und Zeitschriften in erster Linie Aufgabe der Eltern, zu kontrollieren, was ihren Kindern zugemutet werden soll.

d)
Bei der Beurteilung der beanstandeten Berichterstattung von «20 Minuten» Print und derjenigen von «20 Minuten Online» gelangt der Presserat zu einem differenzierten Ergebnis:

– Die Veröffentlichung von gleich mehreren Bildern in teilweise starker Vergrösserung und zusätzlicher Video-Sequenzen von Misshandlung und Tod Gaddafis auf «20 Minuten Online» war weder erforderlich, um Zweifel an der Nachricht zu beseitigen, noch durch den historischen Charakter der Aufnahmen gedeckt. Ein historisches Ereignis wird nicht dadurch historischer, dass es aus vielen verschiedenen Blickwinkeln gezeigt und durch Zoom-Technik nahe an den Betrachter herangeholt wird. Die Art und Weise der unverhältnismässigen, sensationalistisch wirkenden Berichterstattung bediente allenfalls die öffentliche Neugier, die aber bekanntlich nicht mit öffentlichem Interesse gleichzusetzen ist (Stellungnahme 1/2010). Das Foto- und Video-Angebot über Misshandlung und Tod von Muammar al-Gaddafi auf «20 Minuten Online» verstösst deshalb gegen die Menschenwürde.

– Die Print-Ausgabe von «20 Minuten» zeigt zwar ebenfalls mehr als ein Foto des misshandelten und getöteten Gaddafi. Sie zeigt aber die Bilder nicht im selben Vergrösserungsgrad und das Schwergewicht der Bilder liegt bei der jubelnden Bevölkerung und nicht beim getöteten Diktator. Insofern erscheint der Bericht der Printausgabe von «20 Minuten» in Bezug auf die Bildauswahl gerade noch verhältnismässig.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde gegen «20 Minuten Online» wird teilweise gutgeheissen.

2. «20 Minuten Online» hat am 20. Oktober 2011 durch eine unverhältnismässige Veröffentlichung von Fotos und Videos zum Tod des Libyschen Machthabers Muhammad al Gaddafi die Ziffer 8 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Menschenwürde) verletzt.

3. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde gegen «20 Minuten Online» abgewiesen.

4. «20 Minuten Online» hat die Ziffer 3 der «Erklärung» (Quellenüberprüfung) nicht verletzt.

5.
Die Beschwerde gegen die Print-Ausgabe von «20 Minuten» wird abgewiesen.

6. «20 Minuten» hat mit den Berichten vom 21. Oktober 2011 – «Gaddafi von Rebellen getötet – Libyen jubelt» und «Gaddafi le
bend gefasst – und getötet» – die Ziffer 8 der «Erklärung» nicht verletzt.