Nr. 31/2006
Entstellung von Tatsachen / Diskriminierende Anspielungen

(Realschule West der Stadt St. Gallen c. «St. Galler Tagblatt») Stellungnahme des Presserates vom 23. Juni 2006

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I. Sachverhalt

A. Unter dem Titel «Schlechte Noten für die Realschule» veröffentlichte das «St. Galler Tagblatt» am 16. Dezember 2005 ein Interview mit dem Bildungswissenschaftler Christian Brühwiler zu den Ergebnissen einer vertieften Detailanalyse zum Abschneiden des Kantons St. Gallen bei der Pisa-Studie 2003. Diese Detailanalyse zeigte laut Brühwiler «zwei gewichtige Handicaps auf: ungünstige Lernbedingungen an St. Galler Realschulen und fehlende Chancengleichheit bei den 9. Klassen». Besonders problematisch sei «der enge Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und der Leistung: Im Kanton St. Gallen ist die Chancengleichheit nicht gegeben.»

B. Am 21. und 29. Dezember 2005 gelangte Andy Prinzing, Schulleiter der Realschule West, St. Gallen, mit einer Beschwerde gegen den Bericht vom 16. Dezember 2005 an den Schweizer Presserat. Der tendenziöse Titel «Schlechte Noten für die Realschule» entspreche nicht dem Inhalt des Interviews. Er sei «wertend, qualifizierend und fügt der Realschule im Kanton St. Gallen ungerechtfertigt grossen Schaden zu». Das «St. Galler Tagblatt» habe Tatsachen entstellt (Ziffer 3 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten») und diskriminierende Anspielungen (Ziffer 8 der «Erklärung») veröffentlicht. Verletzt worden sei schliesslich auch die Richtlinie 2.3 zur «Erklärung» (Unterscheidbarkeit von Fakten und kommentierenden Wertungen).

C. Gemäss Art. 9 Abs. 3 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserates sind offensichtlich unbegründete Beschwerden durch das Presseratspräsidium zurückzuweisen.

D. Das Presseratspräsidium bestehend aus dem Presseratspräsidenten Peter Studer und den beiden Vizepräsidentinnen Sylvie Arsever und Esther Diener-Morscher hat die vorliegende Stellungnahme per 23. Juni 2006 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Soweit Andy Prinzing die aus seiner Sicht einseitige Titelsetzung des «St. Galler Tagblatt» rügt, ist von vornherein darauf hinzuweisen, dass gemäss konstanter Praxis des Presserates aus der «Erklärung» keine Pflicht zu objektiver Berichterstattung abzuleiten ist. Entsprechend verstösst eine etwas einseitige «tendenziöse» Titelsetzung nicht von vornherein gegen berufsethische Normen. Unzulässig ist es hingegen, Tatsachen in Titel und Lead von Medienberichten derart zu überspitzen, dass sie «einen Sachverhalt verfälschen, statt ihn auf den Punkt zu bringen» (Stellungnahmen 10/2005 und 32/2000).

2. Dem Interview mit Christian Brühwiler ist zu entnehmen, dass die Schüler des Kantons St. Gallen bei der Pisa-Studie 2003 insgesamt gut abgeschnitten haben. Positiv erwähnt er insbesondere die hohen Durchschnittsleistungen in allen vier getesteten Bereichen, die relativ wenigen Unterschiede innerhalb des Kantons zwischen den Klassen des gleichen Schultyps sowie den relativ kleinen Leistungsrückstand der Mädchen in der Mathematik. Als «Kehrseite» bezeichnet er einen nach wie vor «grossen Anteil an schwachen Schülerinnen und Schülern, gerade beim Lesen. Zwölf Prozent kommen über das unterste Niveau nicht hinaus. Besorgnis erregend ist der enge Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und der Leistung. Das heisst: Es findet nicht nur eine Selektion aufgrund der Leistung statt, sondern auch aufgrund des sozialen Hintergrundes der Schülerschaft.» Dabei könne nicht alles der Schule angelastet werden. «Aber: In einem durchlässigeren Schulsystem würde die aufgezeigte Chancenungleichheit weniger scharf ausfallen, wie Pisa-Resultate aus anderen Kantonen zeigen (…) Ziel wäre es die Schwächeren zu fördern, ohne dass die Besten darunter leiden.»

3. Nach Auffassung des Presserates ist der beanstandete Titel nicht als Entstellung von Tatsachen (Ziffer 3 der «Erklärung») zu werten. Christian Brühwiler merkt im Interview kritisch an, die Chancengleichheit für Schüler aus unteren sozialen Schichten sei nicht verwirklicht und zudem falle auch der relativ grosse Anteil lernschwacher Schüler – also solche, die eine Realschule besuchen – besonders beim Lesen negativ ins Gewicht. Als Konsequenz daraus fordert er ein durchlässigeres Schulsystem, mithin also eine weniger starre Trennung zwischen Real- und Sekundarschule. Die Zuspitzung dieser Kritik an der Schulorganisation des Kantons St. Gallen und der Realschule als abstraktem Schultypus hat den Autor zum Titel «Schlechte Noten für die Realschule» bewogen. Das verstand der Beschwerdeführer als Kritik an der konkreten Arbeit der Realschulen und der dortigen Lehrkräfte. Ein Stück weit ist das nachvollziehbar. Trotzdem hält der Presserat die Grenze zwischen zulässiger Zuspitzung und unzulässiger Überspitzung nicht für überschritten. Denn bereits aus dem Lead geht klar hervor, was mit «schlechten Noten» eigentlich gemeint ist: fehlende Durchlässigkeit und Chancengleichheit für Kinder aus unteren sozialen Schichten. Ebenso wenig ist der Titel als – vom Beschwerdeführer ohnehin nicht näher begründete – diskriminierende Anspielung zu werten. Und schliesslich sind auch die der Detailanalyse entnommenen Fakten und die daraus abgeleiteten kommentierenden Wertungen des Interviewten für die Leserschaft unterscheidbar (wie es Richtlinie 2.3 zur «Erklärung» verlangt).

III. Feststellung

Die Beschwerde wird als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen.