Nr. 17/1998
Einseitige Gerichtsreportage

(L. c. „Weltwoche“) Stellungnahme des Presseratesvom 15. Oktober 1998

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I. Sachverhalt

A. In ihrer Ausgabe vom 23. Juli 1998 veröffentlichte die „Weltwoche“ unter dem Titel „Eigenartig spassige Geschichte“ eine Reportage von S. über einen gegen zwei Ausschwitz-Leugner geführten Strafprozess. Im Rahmen dieser Reportage thematisierte die Journalistin u.a. die aus ihrer Sicht bestehenden Unzulänglichkeiten bei der Anwendung des seit dem 1. Januar 1995 geltenden Art. 261bis des Strafgesetzbuches, der sog. Antirassismus-Strafnorm. Weiter zeigte sie auf, dass das grosse Medieninteresse für solche Prozesse zum vom Gesetzgeber kaum beabsichtigten Ergebnis führen kann, dass die Angeklagten den Prozess als Bühne zur Verbreitung rassistischen Gedankenguts missbrauchen.

B. Mit Schreiben vom 23. Juli 1997 gelangte Dr. med. L. an den Chefredaktor der „Weltwoche“, G., und qualifizierte die gleichentags erschienene Reportage als „haarsträubend“, da sie „zynisch, verniedlichend, rein emotional, frauenfeindlich, schlecht recherchiert (…), voll von Platitüden und falschen Vergleichen“ sei. Die „spassige Geschichte“ spiele sich vor dem ernsten Hintergrund des Holocaust ab, weshalb von der Berichterstattung über einen solchen Prozess die notwendige Sachkenntnis und Ernsthaftigkeit erwartet werden könne. In einem weiteren Schreiben vom 25. Juli 1998 an die „Weltwoche“ machte L. geltend, als Leser habe er einen sachlichen Prozessbericht und keine „Philippica gegen das Antirassismusgesetz“ erwartet.

C. Am 27. Juli 1998 gelangte L. an den Presserat und verwies zur Begründung seiner Beschwerde hauptsächlich auf seine beiden Schreiben vom 23. und 25. Juli 1998. Mit Schreiben vom 3. August 1998 wurde der Beschwerdeführer vom Presseratssekretariat aufgefordert, in einer kurzen Beschwerdebegründung darzulegen, welche Punkte der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ die „Weltwoche“ aus seiner Sicht verletzt habe. In seiner Beschwerdebegründung vom 31. August 1998 machte der Beschwerdeführer im wesentlichen eine Verletzung der Ziff. 1, 2, und 7 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ geltend. Die Journalistin habe die Berufsethik und das Ansehen des Berufsstandes dadurch verletzt, dass sie ein ernstes Thema weder in seiner Tragweite erkannt, noch seinen Hintergrund begriffen habe. Sie habe rein emotional geschrieben, ohne die Ratio als Kontrolle einzusetzen. Sie habe weiter die Verantwortlichkeit der Medienschaffenden gegenüber der Öffentlichkeit mit Aussagen wie „die neue Antirassismusnorm zeigt, dass sie mehr schadet als nützt“, „Holocaust-Leugnen als abweichende Meinung von Völkermord“, „Hervorragende Plädoyers der Verteidiger“, „Niemand ist glücklich mit dem neuen Gesetz“, „Mängel bei der Formulierung der Antirassismusnorm (…) Flickenteppich“ grob missachtet. Weiter habe sie groteske Aussagen der Angeklagten wie u.a. „Die Tötung von Menschen in Gaskammern sei aus physikalisch-technischen Gründen unmöglich gewesen“, „Natürlicher Tod im Konzentrationslager“, „Juden seien durch Krankheit umgekommen, nicht in Gaskammern“ wiedergegeben, ohne dazu Stellung zu nehmen. Schliesslich habe S. mit Aussagen wie „Es ist wohl kein Zufall, dass jetzt einer Frau die heikle Aufgabe zugeschoben wurde“, „Kein Mann mag sich damit die Finger verbrennen“, „Andrea Staubli (…) ihr Zeisigstimmchen“, „Andrea Staubli droht (…) wie eine Mutter mit dem Nikolaus“, die Gerichtspräsidentin verunglimpft.

D. S. nahm mit Schreiben vom 14. September 1998 namens der „Weltwoche“-Redaktion Stellung zur Beschwerde. Sie verwies darauf, dass sie seit über 20 Jahren Gerichtsreportagen mache, in denen sie immer Justizkritik geübt habe und besonders auf die Lage der Angeklagten eingegangen sei. In ihrer Gerichtsberichterstattung mache sie keinen Unterschied, ob es sich bei den Angeklagten um kleine Diebe, Brandstifter, pädophile Mörder oder wie im vorliegenden Fall um Holocaust-Leugner handle. Eine besondere Schonung der Gerichtspräsidentin sei nicht angezeigt gewesen, da es für eine sich ernstnehmende Gerichtsberichterstattung nicht von Bedeutung sein könne, ob der Vorsitz von einer Frau oder von einem Mann eingenommen wird. Mit ihrer Reportage habe sie versucht aufzuzeigen, dass „je mehr Schuld (d.h. Antisemitismus) sich im Ganzen ansammelt, je diffuser der Zusammenhang, je anonymer und unsichtbarer ihre Quelle, desto grösser das Bedürfnis der Gesellschaft, sich an deutlich kenntlichen Einzelpersonen abzureagieren.“ Eine Reportage könne nie sogenannt objektiv sein, da sie nur ein kleines Stück aus dem Kuchen der Wirklichkeit herausschneide. Gerade weil der „Weltwoche“ diese Beschränkung bewusst gewesen sei, sei die Diskussion über die Antirassismusstrafnorm mit einer von Juristen bestrittenen „Pro- und Contra-Seite“ weitergeführt worden.

E. Das Presseratspräsidium überwies die Beschwerde zur Behandlung an die dritte Kammer, der Reinhard Eyer als Präsident sowie Catherine Aeschbacher, Adi Kälin, Marie-Therese Larcher und Christian Schwarz angehören. Die Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 1. Oktober 1998 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Vorab ist daran zu erinnern, dass sich der Presserat nur zu Fragen der journalistischen Berufsethik äussert. Soweit der Beschwerdeführer die von S. an der Antirassismusstrafnorm bzw. deren Anwendung geübte Kritik als sachlich unhaltbar qualifiziert, handelt es sich um eine rechtspolitische Diskussion, zu der sich der Presserat nicht zu äussern hat.

2. Soweit der Beschwerdeführer darüber hinaus sinngemäss geltend macht, die Berichterstattung über den gegen zwei Holocaust-Leugner geführten Strafprozess sei angesichts des Schreckens des Holocaust eine derart ernste Angelegenheit, dass sie nicht zu einer grundlegenden Kritik an der „Antirassismusstrafnorm“ „missbraucht“ werden dürfe, verkennt er offensichtlich den Gehalt der Ziff. 2 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“: „Sie verteidigen die Freiheit der Information, die sich daraus ergebenden Rechte, die Freiheit des Kommentars und der Kritik sowie die Unabhängigkeit und das Ansehen ihres Berufs“. Die Justizkritik und die kritische Würdigung einer Strafnorm anlässlich eines von der Öffentlichkeit stark beachteten Prozesses gehört zum notwendigen Bestandteil der Kritik- und Kontrollfunktion der Medien. Selbstredend hat sich die Art und Weise wie diese Kritik geäussert wird, im Rahmen der berufsethischen Normen zu bewegen.

3. Die „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ statuiert keine berufsethische Pflicht zu objektiver Berichterstattung, weshalb eine etwas einseitige Auswahl nicht gegen die Berufsethik verstösst (Stellungnahme i.S. A. c. „Blick“ vom 11. Juni 1992, Sammlung 1992, 7ff.). Ebensowenig kann aus Ziff. 3 der „Erklärung“ „(…) Sie unterschlagen keine wichtigen Elemente von Informationen und entstellen weder Tatsachen, Bilder noch von andern geäusserte Meinungen (…)“ abgeleitet werden, dass bei der Berichterstattung über ein Thema immer sämtliche Aspekte wiederzugeben sind (Stellungnahme vom 7. November 1994 i.S. CCHR Schweiz c. „CASH“, Sammlung 1994, 85ff.). Wenn allerdings Völkermord, „ethnische Säuberungen“ oder andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Spiel sind, lässt es sich berufsethisch unter keinen Umständen rechtfertigen, den Standpunkt einer solcher Verbrechen angeklagten Konfliktpartei darzustellen, ohne auf diesen Tatbestand hinzuweisen. Dem Publikum fehlt sonst ein wesentli-ches Element, um die im Beitrag enthaltenen Informationen gewichten und einordnen zu können (Stellungnahme 3/1995 vom 4. Mai 1995 i.S. „I Serbi“, Sammlung 1995, S. 33ff.)

Diese Grundsätze haben insbesondere auch für eine Reportage zu gelten. Die Reportage i
st dadurch geprägt, dass sie sich an Tatsachen orientiert, jedoch dramaturgisch aufgebaut, lebensnah ist und Gefühle anspricht, lediglich sektoriell – wenn auch gründlich – dokumentiert und persönlich geprägt ist. „Im Gegensatz zum Berichterstatter, der mehr passiv die Dinge aufnimmt, und gewissenhaft zu Papier bringt, gibt der Reporter aus eigener Anschauung seinen sachlich im einzelnen erarbeiteten, aber doch auch persönlichen Gesamteindruck“ (Joachim Leithäuser, Reportagen zur Weltgeschichte, Stuttgart 1964). „Während die anderen Genres vornehmlich versuchen, den Leser rational anzusprechen, will die Reportage durch ihre Darstellungsweise die Gefühle des Lesers ansprechen“ (Brendel, Detlef / Grobe Bernd E., Journalistisches Grundwissen, UTB 565, München 1976).

Ausgehend von dieser Charakterisierung der Reportage ist festzustellen, dass ein wesentlicher Teil der vom Beschwerdeführer gegenüber der „Weltwoche“-Reportage erhobenen Vorwürfe, die Reportage sei „emotional geschrieben, ohne die Ratio als Kontrolle einzusetzen“, beschränke sich nicht auf sachliche Berichterstattung über den Prozess und trage der Gesamtsituation und dem Hintergrund der Antirassismus-Strafnorm nicht angemessen Rechnung, letztlich darauf zielt, die Verwendung der journalistischen Darstellungsform der Reportage bei einem Strafprozess gegen zwei Holocost-Leugner als berufsethisch unzulässig zu erklären.

Aus der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten kann jedoch kein entsprechendes Verbot abgeleitet werden. Sofern das Publikum in der Lage ist, zwischen Fakten und Meinungen zu unterscheiden, diese zu gewichten und einzuordnen und ihm keine für das Verständis unabdingbare Informationselemente vorenthalten werden, ist es dementsprechend berufsethisch zulässig, bei einen solchen Strafprozess einseitig den Standpunkt der Angeklagten auszuleuchten. Entgegen dem Beschwerdeführer kann dabei vorliegend keine Rede davon sein, dass sich S. ungenügend von unhaltbaren Aussagen der Angeklagten distanziert hätte, bleibt doch für den Leser der Reportage immer erkennbar, welche Aussagen der Gedankenwelt der Revisionisten und welche der Kritik der Journalistin an der Antirassismusstrafnorm zuzuordnen sind. Im übrigen ist der Text auch klar als Reportage deklariert worden.

4. Schliesslich vermag der Presserat entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers auch keine Verletzung von Ziff. 7 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ zu erkennen. Gemäss dieser Bestimmung ist die Privatsphäre des Einzelnen zu respektieren, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt und sind u.a. sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen zu unterlassen.

Der Beschwerdeführer sieht eine Verletzung von Ziff. 7 darin, dass die Gerichtspräsidentin durch die Reportage der „Weltwoche“ „durch den Dreck gezogen“ werde. Soweit zur Begründung dieser Rüge auf die Vermutung von S. abgestellt wird, dass es wohl kein Zufall sei, dass jetzt einer Frau die heikle Aufgabe zugeschoben werde und dass sich kein Mann damit die Finger verbrennen wolle, richtet sich diese Kritik gerade nicht gegen die Gerichtspräsidentin, sondern gegen die aus Sicht der Journalistin kneifenden Richter.

Direkt gegen die Gerichtspräsidentin gerichtet sind dagegen die Qualifizierung ihrer Stimme als „Zeisigstimmchen“ und der Vergleich, sie drohe den Angeklagten wie eine Mutter mit dem Nikolaus. Bei der Beurteilung dieser Qualifikationen fällt entscheidend ins Gewicht, dass die Gerichtspräsidentin in Erfüllung ihrer öffentlichen Funktion kritisiert wird. Wer eine öffentliche Funktion wahrnimmt, muss damit rechnen, dass auch die Art und Weise seines Auftretens durch die Medien thematisiert wird. Dass diese Wertungen der Journalistin sachlich völlig neben der Wirklichkeit liegen würden und damit das von Trägern einer öffentlichen Funktion hinzunehmende Mass an Kritik übersteigen würden, wird vom Beschwerdeführer nicht näher substantiiert. Ebensowenig hat der Presserat aufgrund der ihm vorliegenden Unterlagen Anlass, von dieser Annahme auszugehen.

III. Feststellungen

1. Die Justizkritik und die kritische Würdigung des geltenden Rechts gehört zum notwendigen Bestandteil der Kritik- und Kontrollfunktion der Medien.

2. Gerichtsreportagen, die in erster Linie aus dem Gesichtspunkt der Angeschuldigten geschrieben werden, sind zulässig, sofern das Publikum in der Lage ist, zwischen Fakten und Meinungen zu unterscheiden und die im Beitrag enthaltenen Informationen gewichten und einordnen kann.

3. Gerichtsmagistraten nehmen ein öffentliches Amt war und haben sich deshalb der kritischen Beurteilung durch die Medien zu stellen.