Nr. 6/2006
Behördeninformationen / Unterschlagung wichtiger Informationselemente / Sachlich ungerechtfertigte Anschuldigungen

(X. / X.-Stiftung c. «Neue Zürcher Zeitung») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 10. Februar 2006

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I. Sachverhalt

A. Am 27. Dezember 2004 veröffentlichte die «Neue Zürcher Zeitung» unter dem Titel «Billige Wohnungen ziehen Sozialfälle an» und dem Untertitel «Probleme in einem Winterthurer Neubauquartier» einen Artikel über die Auswirkungen der neuen «Grossüberbauung im Gebiet Gern in Oberwinterthur» auf die Stadtentwicklung. Gemäss dem Bericht habe sich die in Winterthur gehegte Befürchtung teilweise bewahrheitet, die vom Bauunternehmer X. in den «peripheren Winterthurer Gebieten» Wässerwiesen (Wülflingen) und Gern (Oberwinterthur) in den vergangenen zwei Jahren errichteten «beiden Grossüberbauungen mit insgesamt rund 780 Wohnungen» würden wegen der günstigen Mietzinse vor allem sozial Schwächere anziehen. Nach Auskunft des Winterthurer Stadtentwicklers Mark Würth liege der Anteil der Sozialhilfebezüger in der Überbauung Wässerwiesen zwar deutlich unter dem städtischen Durchschnitt. In der Wohnsiedlung Gern liege er hingegen klar darüber. Diese Überbauung verfüge zudem leider über eine ungenügende Infrastruktur. Laut dem Winterthurer Stadtpräsidenten Wohlwend wolle die Stadt dem zwar nachvollziehbaren Sozialtourismus mit einer Wohnungspolitik entgegenwirken, die neben günstigen Familienwohnungen auch den Bau von Wohnungen für gehobene Ansprüche an attraktiven Lagen sicherstelle. Demgegenüber gelte es, Wohnüberbauungen an ungünstigen Lagen zu verhindern, weil die Gefahr bestehe, dass weitere «Problemquartiere» entstünden.

B. Die X.-Stiftung drückte am 31. Dezember 2004 in einem Schreiben an den Winterthurer Stadtentwickler sowie in einem Schreiben vom 5. Januar 2005 an die NZZ ihren Protest gegen die aus ihrer Sicht diskreditierende Darstellung ihrer Überbauungen als «problembringende und -schaffende Liegenschaften» aus.

C. In seiner Antwort vom 19. Januar 2005 erwiderte der Chefredaktor der NZZ, Hugo Bütler, im beanstandeten Artikel werde auf von der Stadt Winterthur kommunizierte Fakten hingewiesen, ohne dass die Liegenschaften von X. deswegen abgewertet würden. Der Autor schreibe lediglich, dass die Mietpreise günstig seien und dass deshalb «teilweise sozial Schwächere» einzögen. Nachträglich gesehen, wäre es wohl empfehlenswert gewesen, eine Stellungnahme der Firma X. einzuholen. Da sich der Bericht nicht mit den Siedlungen, sondern mit deren sozialen Auswirkungen befasst habe, sei dies jedoch nicht zwingend gewesen.

D. Am 16. Februar 2005 gelangten X. und die X.-Stiftung mit einer Beschwerde gegen den Bericht der NZZ vom 27. Dezember 2004 an den Presserat. Der unter dem Kürzel «em» (Ernst Meyer) erschienene Artikel habe nicht der Wahrheit entsprochen (Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten), wichtige Informationselemente unterschlagen (Ziffer 3) sowie ungerechtfertigte Anschuldigungen (Ziffer 7) erhoben. Die NZZ drucke statistische Zahlen der Stadt Winterthur undifferenziert ab, ohne sich bei den Betroffenen genauer über die Vermietungspraxis zu erkundigen. Die veröffentlichten Zahlen seien nicht aktuell und zudem bleibe unberücksichtigt, dass die Siedlung Gern im Durchschnitt liege, wenn die Anzahl Haushalte mit Sozialhilfebezügern statt die Zahl der Personen berücksichtigt werde. Die NZZ habe zudem kein Wort darüber geschrieben, dass die X.-Stiftung auf eigene Kosten den Krippen-/Hortbetrieb in der Überbauung führe. Der Text unterschlage weiter, dass die Gewährleistung der Infrastruktur Sache der Stadt und nicht des Bauherrn sei. Zudem habe die Stadt ab 14. Dezember 2004 eine neue, direkte Buslinie zum Hauptbahnhof Winterthur eröffnet, und gemäss Planung werde der S-Bahn-Anschluss Hegi ca. Ende 2006/Anfang 2007 betrieben. Die Publikation suggeriere, dass die Bauten von X. und der X.-Stiftung die Ursache des «Sozialtourismus»-Problems der Stadt Winterthur bildeten. Dies obschon sie in Bezug auf den Anteil Sozialhilfeempfänger und Ausländer im Schnitt oder noch tiefer liegen würden.

E. In einem an die Redaktion Winterthur der NZZ gerichteten Schreiben vom 4. April 2005 bestätigte der Winterthurer Stadtentwickler Mark Würth die im Artikel vom 27. Dezember 2004 wiedergegebenen Zahlen und Angaben als korrekt.

F. Gleichentags beantragten Chefredaktor Hugo Bütler und Redaktorin Claudia Schoch (Rechtsdienst der Redaktion) die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen. Der Artikel habe sich auf Aussagen des Winterthurer Stadtentwicklers Mark Würth und solche des Stadtpräsidenten gestützt. Der Autor habe keine Veranlassung gehabt, an den statistischen Angaben zu zweifeln. Es wäre zwar möglich, aber keineswegs notwendig gewesen, diese Daten weiter zu analysieren und zu differenzieren. Ebenso wenig sei es zwingend gewesen, besondere Einrichtungen wie Krippe/Hortbetrieb zu erwähnen. Da gegen die Beschwerdeführer keine schweren Vorwürfe erhoben worden seien, hätten diese vor der Publikation nicht angehört werden müssen. Weder mache der Bericht eine unkorrekte Vermietungspraxis geltend, noch würden den Beschwerdeführern die Mängel der Infrastruktur zur Last gelegt. Der Bericht setzte sich aus sachlichem Anlass mit der Winterthurer Wohnbaupolitik auseinander und erhebe keinerlei sachlich ungerechtfertigte Anschuldigungen gegen die Beschwerdeführer.

G. Gemäss Art. 10 Abs. 7 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserates kann das Präsidium zu Beschwerden, die in ihren Grundzügen mit vom Presserat bereits früher behandelten Fällen übereinstimmen oder von untergeordneter Bedeutung erscheinen, abschliessend Stellung nehmen.

H. Am 8. April 2005 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium, bestehend aus dem Präsidenten Peter Studer sowie den Vizepräsidentinnen Sylvie Arsever und Esther Diener-Morscher, behandelt.

I. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 10. Februar 2006 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. In Bezug auf die von den Beschwerdeführern geltend gemachte Verletzung der Wahrheitspflicht (Ziffer 1) weist der Presserat entsprechend seiner ständigen Praxis darauf hin, dass es nicht zu seinen Aufgaben gehört, umstrittene Sachverhalte abzuklären. Entsprechend hat er sich nicht dazu zu äussern, ob die Anzahl der Sozialhilfebezüger in der Überbauung Gern in Oberwinterthur über oder im städtischen Durchschnitt liegt. Unter dem Gesichtspunkt der Wahrheitssuche (Richtlinie 1.1 zur «Erklärung») durfte sich die NZZ jedenfalls auf die Richtigkeit des Zahlenmaterials und der weiteren Auskünfte der Stadtbehörden verlassen. Eine Anhörung der Beschwerdeführer war dabei nicht zwingend. Denn schwere Vorwürfe im Sinne der Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» wurden im Bericht nicht erhoben, wenn man bei der Feststellung, dass die Beschwerdeführer günstige, erschwingliche Wohnungen bauen, überhaupt von einem Vorwurf sprechen kann.

2. Aus Ziffer 3 der «Erklärung» (Unterschlagung von wichtigen Informationselementen) kann nicht abgeleitet werden, dass die NZZ bei Erwähnung der Überbauungen von X. in einem Artikel zum Thema Siedlungs- und Wohnbaupolitik der Stadt Winterthur zwingend sämtliche denkbaren Aspekte detailliert wiederzugeben hätte (vgl. hierzu bereits die Stellungnahmen 9/1994, 54/2004 sowie 4/2005). Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer erweckt der Bericht bei einer unvoreingenommenen Leserschaft keineswegs den Eindruck, die ungenügende Infrastruktur sei von ihnen zu verantworten. Entsprechend war die Erwähnung ihrer Bemühungen betreffend Krippen-/Hortbetrieb ebenso wenig zwingend wie die schrittweise Verbesserung der Erschliessung mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Denn (kontroverses) Hauptthema des Artikels war nicht das Verhalten einzelner Bauherren und Investoren im Allgemeinen und der Beschwerdeführer im Besonderen. Es ging allein um die Frage, welche Akzente die Stadt Winterthur bei ihrer Siedlungs- und Wohnbaupolitik setzen solle,
um – zumindest aus Sicht der zitierten Behördeexponenten – «problematische» Entwicklungen zu vermeiden.

3. Schliesslich erhebt der Bericht entgegen der Darstellung der Beschwerdeführer keineswegs den Vorwurf, ihre Bauten bildeten die Ursache eines «Sozialtourismus»-Problems der Stadt Winterthur. Gemäss den wiedergegebenen differenzierten Darstellungen von Stadtentwickler und Stadtpräsident sind verschiedene Faktoren dafür verantwortlich, dass immer mehr Sozialhilfeempfänger nach Winterthur ziehen. Winterthur sei schon immer eine sehr familienfreundliche Stadt gewesen und der Anteil der Familienwohnungen liege weit über demjenigen der Stadt Zürich. Zudem seien gerade geschiedene Ehepartner von Einfamilienhausbesitzern auf günstige Wohngelegenheiten angewiesen, die man meistens in der Stadt finde. Dies gelte insbesondere für die Stadt Winterthur, deren Mietzinsniveau weit unter dem kantonalen Durchschnitt liege. Anziehend wirke weiter die Anonymität der Stadt und eine professionelle Sozialhilfe.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. Journalistinnen und Journalisten dürfen sich grundsätzlich auf die Richtigkeit von Sozialdaten und weiteren Auskünften verlassen, die sie von Behörden erhalten.