Nr. 23/2004
Bearbeitung von Medienmitteilungen und Leserbriefen

(SP Kanton St. Gallen c. «St. Galler Tagblatt») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 21. Mai 2004

Drucken

I. Sachverhalt

A. Am 2. Oktober 2003 versandte die SP des Kantons St. Gallen im Vorfeld der eidgenössischen Wahlen eine Medienmitteilung. Gegenstand der Mitteilung mit dem Titel «Der Ostschweiz geschadet» war das Abstimmungsverhalten von bürgerlichen St. Galler Nationalräten im Zusammenhang mit geplanten Kürzungen bei Investitionsvorhaben für den öffentlichen Verkehr (FinöV). Zwar seien die Kürzungen glücklicherweise abgelehnt worden, womit gesichert sei, dass die Ostschweiz bei den vorgesehenen Anschlüssen an die Hochgeschwindigkeitsstrecken der Bahn nicht leer ausgehe. «Umso befremdlicher ist, dass ausgerechnet Nationalräte aus der Ostschweiz entgegen den Kantonsinteressen für die Kürzungen gestimmt haben. Aus dem Kanton St. Gallen waren dies Peter Weigelt (FDP), Milli Mittenwiler (FDP), Toni Brunner (SVP), Elmar Bigger (SVP), Theophil Pfister (SVP) sowie Felix Walter (CVP) und Hans-Werner Widrig (CVP). (…) Skandalös ist, dass einige dieser Nationalräte sich im Wahlkampf geradezu als Interessenwahrer der Ostschweiz aufspielen. Konkret ist dann aber aus lauter Sparhysterie das Gegenteil der Fall. Eine solche Politik kann nur schizophren genannt werden. Sie verdient am 19. Oktober 2003 keinerlei Unterstützung.»

B. Nachdem das «St. Galler Tagblatt» die Mitteilung bis am 6. Oktober 2003 nicht abgedruckt hatte, nahm das Parteisekretariat Kontakt mit der Redaktion auf. Auf Wunsch des stellvertretenden Chefredaktors Silvan Lüchinger sandte daraufhin die Parteisekretärin Barbara Gysi die Medienmitteilung der Redaktion noch einmal zu.

C. Tags darauf erschien im «St. Galler Tagblatt» folgende Meldung: «SP zum FinöV-Entscheid. Die SP des Kantons St. Gallen nimmt mit Befriedigung zur Kenntnis, dass der Nationalrat die im Rahmen des Entlastungsprogramms beantragten Kürzungen im Bereich öffentlicher Verkehr (FinöV) abgelehnt hat. Damit sei gesichert, dass bei den vorgesehenen Anschlüssen an die Hochgeschwindigkeitsstrecken (HGV) die Ostschweiz nicht leer ausgehe und die Chancen für eine baldige Verbesserung der Bahnstrecken nach München und Stuttgart intakt (bleiben).(red.)»

D. Nachdem Barbara Gysi am 9. Oktober gegen die Art und Wiese der Bearbeitung der Medienmitteilung und insbesondere gegen die Streichung der Kritik am Abstimmungsverhalten bürgerlicher Nationalräte aus der Ostschweiz protestiert hatte, empfahl ihr Silvan Lüchinger schliesslich, einen durch eine Drittperson verfassten Leserbrief einzusenden.

E. Auf Bitte von Barbara Gysi sandte SP-Nationalrat Peter Jans dem «St. Galler Tagblatt» gleichentags einen Leserbrief. Dessen Inhalt stimmte weitgehend mit der SP-Medienmitteilung vom 2. Oktober 2003 überein.

F. Das «St. Galler Tagblatt» druckte den Leserbrief am 13. Oktober 2003 praktisch vollständig ab. Die Leserbriefredaktion strich allerdings die Namen der kritisierten bürgerlichen Nationalräte.

G. Anfangs November 2003 gelangte die SP des Kantons St. Gallen (nachfolgend: SP) mit einer Beschwerde an den Presserat: Die SP rügte, die Redaktion des «St. Galler Tagblatts» habe sowohl bei der Bearbeitung der Medienmitteilung als auch des Leserbriefs das Fairnessprinzip sowie die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht) und 3 (Unterschlagung wichtiger Informationselemente / Entstellung von Tatsachen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten verletzt. Die Unterschlagung der Namen der bürgerlichen Politiker, die für die Kürzung der FinÖv-Kredite gestimmt hatten, sei ein klassischer Zensurakt. Statt Transparenz zu schaffen und den gesellschaftlichen Diskurs zu fördern, habe die Zeitung politische Zensur ausgeübt.

H. Das «St. Galler Tagblatt» wies die Beschwerde am 15. Dezember 2003 als unbegründet zurück. Gemäss den bekannten – in Vorwahlzeiten strengeren – Regeln für die Veröffentlichung von Leserbriefen, würden Briefe gekürzt, welche zur Wahl oder Nichtwahl von Kandidaten aufrufen. Dieser Regel sei die Redaktion bei der Bearbeitung von Medienmitteilung und Leserbrief nachgekommen. Wenn das «Tagblatt» einen Fehler begangen habe, dann höchstens den, einen Leserbrief veröffentlicht zu haben, «der streng genommen keiner war».

I. Gemäss Art. 10 Abs. 7 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserates kann das Präsidium zu Beschwerden, die in ihren Grundzügen mit vom Presserat bereits früher behandelten Fällen übereinstimmen oder sonstwie von untergeordneter Bedeutung erscheinen, abschliessend Stellung nehmen.

K. Am 18. Dezember 2003 erklärte der Presserat den Schriftenwechsel als geschlossen und teilte den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium, bestehend aus dem Präsidenten Peter Studer sowie den Vizepräsidentinnen Sylvie Arsever und Esther Diener-Morscher behandelt.

L. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 21. Mai 2004 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Der Presserat hat sich in den letzten Jahren wiederholt zur Frage der redaktionellen Bearbeitung von Medienmitteilungen geäussert. Dabei hat er immer wieder an den Grundsatz erinnert, dass die Auswahl der in einem Medium zu veröffentlichenden Informationen den Redaktionen der einzelnen Medien obliegt (Stellungnahmen 11/1998, 5/2000, 7/2000, 26/2000, 33/2000). Dementsprechend können Autorinnen und Autoren von Medienmitteilungen und unverlangt eingesandten Berichten keinen Anspruch auf integralen Abdruck geltend machen. Zwar hat auch die Bearbeitung von Medienmitteilungen nach journalistischen Kriterien zu erfolgen und sind deren wesentlichen Züge wiederzugeben. Allerdings ist dieser Anforderung unter Umständen bereits Genüge getan, wenn der gekürzte Text zumindest eine Kernaussage des Autors wiedergibt. Die Auswahl dieses Aspekts richtet sich nach journalistischen Kriterien und nicht danach, ob dieser Aspekt für den Verfasser des Textes das zentrale Thema war (Stellungnahmen 5 und 7/2000).

2. a) Vorliegend stellt sich damit die Frage, ob die Weglassung der Kritik am Abstimmungsverhalten bürgerlicher Nationalräte (einschliesslich derer Namen) mit der berufsethischen Forderung vereinbar war, bei einer Wiedergabe zumindest die Kernaussage (Ziffer 3 der «Erklärung»; Verbot der Unterschlagung wichtiger Informationen) wiederzugeben. Ausgehend vom Zeitpunkt unmittelbar vor den eidgenössischen Wahlen und dem Titel der Medienmitteilung «Der Ostschweiz geschadet» erscheint das Argument der SP nachvollziehbar, die eigentliche Kernaussage sei weniger der positive Kommentar zur Ablehnung der Kürzungsvorlage als vielmehr die Kritik an den namentlich genannten bürgerlichen Nationalräten kurz vor den eidgenössischen Wahlen gewesen.

b) Das «St. Galler Tagblatt» nimmt zur Frage des Abdrucks der Medienmitteilung der kantonalen SP lediglich dahingehend Stellung, die Redaktion habe den Abdruck einer Wahlkampfmedienmitteilung zu einer Nationalratsabstimmung – «einer von unzähligen» – richtigerweise abgelehnt. Die Redaktion behalte sich vor, das Wirken der eidgenössischen Ostschweizer Parlamentarier nach eigenen, von der Redaktion bestimmten Kriterien zu würdigen.

c) Ausgehend von dieser Argumentation der Zeitung ist vorab einmal festzuhalten, dass es vorliegend berufsethisch von vornherein kaum etwas zu beanstanden geben würde, falls sich die Redaktion auch bei der nochmaligen Anfrage von Parteisekretärin Barbara Gysi konsequent dafür entschieden hätte, gänzlich auf den Abdruck zu verzichten. Hingegen wirkt es zumindest fragwürdig, wenn die Zeitung mit der (wenig überraschenden) Zustimmung der SP zur Ablehnung der Kürzung im Bereich öffentlicher Verkehr ausgerechnet einen journalistisch wenig relevanten Aspekt herausgriff. In Anlehnung an die Stellungnahme 5/2000 hätte das «St. Galler Tagblatt» wohl fairer gehandelt, wenn es bei einem Abdruck der bearbeiteten Medienmitteilung auch deren zweite und wichtigere Aussage zumindest in einem Satz wi
edergeben hätte. Zum Beispiel: «Die SP bezeichnet es als skandalös, dass eine Reihe von bürgerlichen Ostschweizer Nationalräten aus SVP, FDP und CVP für die Kürzungen gestimmt hat.» Das allein aber stellt angesichts der Auswahlfreiheit einer Redaktion noch keine Verletzung der Ziffer 3 der «Erklärung» dar.

4. a) Bei Leserbriefen sind die Redaktionen ebensowenig zum Abdruck verpflichtet wie bei Medienmitteilungen. Zudem haben sich die Redaktionen auch hier bei der Bearbeitung an die berufsethischen Regeln zu halten. Dementsprechend dürfen Leserbriefe redigiert und dem Sinn entsprechend gekürzt werden (Richtlinie 5.2 i.S. Leserbriefe zur «Erklärung»).

b) Das «St. Galler Tagblatt» entgegnet dem Zensurvorwurf der kantonalen SP mit dem Hinweis, dass Leserbriefe «nicht veröffentlicht oder um entsprechende Passagen gekürzt» würden, «welche zur Wahl oder Nichtwahl von Kandidaten aufrufen». Tatsächlich hat die Zeitung am 28. Juli und 12. September 2003 besondere «Richtlinien» zum Abdruck von Leserbriefen im Zusammenhang mit den National- und Ständeratswahlen vom 18./19. Oktober 2003 veröffentlicht. Diese halten u.a. fest: «Leserbriefe mit Wahlempfehlungen für Kandidierende werden nicht veröffentlicht.»

c) Soweit die Redaktion bei der Bearbeitung des «Leserbriefes» von Peter Jans deshalb die Nennung der Namen verschiedener bürgerlicher Nationalräte als (negative) Wahlempfehlung interpretiert und die entsprechende Passsage in Anwendung der zuvor publizierten Richtlinien vollends gestrichen hat, wäre diese – so meint der Presserat – noch hinzunehmen. Der Zensurvorwurf der SP scheint deshalb zunächst ins Leere zu zielen, weil die Redaktion ihre Praxis genügend deutlich bekanntgegeben hatte. Das musste auch der SP bekannt gewesen sein.

d) Im nächsten Beurteilungsschritt erscheint allerdings ein weiteres Element, das den Sachverhalt in einem andern Licht erscheinen lässt. Gemeint ist die Veröffentlichung einer Mitteilung des Hauseigentümerverbands in der Ausgabe des «St. Galler Tagblatts» vom 7. Oktober 2003 (in der gleichen Ausgabe erschien die gekürzte Medienmitteilung der SP): «Für Steuerpaket. Der Hauseigentümer-Verband des Kantons St. Gallen empfiehlt bei den Wahlen ins eidgenössische Parlament die bisherigen Ständeräte Eugen David, CVP, und Erika Forster, FDP, zur Wiederwahl sowie 28 Verbandsmitglieder aus bürgerlichen Parteien zur Wahl in den Nationalrat. Sie unterstützen das Steuerpaket des Bundes, welches den Systemwechsel beim Eigenmietwert und das steuerbefreite Bausparen vorsieht. Als Nationalrats-Spitzenkandidaten speziell unterstützt werden Toni Brunner, Ebnat-Kappel (bisher), Karl Güntzel, St. Gallen, SVP; Rolf Jermann, Kronbühl, CVP (bisher); Peter Weigelt, Mörschwil, FDP (bisher). (red.)»

e) Zwar kann gemäss ständiger Praxis des Presserates aus der «Erklärung» keine Pflicht zu «objektiver Berichterstattung» abgeleitet werden, weshalb weder eine etwas einseitige Informationsauswahl noch eine parteiergreifende Berichterstattung von vornherein gegen berufsethische Pflichten verstösst. Das Publikum soll aber in der Lage sein, die veröffentlichten Informationen einzuordnen und sich eine eigene Meinung – auch über den Zeitungskurs – zu bilden. Deshalb ist Transparenz über umstrittene Kriterien der Informationsauswahl und -bearbeitung klar zu begrüssen, beispielsweise durch die Publikation von Richtlinien für die Leserbriefseite. Transparenz umfasst aber nicht nur die Verkündung, sondern auch die Einhaltung von Grundsätzen. Nur das eine und nicht das andere zu tun ist unlauter; es läuft auf eine Irreführung der Leserschaft hinaus. Deshalb dürfen Wahlempfehlungen von Parteien und Verbänden mit unterschiedlichen politischen Stossrichtungen ungeachtet davon, ob sie in Form von Medienmitteilungen oder Leserbriefen abgegeben werden, nicht einfach – entgegen selber publizierten Regeln – ungleich behandelt werden. Das ist mindestens in den beiden dargelegten Fällen geschehen, und insoweit ist die Beschwerde gutzuheissen.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

2. Damit das Publikum veröffentlichte Informationen und deren Bewertung einordnen und sich eine eigene Meinung bilden kann, ist redaktionelle Transparenz erwünscht. Sobald die Redaktion Transparenz herstellt und die eigenen Auswahlgrundsätze für Leserbriefe im Wahlkampf bekanntgibt, muss sie sich darauf behaften lassen. Das «St. Galler Tagblatt» hat deshalb zumindest in einem Fall unfair gehandelt, wenn es – in einer für die Leserschaft nicht ohne weiteres erkennbaren Weise – eine Partei gemäss den publizierten Regeln und eine andersgerichtete Organisation krass anders behandelt hat.

3. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde abgewiesen.

4. Redaktionen entscheiden nach freiem Ermessen über die Bearbeitung und den Abdruck von Medienmitteilungen. Deshalb sind sie frei, sich bei ihrer Auswahl auf einen Teilaspekt zu beschränken, solange sie diesen korrekt wiedergeben.