Nr. 52/2004
Antiisraelisches Inserat / Berichtigungspflicht / Pflicht zur Stellungnahme der Redaktion

(Jüdisches Medienforum c. «Tages-Anzeiger») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 15. Oktober 2004

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I. Sachverhalt

A. Im «Tages-Anzeiger» vom 22. April 2004 erschien auf einer linksgelegenen Inserateseite im Wirtschaftsteil ein politisches Inserat der Europa Partei der Schweiz. Es hatte den Umfang einer Sechstelsseite und trug den Titel: «Europa Partei der Schweiz und kriminelles Israel». Der Text lautete: «Unter Rückendeckung der USA hat Israel, der Staat der Juden, mit der erneuten Ermordung eines palästinensischen Führers seine auf Einschüchterung und Terror ausgerichtete Politik gegenüber den Palästinensern, der rechtmässigen Bevölkerung Palästinas, fortgesetzt. Auf hinterhältige Weise wird die Weltöffentlichkeit unter Berufung auf die an Juden früher verübten Verbrechen getäuscht. Seit dem 2. Weltkrieg ist die Eroberung Palästinas für die Zionisten das Ziel. Mit Ausnahme der Gaskammern wird das ganze Nazi-Instrumentarium gegen eine seit jeher ansässige Bevölkerung eingesetzt. Weder das Völkerrecht noch die Menschenrechte sind für Israel ein Thema. Der Gazastreifen gilt Israel als Ghetto, in dem eine verarmte Bevölkerung so gedemütigt werden soll, dass sie sich in Israel für die niedrigsten Arbeiten zur Verfügung stellt. Die Weltöffentlichkeit und insbesondere die USA fanden es 1982 nicht einmal nötig, die Ermordung von 2000 Palästinensern unter den Augen des Verbrechers Sharon zu kommentieren. Die Strategie Israels, durch gezielte Provokationen Widerstand zu wecken und durch dessen Bekämpfung neue Siedlungen und Annexionen zu begründen, hat sich demaskiert. Die Europa Partei der Schweiz fordert den Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit Israel, die Aufkündigung der transatlantischen ÐPartnerschaftð durch die EU und den Abbruch der militärischen Zusammenarbeit der Schweiz mit Israel, bei der es sich um einen schweren Verstoss gegen die Neutralitätspolitik handelt. Der Staat Israel als Brutstätte des Terrors hat sich selbst erledigt.»

B. Ekkehard W. Stegemann, Präsident des Jüdischen Medienforums Schweiz, protestierte am 23. April 2004 per E-Mail bei der TA-Redaktion gegen die Veröffentlichung des «schändlichen und hetzerischen Machwerks» und erwartete eine öffentliche Erklärung der Redaktion samt Distanzierung.

Noch am selben Tag antwortete der stellvertretende Chefredaktor, Roland Schlumpf: «Das Inserat hätte im ÐTages-Anzeigerð nicht erscheinen dürfen. (…) Das fragwürdige Inserat der EPS ist aufgrund eines Fehlers im internen Ablauf der Redaktion nicht zur Stellungnahme vorgelegt worden. Wir hätten dem Verlag ganz klar die Ablehnung empfohlen. (…) Umso mehr tut es uns leid, dass es trotzdem erschienen ist.»

Am 26. April 2004 meldete sich auch die TA-Verlagsleiterin Maili A. Wolf bei Stegemann: «Dieses Inserat hätte von uns nicht veröffentlicht werden dürfen. (…) Bei politischen Inseraten wird von uns sogar ein noch strengerer Massstab (als die Einhaltung der Rechtsordnung) angelegt; so müssen diese Sujets und Texte von unserer Rechtsabteilung kontrolliert werden, und werden darüber hinaus noch der Chefredaktion vorgelegt. Letzteres ist in diesem Fall leider unterblieben. (…) Ich möchte Sie hiermit ganz herzlich um Verzeihung bitten, und mich ganz klar davon distanzieren!»

Auf Stegemanns Nachfrage antwortete Schlumpf in einem zweiten E-Mail am 10. Mai 2004, es werde «keine redaktionelle Distanzierung vom EPS-Inserat geschaltet».

C. Am 25. Mai 2004 gelangte Ekkehard W. Stegemann namens des Jüdischen Medienforums Schweiz mit einer Beschwerde an den Presserat. Darin rügte er, das Inserat enthalte «beispiellose Gemeinheiten, Diffamierungen und Verleumdungen des Staates Israel»; unter anderem bezeichne es Israel pauschal als «kriminell». Israels Selbstverteidigungs- und Sicherheitsmassnahmen würden mit «Terror» gleichgesetzt, Israel als «Brutstätte des Terrors» hingestellt. Das Inserat kulminiere im Satz: «Mit Ausnahme der Gaskammern wird das ganze Nazi-Instrumentarium gegen eine seit jeher ansässige Bevölkerung eingesetzt.» Indem der Inserattext Israel als «Staat der Juden» bezeichne, diffamiere es eine ganze Ethnie und setze sie im Sinne der strafrechtlichen Antirassismusnorm herab. Aus diesen Gründen verstosse die Redaktion in ihrem Umgang mit dem Inserat gegen die «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Journalistenkodex): Weder habe sie es berichtigt, noch sich davon distanziert.

D. In ihrer Eingabe vom 28. Juni 2004 beantragte die durch die Rechtsabteilung der Tamedia vertretene Redaktion, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten. Ob ein Inserat gedruckt werde, liege – wie von der Verlagsleiterin bestätigt – trotz hausüblicher Nachfrage bei der Redaktion in der Kompetenz des Verlags. Für den Inserateteil erkläre sich der Presserat in ständiger Praxis als unzuständig.

E. Das Presseratspräsidium hiess am 15. Juli 2004 den Antrag des «Tages-Anzeigers» teilweise gut, soweit das Jüdische Medienforum Schweiz den Abdruck des Inserats als solchen rügte. Ungeachtet einer hier irrtümlich unterbliebenen Konsultation der Redaktion entscheide der Verlag über Aufnahme und Abdruck eines Inserats. Hingegen werde der Presserat auf die zweite Rüge eintreten, die Redaktion wäre berufsethisch verpflichtet gewesen, sich im Textteil zum Abdruck zu äussern und ihn zu kritisieren.

F. Am 24. August 2004 nahm der «Tages-Anzeiger» dann innert Frist inhaltlich zur Beschwerde Stellung. Man wolle das «unselige Inserat» zwar nicht mit «Argumentationsketten verharmlosen», aber gegenüber einer «allzu skandalisierenden Einordnung» doch kurze Einwände formulieren. So mache die «primitive und krasse Einseitigkeit» das Inserat «noch nicht menschenverachtend». Es stelle nicht die Existenzberechtigung Israels, sondern die politischen Beziehungen der Schweiz und der EU mit Israel in Frage. Das Inserat bezeichne den Staat Israel als «kriminell» und seinen Premierminister Ariel Sharon als «verbrecherisch». Juden würden aber nicht diffamiert, auch wenn das Inserat Israel als «Staat der Juden» bezeichne.

Mit «guten Gründen» habe die Redaktion des «Tages-Anzeigers» auf eine öffentliche redaktionelle Distanzierung «verzichtet». Das Inserat sei relativ unauffällig, ohne Bild und Farbe, an einem Platz erschienen, auf dem die Leserschaft «in der Regel keine politischen Aussagen suche». Es sei auch nicht online aufgeschaltet worden. Bloss eine einstellige Zahl von Leserzuschriften habe sich zum Inserat geäussert. Sie seien ebensowenig wie eine redaktionelle Stellungnahme publiziert worden, «um der Sache nicht eine unverdiente Mehrbeachtung zu verschaffen».

G. Das Präsidium des Presserates wies die Beschwerde zur Behandlung an die erste Kammer. Diese setzt sich zusammen aus Peter Studer (Kammerpräsident), Luisa Ghiringhelli Mazza, Pia Horlacher, Philip Kübler, Katharina Lüthi und Edy Salmina. Die Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 15. Oktober 2004 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. a) Der Presserat hat jüngst in einer Stellungnahme zu politischen Inseraten (28/2004) bestätigt, dass der Entscheid über den Abdruck von Inseraten in die Zuständigkeit des Verlags fällt. Bei politischen Inseraten sollten die Redaktionen jedoch zumindest angehört werden. Eine kritische redaktionelle Begleitung ist bei Inseraten wünschbar, die den politischen Diskurs besonders krass und einseitig zu beeinflussen suchen. Unabdingbar ist eine redaktionelle Stellungnahme bei offensichtlich diffamierenden und/oder menschenverachtenden Inseraten.

b) Damit hat der Presserat vorliegend nur noch zu befinden, ob eine redaktionelle Stellungnahme zum Inserat «wünschbar» oder gar «unabdingbar» gewesen wäre. Aber auch das setzt voraus, dass er sich mit dem Inhalt und der sprachlichen Form des Inserats auseinandersetzt.

2. a) Das Jüdische Medienforum Schweiz erhebt den Vorwurf, die Bezeichnung Israels als «Staat der J
uden» setze die Judenheit als Ethnie oder Religionsgruppe herab und diffamiere sie. Diesem Tadel kann der Presserat nicht folgen. Die Aussage mag formell überspitzt sein, da die Staatsbevölkerung ja auch über 15 Prozent Muslime und Christen mit israelischem Bürgerrecht enthält, die der palästinensischen oder arabischen Ethnie angehören. Israel kennt (noch) keine geschriebene Verfassung. Aber in Israels Gründungsurkunde (1948) verkündete David Ben Gurion das unverrückbare Einwanderungsrecht der Juden, das Premierminister Sharon auch heute noch (etwa gegenüber französischen Juden 2004) betonen. Israel kennt offenbar keine konsequente Trennung von Staat und jüdischer Religion, was sich etwa in den Sabbatgesetzen zeigt – ein Dauerthema der Bürgerschaft. Von da her ist die etwas pauschale Bezeichnung Israels als eines «Staats der Juden», der auch prominente Juden zustimmen, kaum eine Herabsetzung der jüdischen Ethnie.

b) Die Beschwerde rügt weiter, dass der Staat Israel im Inserat pauschal als «kriminell» bezeichnet wird. Zwar muss sich Israel von der nahezu einhelligen internationalen Rechtsgemeinschaft (teilweise bedeutende Ausnahme: die Regierung der USA) und auch vom Schweizer Bundesrat immer wieder – von der israelischen Regierung bestrittene – massive Verletzungen des Völkerrechts vorwerfen lassen. Trotzdem wäre die alleinige Bezeichnung des Staates Israels als «kriminell» ohne die gleichzeitige Wiedergabe des zugehörigen Kontexts (laufende Gewaltspirale mit palästinensischen Selbstmordattentaten und israelischen Vergeltungsschlägen) in einem redaktionellen Text höchst problematisch. Zudem bedauert auch die TA-Redaktion diesen Vorwurf im Inserat als «krass einseitig». Ausgehend von der oben dargestellten Praxis des Presserates zu politischen Inseraten wäre deshalb bereits bei dieser Passage eine redaktionelle Begleitung als zumindest wünschenswert erschienen.

c) Noch weit darüber hinaus reicht der Satz, Israel wende – abgesehen von den Gaskammern – das «ganze Instrumentarium Nazi-Deutschlands» auf die Bevölkerung der besetzten Gebiete an. Im historischen Kontext ist diese Gleichsetzung völlig inakzeptabel. Wie der Beschwerdeführer anmerkte, sind Euthanasie, Massenerschiessungen und Fememorde an Gruppen keineswegs Bestandteil der israelischen Staatspraxis. Besonders diffamierend wirkt dieser Vorwurf, nachdem die jüdische Bevölkerung Europas vor 60 Jahren einem geplanten Holocaust durch Nazi-Deutschland mit Millionen von Ermordeten ausgesetzt war. Angesichts dieser offensichtlichen Diffamierung wäre eine Stellungnahme der Redaktion unabdingbar gewesen, worin sie sich von dieser Aussage ausdrücklich distanzierte.

d) Die TA-Redaktion glaubte allerdings «gute Gründe» zu haben, sich nicht öffentlich zum Inserat zu äussern. Sie habe der Sache nicht eine «unverdiente Mehrbeachtung» verschaffen wollen. Aus diesem Grund seien sogar von den weniger als zehn eingetroffenen Leseräusserungen keine abgedruckt worden.

Diese Argumentation vermag nach Auffassung des Presserates nicht zu überzeugen. Über Grundzüge der Beurteilung dieses Inserats bestand ja Einigkeit zwischen Beschwerdeführer und Beschwerdegegnerin. Deshalb haben sich Redaktion und Verlag beim Beschwerdeführer auch entschuldigt. Der Redaktion wäre kein Stein aus der Krone gefallen, wenn sie das Vorkommnis journalistisch noch knapp aufgearbeitet und dabei auch die im Inserat bedenklich argumentierende Europa Partei der Schweiz situiert hätte. Zugleich hätte ein Artikel Anlass geboten, die Mechanik der Begutachtung politischer Inserate im Hause Tamedia zu rekapitulieren. Das Minimum wäre eine von Verlag und Redaktion gemeinsam unterzeichnete kurze Erklärung im Textteil gewesen.

Unverständlich mutet zudem an, dass die Redaktion nicht nur geschwiegen, sondern auch protestierende Leser zum Schweigen gebracht hat, indem sie keine der kritischen Zuschriften veröffentlichte. Eine der Funktionen einer Leserseite ist es ja, Protesten gegen Leistungen oder Fehlleistungen des Medienhauses eine Stimme zu geben.

3. Der Beschwerdeführer glaubt die «Tages-Anzeiger»-Redaktion darüber hinaus zu einer Berichtigung verpflichtet (Ziffer 5 der «Erklärung der Pflichten»: Journalistinnen und Journalisten berichtigen von sich aus «jede von ihnen veröffentlichte Meldung, deren materieller Inhalt sich als ganz oder teilweise als falsch erweist»). Indessen handelt es sich hier um ein Inserat, nicht um eine redaktionell verantwortete Meldung. Eine Berichtigungspflicht ist deshalb nicht gegeben.

III. Feststellungen

1. Der Entscheid über den Abdruck von Inseraten fällt in die Zuständigkeit der Verlage. Bei politischen Inseraten sollten die Redaktionen jedoch zumindest angehört werden.

2. Indem die «Tages-Anzeiger»-Redaktion ein am 22. April 2004 veröffentlichtes diffamierendes und krass einseitiges politisches Inserat der Europa Partei der Schweiz im redaktionellen Teil weder beleuchtete noch tiefer hängte, unterliess sie eine notwendige und zumutbare Korrekturmassnahme gegen eine im Inserateteil der Zeitung erfolgte Diffamierung. Die Beschwerde wird insoweit teilweise gutgeheissen.

3. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.