Nr. 90/2020
Privatsphäre

(X. c. «Aargauer Zeitung»)

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I. Sachverhalt

A. Unmittelbar nach der Volksabstimmung über einen Stadionneubau in Aarau berichtete die «Aargauer Zeitung» (AZ) darüber, dass ein Mitglied der Grünen Partei vorhabe, im Namen von Quartierbewohnern weiter gegen das Projekt anzukämpfen, obwohl dieses eben vom Volk mit deutlichem Mehr angenommen worden war.

In einem ersten Artikel am 26. November 2019 von Urs Helbling mit dem Titel «Der künftige Vorzeige-Einsprecher» wurde berichtet, bisher sei in Aarau immer von einem anonymen Einsprecher die Rede gewesen, jetzt sei mit Albert Rüetschi einer nach der Abstimmung bewusst mit Namen an die Öffentlichkeit getreten und zwar mit einer Aussage, die «das Blut eines jeden Stadionbefürworters (60 Prozent der Aarauer Stimmbevölkerung) in Wallung bringt». Rüetschi habe nämlich einen «Schwall von Einwendungen und Beschwerden» angekündigt und in Aussicht gestellt, dass «… wir das Projekt mit Sicherheit bodigen werden – und möglicherweise gibt die Gegenseite ja schon vorher auf». Der Einsprecher wird in der Folge vorgestellt, er arbeite seit 15 Jahren bei der Sicherheitsdirektion des Kantons Zug, seine Funktionsbezeichnung dort sei «juristischer Mitarbeiter im Direktionssekretariat», er sei bei den «Grünen», er lebe von seiner Frau getrennt, er habe sich schon mal mit einer Beschwerde gegen die Berechnung der Subventionsbeiträge für die Hort-Betreuung seines Sohnes gewehrt und er sei auch in anderer Angelegenheit schon bis vor Verwaltungs- und Bundesgericht gegangen.

In einem zweiten Artikel vom gleichen Autor am 17. Dezember 2019 mit dem Titel «Grüne distanzieren sich von Vorzeige-Einsprecher» wird Rüetschi als «für die meisten Stadion-Befürworter und auch für viele -Gegner ein absolut rotes Tuch» beschrieben. Sein Demokratieverständnis stosse selbst bei seinen Parteikollegen auf Unverständnis, deswegen habe sich die grüne Fraktion im Einwohnerrat jetzt in einem «absolut aussergewöhnlichen» Schritt offiziell von ihm distanziert.

In einem Kommentar vom 18. Dezember 2019 mit dem Titel «Vorzeige-Einsprecher bleibt ein Thema» fragt Autor Helbling, ob die Distanzierung der Grünen von Rüetschi nur auf dessen Demokratieverständnis zurückgehe, oder ob es da noch ein anderes Problem gebe. «Wissen die Grünen allenfalls mehr?» Ein Quartierverein, als dessen Präsident Rüetschi sich ausgebe, habe bisher gar nicht existiert. Auch habe er in seinen Lebensläufen auf «Linkedin» und «Xing» vergessen anzugeben, dass er vor seiner Anstellung in Zug als Baujurist bei der Baudirektion des Kantons Aargau gearbeitet habe. Und er sei beruflich eine «beachtliche Nummer», weil er die Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren im Stiftungsrat der Zewo vertrete. Dieser Stiftungsrat verleihe oder entziehe das Zewo-Gütesiegel, das für Institutionen, die auf Spendengelder angewiesen sind, äusserst wichtig sei. Worin das von Helbling angesprochene «andere Problem» denn liegen könnte wird nicht weiter beschrieben.

Am folgenden 19. Dezember 2019 erscheint ein weiterer Artikel von Urs Helbling zum gleichen Thema. Titel: «Der Vorzeige-Einsprecher wirft das Handtuch». Darin wird eine Erklärung Rüetschis wiedergegeben, in welcher er sich über die Berichterstattung über ihn beschwert und erklärt, er trete aus dem Vorstand des «Verein Torfeld Süd» zurück und werde sich persönlich künftig an keinen juristischen oder medialen Massnahmen gegen das Projekt mehr beteiligen. Im übrigen Text werden nochmals verschiedene Angaben über Rüetschi wiederholt: Politische Funktionen bei den Grünen, Beschäftigung im Baudepartement Zug seit 2004, Einsitz im Stiftungsrat Zewo.

Alle vier Artikel erschienen mit Bild von Albert Rüetschi, der letzte mit einem grossen Porträt.

B. X. reichte am 19. Januar 2020 Beschwerde beim Schweizer Presserat ein, ergänzt durch eine vom Presserat angeforderte Präzisierung am 11. März 2020. Die Beschwerde richtet sich gegen sechs Artikel, gegen die vier oben erwähnten plus zwei weitere, die mit dieser Materie in keinem direkten Zusammenhang stehen und nur vage Sachverhalte betreffen, weshalb der Presserat nicht auf sie eintritt (s. unten «Erwägungen» 1.).

Die Beschwerdeführerin (BF) macht insgesamt geltend, die «Aargauer Zeitung» habe mit den vier Artikeln eine «regelrechte Hatz» gegen diesen Einsprecher betrieben. Insbesondere mit dem Artikel vom 26. November 2019 sei «Wut und Hass» gegen den Mann geschürt worden. Zum einen sei schon fraglich, ob ein Einverständnis des Betroffenen zur vierfachen Veröffentlichung seines Bildes vorgelegen habe. Gebetsmühlenartig sei in den Artikeln sein Lebenslauf offengelegt worden, zum Halali, zum Ende der Jagd, sei erst geblasen worden, «nachdem das Opfer mundtot gemacht» worden sei.

Im Besonderen macht die BF geltend, die AZ habe mit den Angaben über Rüetschi dessen Privatsphäre verletzt. Die Angaben zum Arbeitgeber, Lebenslauf, Zivilstand, die Einzelheiten zum Kind hätten nicht im überwiegenden Interesse der Öffentlichkeit gelegen und hätten damit gegen die Ziffer 7 (Schutz der Privatsphäre) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») verstossen.

C. Am 25. September 2020 nahm der Chefredaktor der «Aargauer Zeitung», Rolf Cavalli, zur Beschwerde Stellung. Er beantragt deren Abweisung und bestreitet insbesondere, die Persönlichkeitsrechte von Rüetschi verletzt zu haben. Dieser sei im Zusammenhang mit dem Stadionprojekt als öffentliche Person in Erscheinung getreten. Darüber hinaus berufe sich die «Aargauer Zeitung» auf die Meinungsfreiheit. Im Weiteren legte der Chefredaktor als Teil der Stellungnahme einen Mailwechsel bei, in welchem die AZ bezüglich der gleichen Artikel gegenüber einem anderen Beschwerdeführer vor dem Ombudsmann der AZ argumentiert hatte. Dort machte die Redaktion geltend, es habe noch weiteres Material, ein Strafurteil von 2006, gegen die Person Rüetschi vorgelegen, das man im Nachgang zur Abstimmung bewusst nicht veröffentlicht habe. Und was die Erwähnung des Sohnes angehe: Die Familiensituation sei im Zusammenhang mit einem Subventionsstreit von Rüetschi mit der Stadt schon vor einigen Monaten ein Thema im Blatt gewesen, «damals hat sich niemand an der Erwähnung des Kindes, respektive der Familiensituation von Rüetschi gestört». Auf Aufforderung des Anwalts von Rüetschi habe man im Internet sowohl den Satz über das Kind gestrichen wie man auch ein anderes Foto von Rüetschi aufgeschaltet habe. Der Anwalt habe dem Autor des Berichts im Übrigen attestiert, «dass die AZ juristisch korrekt berichtet hat».

Der Ombudsmann der AZ hat in jenem Fall entschieden, er trete nicht auf die Beschwerde ein, weil jener Beschwerdeführer nicht aktivlegitimiert sei, vor dem Ombudsmann könne nur auftreten, wer durch einen Artikel direkt betroffen sei. Er habe die Artikel dennoch durchgelesen und ausser dem gestrichenen Satz über das Kind keine medienethisch problematischen Elemente gesehen.

D. Am 12. Oktober 2020 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg sowie den Vizepräsidenten Casper Selg und Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme am 31. Dezember 2020 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Der Presserat tritt auf die Beschwerde ein. Anders als im erwähnten Verfahren des AZ-Ombudsmannes ist vor dem Presserat jede Person zur Beschwerde berechtigt, die in einem Medienerzeugnis eine Verletzung der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» sieht.

Dabei schreibt das Geschäftsreglement des Presserates vor, dass die Beschwerdeführerin angeben muss, welche Stelle im fraglichen Text ihres Erachtens gegen welche Bestimmung der «Erklärung» verstösst. Die Beschwerdeführerin macht eine Verletzung von Ziffer 7 geltend und nennt als Beleg verschiedene Sätze in vier verschiedenen Artikeln. Das erachtet der Presserat als hinreichend genau und tritt auf die Beschwerde hinsichtlich dieser vier Artikel ein. Zwei weitere beanstandete Artikel beziehen sich auf eine von der BF nur «vermutete» weitere «Hatz» in einem neuen Fall. Darauf ist mangels hinreichender Angaben nicht einzutreten.

2. Ziffer 7 der «Erklärung» verlangt, dass JournalistInnen die Privatsphäre von Personen respektieren, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt. Albert Rüetschi hat den Schutz seiner Privatsphäre teilweise aufgegeben, indem er an die Öffentlichkeit ging mit der Ankündigung, er werde mit allen juristischen Mitteln gegen den eben vom Stimmvolk beschlossenen Bau des Aarauer Stadions vorgehen. Mit dieser Ankündigung hat er sich selber zu einer exponierten Person von öffentlichem Interesse gemacht. Insofern war die Nennung seines Namens problemlos, auch dass die Redaktion der Frage nachging, wer dieser Mann denn sei, der sich da mit allen rechtlichen Mitteln gegen den Volkswillen stemmen will, was ihn bewege, ist legitim und berechtigt. Aber es gibt Grenzen: Was an Privatem veröffentlicht wird, muss im öffentlichen Interesse begründet sein. Jeder Mensch, auch solche, die in der Öffentlichkeit stehen, hat das Recht auf ein Privatleben, nur liegt bei diesen die Grenze weniger hoch. Aber sie existiert ebenfalls.

Im vorliegenden Beispiel ist es, wie erwähnt, legitim, wenn über den Beruf, die Qualifikation des Beschriebenen berichtet wird. Das ist aber nicht der Fall, wenn im Zusammenhang mit dem Stadionneubau und der Person, die dagegen opponiert, von deren privaten Verhältnissen (getrennt lebend) und insbesondere von seinem Kind und dem Streit um dessen Betreuung berichtet wird. Hier wurde die Privatsphäre des X. verletzt. Diese Informationen waren klar nicht von öffentlichem Interesse im fraglichen Zusammenhang. In diesem Punkt hat die «Aargauer Zeitung» die Ziffer 7 der «Erklärung» verletzt. Daran kann auch ihr Einwand nichts ändern, dass eine schon früher erfolgte Erwähnung des Kindes «niemand gestört» habe.

3. Dass von einem Mann, der sich von sich aus prominent in die Öffentlichkeit begibt, Fotos veröffentlicht werden, ist nicht zu beanstanden. Ebenso wenig, dass gesagt wird, was er von Beruf ist und wo er in welchen Funktionen arbeitet. Insofern sind die übrigen drei der vier fraglichen Artikel nicht zu beanstanden.

III. Feststellungen

1. Der Presserat heisst die Beschwerde teilweise gut.

2. Die «Aargauer Zeitung» hat im Artikel «Der künftige Vorzeige-Einsprecher» vom 26. November 2019 mit der Benennung von Details der Familienverhältnisse des Porträtierten gegen die Ziffer 7 (Schutz der Privatsphäre) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verstossen.

3. In allen übrigen Punkten wird die Beschwerde abgewiesen.