Nr. 85/2020
Wahrheitspflicht / Trennung von Fakten und Kommentar / Anhören bei schweren Vorwürfen / Entstellen von Tatsachen

(X. c. «Aargauer Zeitung»)

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I. Sachverhalt

A. Am 18. Januar 2020 erschien in der «Aargauer Zeitung» (AZ) ein Artikel unter dem Titel «Besitzer des Vereinslokals zu Recht aus dem Verein geworfen», gezeichnet von Stefanie Garcia Lainez. Lead: «Der Badener Verein Trotamundos hat den Hausbesitzer aus dem Verein ausgeschlossen. Das Bezirksgericht weist die Klage dagegen ab.» Darin wird zunächst die Vorgeschichte eines Zivilprozesses geschildert: 2017 habe es einen Streit um ein Kulturlokal gegeben, zwischen dem Verein, der es betrieb und dem Hauseigentümer, der selber Mitglied des Vereins war. Die Folge sei gewesen, dass der Verein das Lokal verliess und dass der Hauseigentümer anschliessend Strafklage wegen Diebstahls und Sachbeschädigung, begangen im Rahmen des Auszuges, eingereicht habe. Gleichzeitig habe er auch eine Zivilklage eingereicht, dagegen, dass er damals aus dem Verein hinausgeworfen worden sei. Dabei habe er auch Einsicht in sämtliche Vereinsunterlagen verlangt, einschliesslich der Buchhaltung. Er habe den Verein verdächtigt, in seinem Lokal statutenwidrig Gewinne erzielt zu haben.

Die Verhandlung vor Zivilgericht habe im November stattgefunden, wird weiter ausgeführt, jetzt sei das Urteil bekannt geworden: Der Ausschluss des Klägers aus dem Verein sei rechtens gewesen, es habe kein rechtsmissbräuchliches Verhalten des beklagten Vereins festgestellt werden können, das Gericht habe die Klage abgewiesen. Auch hinsichtlich des Einsichtsrechts in die Vereinsunterlagen habe das Gericht Ansprüche des Klägers abgelehnt. Der Artikel schliesst mit dem Hinweis, dass noch offen sei, wann die «nächste Verhandlung vor Strafgericht bezüglich der Anzeige wegen Diebstahls und Sachbeschädigung» stattfinde. Und es wird erläutert, dass es dort darum gehe, ob der Verein beim Verlassen des Lokals wirklich Mobiliar zerstört und das Lokal nicht intakt verlassen habe, was dieser bestreite.

B. Am 18. März 2020 reichte der Eigentümer der fraglichen Liegenschaft und Kläger im Zivilprozess, X., vertreten von einem Anwalt, Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Er macht Verstösse gegen die Wahrheitspflicht, gegen das Gebot der Trennung von Bericht und Kommentar sowie gegen das Fairnessgebot geltend, allerdings ohne die jeweiligen Bestimmungen der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (im Folgenden «Erklärung») im Einzelnen zu benennen. Weiter verlangt er, dass der Presserat die «Aargauer Zeitung» verpflichte, eine Berichtigung in gleichem Format wie die bisherigen Berichterstattungen zu publizieren. Und allgemein beklagt er eine einseitige Haltung der Berichterstatterin, er wirft ihr vor, sozusagen als «Pressesprecherin» der Beklagten zu agieren.

Konkret sieht der Beschwerdeführer (BF) mit der Schlagzeile «Besitzer des Vereinslokals zu Recht aus dem Verein geworfen» die Wahrheitspflicht, also Ziffer 1 der «Erklärung», und die Verpflichtung zur Trennung von Fakten und Kommentar (Richtlinie 2.3) verletzt. Zur Begründung macht er geltend, diese Schlagzeile trage verschiedenen Einzelheiten, insbesondere dem genauen Streitgegenstand, nicht Rechnung, welche die Leserschaft hätte kennen müssen. An anderer Stelle rügt er, die Schlagzeile verletze das Fairnessgebot, das Gebot der Trennung von Fakten und Kommentar, sie sei täuschend und wahrheitswidrig. (Gemeint sind damit wohl Verletzungen der Präambel, der Richtlinie 2.3 sowie von Ziffer 3 und 1 der «Erklärung».) Er sagt, das Gericht habe in seinem Urteilsspruch (Dispositiv) und auch in seiner Kurzbegründung keine Feststellungen gemacht wie sie die Schlagzeile behaupte. Es habe nur festgestellt, im Handeln des Vereins sei keine Willkür zu sehen, seine Beurteilungs- (Kognitions-)Befugnis reiche gar nicht weiter. Materiell habe das Gericht die Handlungen des Vereinsvorstandes gar nicht untersucht.

Weiter macht der BF geltend, die Autorin hätte darauf hinweisen müssen, dass das Urteil noch nicht rechtskräftig sei. Es handle sich im Übrigen gar nicht um ein Urteil, sondern um ein Dispositiv mit Kurzbegründung. Die falsche Darstellung des Charakters des Entscheids werde noch akzentuiert durch den Satz «Mit diesem Entscheid hat der Verein Trotamundos ein erstes Mal vor Gericht Recht erhalten».

Der Hinweis, «wann die nächste Verhandlung vor dem Strafgericht bezüglich der Anzeige wegen Diebstahls und Sachbeschädigung stattfindet, ist noch offen» verletze das Wahrheitsgebot. Es finde – terminologisch – vor einem Strafgericht keine «Verhandlung» statt. Zudem werde hier der Eindruck eines Zusammenhanges der beiden Verfahren erweckt. Das sei eine Täuschung zu Lasten des BF.

Und schliesslich moniert der BF, er sei vor der Publikation nicht angehört worden (Richtlinie 3.8).

C. Am 25. September 2020 übermittelte der Chefredaktor der «Aargauer Zeitung», Rolf Cavalli, dem Presserat interne Unterlagen der Redaktion zur Causa X./Trotamundos, zum E-Mail-Verkehr unter den Parteien, Gerichtsprotokoll, Gerichtsurteil, je mit handschriftlichen Notizen der Autorin, welche sich auf die einzelnen Vorwürfe des BF beziehen. All dies wird weitgehend kommentarlos unterbreitet, ohne dazu auch nur einen Antrag zu stellen. Cavalli räumt im Begleitmail einen kleinen Fehler ein, der BF sei irrtümlich als «Vermieter» bezeichnet worden, wo er dem Verein das Lokal doch gratis zur Verfügung gestellt habe. Im Übrigen habe er dem BF angeboten, seine Sicht der Dinge zu publizieren («ohne allerdings das Gerichtsurteil zu relativieren»), darauf sei dieser nicht eingegangen.

Der Presserat verzichtet darauf, das ganze Dossier und die Notizen der Autorin an dieser Stelle zusammenzufassen; er geht in den Erwägungen (unten, II) auf die einschlägigen Stellen ein.

D. Am 12. Oktober 2020 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg sowie den Vizepräsidenten Casper Selg und Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 11. Dezember 2020 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Der Presserat tritt auf die Beschwerde ein, soweit dies in seiner Kompetenz liegt. Der Antrag des BF, es sei die AZ zu verpflichten, eine Berichtigung zu publizieren, verkennt die Kompetenzen des Presserates. Dieser misst journalistische Arbeiten an den Anforderungen der «Erklärung», aber er hat kein Weisungsrecht gegenüber den Redaktionen und Verlagen.

2. Der BF macht geltend, die Schlagzeile sei wahrheitswidrig. Damit meint er einen Verstoss gegen die Ziffer 1 der «Erklärung». Dies, weil sie nicht den richtigen Streitgegenstand bezeichne. In Tat und Wahrheit sei es zunächst um eine Differenz in der Buchhaltung zulasten des BF und anschliessend um verschiedene daraus folgende Schritte und Entscheidungen gegangen.

Wenn man die zehn Seiten des Entscheids des Bezirksgerichts liest, welcher Gegenstand des Artikels ist, dann geht es sowohl in der Klage des BF, wie dann auch im Urteil um zwei Fragen: ob der Vereinsausschluss rechtens gewesen sei und ob der BF Einsicht in die Vereinsunterlagen nehmen dürfe. Die erste Frage wird bejaht, die zweite verneint, die Klage des BF wird abgewiesen und zwar mit einer eingehenden rechtlichen Begründung. Wenn ein Gericht feststellt, dass ein Vereinsausschluss rechtens gewesen sei und dies detailliert rechtlich begründet, ist die Schlagzeile «Besitzer des Vereinslokals zu Recht aus dem Verein geworfen» in keiner Weise wahrheitswidrig. Eine Schlagzeile kann nicht ein ganzes Gerichtsverfahren beinhalten. Das von der AZ unterbreitete Urteil und dessen Begründung lässt auch nicht erkennen, dass es sich hier nur – wie vom BF behauptet – um eine reine Willkürprüfung ohne materielle Untersuchung der Sachverhalte gehandelt habe. Die Urteilsbegründung geht ausführlich auf die Sachverhalte und deren rechtliche Relevanz ein. Dass es sich hier, wie der BF darüberhinausgehend behauptet, rechtlich gesehen überhaupt nicht um ein Urteil handle, sondern nur um ein Dispositiv mit Kurzbegründung, ein Urteil sei etwas anderes, ist ebenfalls nicht plausibel: Das Ganze nennt sich «Entscheid» und der entscheidende Satz lautet «Die Klage wird abgewiesen …». Wo bei alledem ein Verstoss gegen die Wahrheitspflicht in der Schlagzeile liegen soll, erschliesst sich dem Presserat nicht. Die Ziffer 1 der «Erklärung» ist nicht verletzt.

Ebenso wenig verletzt der Artikel die Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar): Der Bericht zitiert das Urteil korrekt und beurteilt es nicht im Sinne eines Kommentars zu Ungunsten des BF. Und er verletzt auch nicht die Ziffer 7 (ungerechtfertigte Anschuldigung): Es wird das Urteil des Bezirksgerichts zusammengefasst, dass der BF dort in keinem Punkt Recht erhielt, ist nicht der AZ anzulasten.

3. Der Beschwerdeführer moniert, die Autorin hätte darauf hinweisen müssen, dass das Urteil noch nicht rechtskräftig war. Sie hat das implizit getan mit dem Hinweis «Mit diesem Urteil hat der Verein Trotamundos ein erstes Mal vor Gericht Recht erhalten», indem sie mit «ein erstes Mal» auf voraussichtliche weitere Instanzen hinwies. Dem Beschwerdeführer ist aber recht zu geben, dass dieser Hinweis deutlicher hätte ausfallen müssen. Der Presserat unterscheidet in seiner Praxis zwischen Ungenauigkeiten und regelrechten Verstössen gegen die Wahrheitspflicht. Dieser nicht genügend deutliche Hinweis entspricht noch einer journalistischen Ungenauigkeit, die Ziffer 1 (Wahrheitsgebot) ist nicht verletzt, ebenso wenig wie die Ziffer 3 (Entstellen von Tatsachen).

4. Weiter macht der BF geltend, der Satz «Wann die nächste Verhandlung vor dem Strafgericht bezüglich der Anzeige wegen Diebstahls und Sachbeschädigung stattfindet, ist noch offen» verletze das Wahrheitsgebot. Damit werde ein Zusammenhang zwischen dem einen (Zivilprozess) und dem anderen (Strafanzeige) impliziert, das entspreche einer Stellungnahme gegen den BF. Und es werde von etwas geschrieben, was es nicht gebe: eine «Verhandlung» vor einem Strafgericht.

Zu Beginn des Artikels erläutert die Autorin, dass neben dem zivilrechtlichen Streit auch eine Strafanzeige eingereicht worden sei. Gegen Schluss kommt sie darauf zurück und schreibt, es sei noch nicht klar, wann diese Strafklage zur Verhandlung gelange. Diese Feststellung ist wahr. Ziffer 1 der «Erklärung» ist nicht verletzt. Dass mit «Verhandlung» allenfalls ein unter Juristen nicht gängiger Ausdruck für ein Strafgerichtsverfahren verwendet wird, ändert nichts an der Verständlichkeit und dem Inhalt der Aussage. Ziffer 1 der «Erklärung» ist auch hier nicht verletzt.

5. Der BF kritisiert, dass er vor der Veröffentlichung des für ihn negativen Artikels nicht angehört worden sei. Die zur «Erklärung» gehörende Richtlinie 3.9 (Anhörung – Ausnahmen) besagt, eine Anhörung ist nicht erforderlich «bei schweren Vorwürfen, die sich auf öffentlich zugängliche amtliche Quellen (z.B. Gerichtsurteile) stützen». Es wird davon ausgegangen, dass in solchen Fällen alle Parteien angehört und ihre Argumente im Verfahren berücksichtigt worden sind, bevor es zum Urteil kam. Das ist hier sogar betont der Fall, erwähnt das Gericht doch in der «Kurzbegründung» ausdrücklich, dass der Beschwerdeführer ausführlich Stellung genommen habe («umfangreiche … Ausführungen»). Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) ist nicht verletzt.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. Die «Aargauer Zeitung» hat mit dem Artikel «Besitzer des Vereinslokals zu Recht aus dem Verein geworfen» vom 18. Januar 2020 die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht), 2 (Trennung von Fakten und Kommentar), 3 (Anhören bei schweren Vorwürfen / Entstellen von Tatsachen) und 7 (Sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.