Nr. 60/2010
Respektierung der Privatsphäre

(X. c. «Blick»)

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I. Sachverhalt

A. Unter dem Titel «Zum Glück war mein Hörgerät aus» berichtete Antonia Sell am 26. Oktober 2010 im «Blick» über einen Einbruch in das Einfamilienhaus eines 95- und 98-jährigen Rentnerpaars. Die Einbrecher seien nachts durch das Wohnzimmerfenster in das Haus eingestiegen und hätten nebst 1500 Franken Bargeld die Goldvreneli gestohlen, die der Mann seinerzeit bei der Pensionierung erhalten habe. «Vom Einbruch selbst haben die bald 100-jährigen nichts mitbekommen – sie schliefen friedlich. ‹Wir nehmen in der Nacht immer unsere Hörgeräte raus, das ist einfach bequemer. Aber ohne Hörhilfe sind wir eigentlich taub.›» Zuerst seien sie geschockt gewesen, dass sie die Einbrecher nicht gehört hätten, so dass sich diese in aller Ruhe bedienen konnten. «Doch auf der anderen Seite, was wäre passiert, wenn wir aufgewacht wären? Eigentlich ein Glück, dass wir unsere Hörgeräte rausgenommen hatten», zitiert «Blick» den 95-Jährigen.

Im Bericht sind die Namen des Rentner-Paares auf Walter und Helga Müller abgeändert. Ein Bild zeigt den Mann vor einem Schreibtisch. In den Händen hält er die beiden leeren Schachteln, in denen er zuvor die gestohlenen Goldvreneli aufbewahrt hatte.

B. Gleichentags gelangte X. – nachträglich legitimiert durch eine Vollmacht vom 5. November 2010 – namens seiner Eltern mit einer Beschwerde gegen den obengenannten Bericht an den Presserat.

Vor der «Blick»-Reporterin habe am gleichen Tag (25. Oktober 2010) bereits «Tele Ostschweiz» ein Interview mit seinem Vater gemacht. Letzterer habe sich dabei vorbehalten, der Bericht dürfe nur gesendet werden, wenn auch sein Sohn damit einverstanden sei. Nach Rücksprache mit seiner Schwester habe er, X., sein Einverständnis nicht gegeben, was der Journalist zwar bedauert, jedoch respektiert habe.

Anlässlich eines Besuchs bei seinem Vater nach dem Mittag habe ihm dieser mitgeteilt, nach «Tele Ostschweiz» seien zwei Journalisten von «Blick» mit einem Blumenstrauss vorbeigekommen. Sie hätten verschiedene Fragen gestellt und Fotos gemacht. Sein Vater habe klar darauf hingewiesen, dass eine Publikation nur erfolgen dürfe, wenn sein Sohn das Einverständnis erteile. Da er zuvor nichts von «Blick» gehört hatte, habe sich X. am späteren Nachmittag bei der Redaktion in Zürich gemeldet. Eine Frau Bleicher habe versprochen, sich der Sache anzunehmen. Kurz darauf habe er einen Anruf von Reporterin Antonia Sell erhalten. «Ich erklärte ihr, dass ich mit der Publikation nicht einverstanden sei und sie bitte, davon Abstand zu nehmen. Frau Sell nahm dies bedauernd zur Kenntnis. Kurz darauf rief Frau Sell nochmals an und machte den Vorschlag, eine Publikation mit einem anderen Namen zu machen. Ich lehnte dies klar ab, da meiner Meinung nach eine Zuordnung zu meinen Eltern zu leicht zu machen sei. Diese erneute Absage bedauerte Frau Sell wiederum.»

Mit dem gegen den ausdrücklichen Willen der Betroffenen veröffentlichten Bericht samt Foto habe «Blick» die Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Respektierung der Privatsphäre) verletzt. Ein öffentliches Interesse an der Publikation des Berichts sei zu verneinen. Hingegen habe dieser in die Privatsphäre seiner Eltern eingegriffen. Zwar werde sein Vater darin als «Walter Müller» bezeichnet, aufgrund des Bildes sei er aber ohne Weiteres identifizierbar.

C. Am 17. November 2010 wies die anwaltlich vertretene Redaktion «Blick» die Beschwerde als unbegründet zurück. Die Polizei habe über den Einbruch eine Medienmeldung veröffentlicht, die auch zahlreiche andere Medien gebracht hätten. Die beiden 95- und 98-jährigen Beschwerdeführer lebten nach wie vor selbständig in einem eigenen Haus und seien als handlungs- und urteilsfähig zu betrachten.

Der Bericht gebe lediglich das Alter der beiden Beschwerdeführer an, nicht aber den Wohnort. Zudem seien die Namen abgeändert. Im Bild werde einzig der Vater gezeigt. Vom Haus sehe man nichts. Ebenso fehlten jegliche Angaben über die Umstände des Einbruchs. Die Angabe des Umstands, dass beide Beschwerdeführer hörbehindert sind, dass sie ihr Gerät nachts nicht tragen und wohl deshalb die Einbrecher nicht gehört hätten, sei für das Verständnis der Leserschaft wichtig und jedenfalls nicht herabsetzend.

Der Vater habe aus freien Stücken mit Reporterin Antonia Sell gesprochen und sich von Toini Lindroos fotografieren lassen. «Er hat auch bei der Auswahl des Bildes – das dann publiziert wurde – mitgemacht, und er hat vom Jahre zurückliegenden Einbruch und der Beute in beiden Fällen erzählt. Mithin liege Einwilligung des Betroffenen vor, womit eine Persönlichkeitsverletzung von vornherein entfalle. Von einem Genehmigungsvorbehalt durch seinen Sohn sei nicht die Rede gewesen. Ebenso wenig hätten Frau Bleicher oder Frau Sell gegenüber X. in Bezug auf die Publikation des Bildes irgendwelche Zugeständnisse gemacht.

D. Gleichentags teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Esther Diener-Morscher und Vizepräsident Edy Salmina.

E. In einer nach Abschluss des Schriftenwechsels unaufgefordert eingereichten ergänzenden Stellungnahme hielten die Beschwerdeführer an ihrer Sachverhaltsdarstellung fest.

F. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 31. Dezember 2010 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Ziffer 7 der «Erklärung» verpflichtet Medienschaffende, die Privatsphäre der einzelnen Person zu respektieren, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt. Die Richtlinie 7.2 zur «Erklärung» (Identifizierung – vormals Richtlinie 7.6) verlangt eine sorgfältige Interessenabwägung und nennt eine Reihe von Fällen, in denen eine Namensnennung und/oder identifizierende Berichterstattung zulässig ist. Erlaubt ist ein identifizierender Bericht insbesondere dann, wenn die betroffene Person damit einverstanden ist.

2. Für den Presserat ist unbestritten, dass «Blick» und andere Medien über den Einbruch bei den Beschwerdeführern berichten durften. Hingegen ist ein überwiegendes öffentliches Interesse an einer identifizierenden Berichterstattung zu verneinen. Selbst wenn «Blick» die Namen änderte und darauf verzichtete, den Ort zu nennen, war der Abgebildete über sein näheres soziales Umfeld hinaus identifizierbar. Eine derartige identifizierende Berichterstattung war vorliegend deshalb nur zulässig, falls der Abgebildete dafür eine gültige Einwilligung erteilt hat.

3. Dieser für die Beurteilung der Beschwerde zentrale Punkt ist zwischen den Parteien strittig. Währenddem die Beschwerdeführer behaupten, nie eine vorbehaltlose Einwilligung für die Publikation von Bericht und Bild erteilt zu haben, machen die Beschwerdegegner geltend, von einem solchen Vorbehalt sei nun erst nachträglich die Rede. Weder Frau Bleicher noch Frau Sell hätten die in der Beschwerde behaupteten Zusagen gemacht noch irgendwie etwas bedauert.

4. Gemäss seiner ständigen Praxis ist es – auch angesichts fehlender prozessualer Zwangsmittel – nicht Sache des Presserates, umstrittene Fakten in einem Beweisverfahren zu klären (vgl. zuletzt die Stellungnahmen 61/2009, 23/2010). Zwar sprechen einige Indizien – so das behauptete analoge Vorgehen bei «Tele Ostschweiz» sowie die Änderung der Namen im Bericht – für die Version der Beschwerdeführer. «Blick» bestreitet jedoch jeglichen Genehmigungsvorbehalt und eine solcher ist aus den eingereichten Unterlagen nicht klar ersichtlich. Können die Beschwerdeführer die von ihnen behauptete Missachtung eines Genehmigungsvorbehalts nicht genügend belegen, hat der Presserat im Zweifel von der Sachverhaltsdarstellung der Beschwerdegegner auszugehen. Mithin also davon, dass die Journalistin von einer vorbehaltlosen Einwilligung für die Veröffentlichung von Bild und Zitaten ausgehen durfte. Zumal die Urteils- und Handlungsfähigkeit der Bestohlenen zwischen den Parteien unbestritten ist.

5. Haben hingegen die Telefonate von X. am späten Nachmittag des 25. Oktober 2010 mit der Redaktion in Zürich beziehungsweise mit Antonia Sell etwas an dieser Situation geändert? Für den Presserat ergibt sich auch zu diesem Punkt kein klares Bild. Zwar macht der Vertreter der Beschwerdeführer geltend, in den beiden Telefongesprächen mit Antonia Sell erklärt zu haben, mit der Publikation nicht einverstanden zu sein und darum gebeten zu haben, davon Abstand zu nehmen. Aus den Unterlagen geht aber nicht hervor, ob er dabei unmissverständlich und für die Redaktion ersichtlich als unmittelbarer Vertreter seines Vaters handelte oder ob die Reporterin in guten Treuen davon ausgehen durfte, der Sohn drücke lediglich sein persönliches Missfallen am geplanten Bericht aus, ohne dass dies an der Einwilligung des Vaters etwas änderte.

Zwar wäre es nach Auffassung des Presserates für die Zeitung ohne Weiteres möglich und zumutbar gewesen, den Bericht gänzlich zu anonmyisieren und entsprechend auf die Veröffentlichung des Bildes zu verzichten. Da jedoch nicht eindeutig erstellt ist, dass die Journalistin hätte erkennen müssen, dass die Veröffentlichung letztlich gegen den Willen des Abgebildeten erfolge, ist eine Verletzung von Ziffer 7 zu verneinen.

6. Schliesslich kann man sich die Frage stellen, ob «Blick» nicht ohnehin von sich aus auf die Veröffentlichung des Bildes hätte verzichten sollen, um den Betroffenen vor sich selber zu schützen. Der Presserat hat dies in der Stellungnahme 9/2007 in Bezug auf urteilsfähige Jugendliche bei einem Bericht über «Kampftrink»-Rituale von Teenagern bejaht, da diese die Folgen einer identifizierenden Berichterstattung nicht immer abschätzen können. Vorliegend ist eine solche Pflicht schon deshalb zu verneinen, weil der Bericht die Beschwerdeführer keineswegs in einem negativen Licht erscheinen lässt.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

1. «Blick» hat mit der Veröffentlichung des Berichts «Zum Glück war mein Hörgerät aus» die Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Respektierung der Privatsphäre) nicht verletzt.