Nr. 55/2021
Wahrheitspflicht / Trennung von Fakten und Kommentar

(X. c. «tagesanzeiger.ch»)

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I. Sachverhalt

A. Am 20. Januar 2021 veröffentlichte der «Tages-Anzeiger» (TA) online einen Artikel von Thorsten Denkler (Washington-Korrespondent der «Süddeutschen Zeitung») mit dem Titel «Letzte Amtshandlung: Donald Trump begnadigt Steve Bannon». Der Text beginnt mit dem Satz: «Am Tag, als Aufrührer im Namen von Donald Trump das Capitol stürmten, empfahl Donald Trumps früherer Berater Steve Bannon auf Twitter sowohl den FBI-Chef als auch den obersten Seuchenbekämpfer des Landes, Anthony Fauci, zu enthaupten. Jetzt hat Trump den unter Betrugsverdacht stehenden rechten Aktivisten nach ersten Medienberichten offenbar begnadigt.» Im Folgenden wird die Art und Weise beschrieben, wie Donald Trump rund zweihundert Personen begnadigt hat, dass der gemeinsame Nenner darin bestanden habe, dass es sich in der Regel um Leute handelte, zu denen er eine persönliche Beziehung gehabt habe, die ihm auch noch hätten nützlich werden können, dass aber auch Fälle bekannt geworden seien, in welchen Erlasse gegen hohe Summen in Aussicht gestellt worden seien. Im Weiteren wird darauf hingewiesen, dass Trump im Vergleich zu seinen Vorgängern weniger Begnadigungen ausgesprochen habe. Der Artikel endet mit der Bemerkung, dass das geltende Gnadenrecht wohl kaum reformiert werde, «Da bleibt nur die Hoffnung, dass nicht noch einmal jemand wie Trump ins Weisse Haus gewählt wird».

B. Am 17. Februar 2021 reichte X. Beschwerde gegen den Artikel beim Schweizer Presserat ein. Er macht einen Verstoss gegen die Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung») geltend sowie gegen die Richtlinien 1.1 (Wahrheitssuche) und 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) zur «Erklärung».

Zur Begründung sagt der Beschwerdeführer (BF), die Wahrheitspflicht (Ziffer 1 der «Erklärung» und Richtlinie 1.1 zur «Erklärung») sei verletzt, weil der Artikel behaupte, Steve Bannon habe am Tag des Sturms auf das Kapitol auf Twitter empfohlen, FBI-Direktor Wray und Seuchenberater Fauci zu enthaupten. Dieser Tweet habe aber überhaupt keinen Zusammenhang mit dem Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021. Er sei vielmehr schon am 5. November 2020 abgesetzt worden.

Die Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) sieht der BF verletzt, weil der Artikel kommentierende Passagen enthalte, ohne als Kommentar gekennzeichnet zu sein. Als Beispiel nennt er drei kommentierende Beurteilungen im Text, welche seiner Ansicht nach gegen die gebotene Trennung von Fakten und Kommentar verstossen, nämlich die Sätze:
– «Begnadigungen sind für Trump vor allem Freundschaftsdienste».
– «Der Sturm auf das Capitol, er muss ein Fest für Bannon gewesen sein».
– «Im Gegensatz zu seinem Vorgänger aber hat Trump von seinem Recht deutlich willkürlicher gebraucht (sic! Anm. d. BF) gemacht».

C. Am 10. März 2021 nahm die Rechtsabteilung der TX Group für «tagesanzeiger.ch» zur Beschwerde Stellung. Die Redaktion beantragt Nichteintreten, eventualiter Ablehnung der Beschwerde.

Sie begründet den Antrag auf Nichteintreten damit, dass der aus Versehen «tatsächlich etwas unpräzise» formulierte erste Satz nach Kenntnisnahme des kritisierten Umstands umgehend korrigiert worden sei. Damit sei nach Art. 11 Abs. 1 des Geschäftsreglements des Presserats die Voraussetzung für ein Nichteintreten gegeben.

Sollte der Presserat dennoch auf die Beschwerde eintreten, wird geltend gemacht, ein Verstoss gegen die Wahrheitspflicht (Ziffer 1, Richtlinie 1.1) liege nicht vor. Die beanstandete Formulierung im ersten Satz sei allenfalls als journalistische Ungenauigkeit zu werten, nicht jedoch als eigentliche Verletzung der Wahrheitspflicht. Und ein Verstoss gegen die Richtlinie 2.3 (Trennung Fakten und Kommentar) liege nicht vor, weil es hier um einen einordnenden Bericht aus der Sicht des Korrespondenten gehe. Für den Leser sei klar, was im Bericht Fakten seien und was Meinung des Korrespondenten.

D. Am 18. Juni 2021 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde gemäss Artikel 13 Abs. 1 des Geschäftsreglements von der Geschäftsführerin des Presserats behandelt.

E. Mit seinem Ablehnungsbegehren vom 27. Juni 2021 beantragte der Beschwerdeführer, dass die Beschwerde nicht durch die Geschäftsführerin behandelt werde.

F. Am 8. Juli 2021 teilte die Präsidentin des Presserats dem Beschwerdeführer die Abweisung seines Gesuchs durch die drei anderen Mitglieder des Präsidiums, d.h. Susan Boos, Annik Dubied und Max Trossmann mit: Die Mutmassung, dass die Geschäftsführerin einem «Täuschungsversuch durch die TX Group» erliegen könnte, sei spekulativ und unbegründet.

G. Die vorliegende Stellungnahme wurde von der Geschäftsführerin in Absprache mit dem Presseratspräsidium am 2. August 2021 verfasst.

II. Erwägungen

1. Der Presserat tritt auf die Beschwerde ein. Der Artikel stellt in seinem ersten Satz einen direkten Zusammenhang her zwischen einer ungeheuerlichen Äusserung auf Twitter und dem gleichentags erfolgten Sturm auf das Kapitol. Im Kontext des gesamten Inhalts geht es hier um eine wichtige inhaltliche Bemerkung und nicht, wie Art. 11 des Geschäftsreglements dies voraussetzt, um eine Angelegenheit «von geringer Relevanz».

2. Der Artikel besagt prominent und gleich am Anfang: «Am Tag, als Aufrührer im Namen von Donald Trump das Capitol stürmten, empfahl Donald Trumps früherer Berater Steve Bannon auf Twitter sowohl den FBI-Chef als auch den obersten Seuchenbekämpfer des Landes, Anthony Fauci, zu enthaupten. Jetzt hat Trump den unter Betrugsverdacht stehenden rechten Aktivisten nach ersten Medienberichten offenbar begnadigt.» Diese Sachverhaltsdarstellung entspricht nicht – wie vom «Tages-Anzeiger» geltend gemacht – einer Ungenauigkeit, sondern sie ist eindeutig inhaltlich falsch und dies in einem zentralen Punkt. Ein Gewalt verherrlichender und – falls ironisch gemeint – äusserst geschmackloser Tweet eines politischen Agitators wird mit einem noch verstörenderen Ereignis in Zusammenhang gebracht (Sturm auf das Parlament, verbunden mit schweren Drohungen und Taten gegen Leib und Leben), der so nicht existiert. Für den Presserat gibt es keinen Zweifel, dass hier – ob aus Versehen oder nicht – ein Verstoss gegen die Wahrheitspflicht vorliegt. Die Ziffer 1 der «Erklärung» ist verletzt.

Dies gilt im Übrigen auch für die später von der Redaktion korrigierte Fassung: «Am Tag, als Aufrührer im Namen von Donald Trump das Capitol stürmten, hat Twitter den Account von Trumps früherem Berater Steve Bannon gesperrt, weil der empfohlen hatte, sowohl den FBI-Chef als auch den obersten Seuchenbekämpfer des Landes, Anthony Fauci, zu enthaupten.» Auch diese Version stimmt eindeutig nicht: Zwischen der Sperrung von Bannon auf Twitter und dem Sturm auf das Kapitol besteht ebenso wenig ein Zusammenhang wie zwischen dem Tweet und dem Aufstand. Der Twitter-Account Bannons wurde bereits am 5. November 2020 gesperrt. Die vom TA korrigierte Version betraf demnach nicht nur einen Sachverhalt von Bedeutung (daher Eintreten), sondern sie war auch unrichtig.

3. Der Presserat sieht hingegen keinen Verstoss gegen die Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) in den vom BF angeführten Textstellen. Die Feststellung: «Begnadigungen sind für Trump vor allem Freundschaftsdienste» entspricht einer einordnenden Beurteilung des Korrespondenten, wie sie zulässig sein muss. Dem TA ist zuzustimmen, wenn er feststellt, dass der Wert von Korrespondentinnen und Korrespondenten darin liegt, dass die Leserschaft von ihnen Fakten und Einordnungen erhält und zwar von jemandem, der vor Ort ist, der die Geschehnisse und deren Wirkungen vor Ort miterlebt und diese entsprechend besser beurteilen kann als die Redaktion oder die Leserschaft zu Hause. Auch der Satz: «Der Sturm auf das Capitol, er muss ein Fest für Bannon gewesen sein» ist eine Vermutung des Korrespondenten, die auf der Hand liegt, und auch sie ordnet letztlich mehr ein als dass sie eine entschiedene persönliche Meinung zu einem Vorgang thematisiert. Faktisch einordnend und nicht kommentierend ist auch das letzte vom BF angegebene Beispiel: «Im Gegensatz zu seinem Vorgänger aber hat Trump von seinem Recht deutlich willkürlicher gebraucht (sic! Anm. d. BF) gemacht»: eine Beurteilung, wie sie in jedem Bericht vorkommt und vorkommen können muss. Die Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) ist somit nicht verletzt.

III. Feststellungen

1. Der Presserat heisst die Beschwerde teilweise gut.

2. Der «Tages-Anzeiger» online hat mit dem Artikel «Letzte Amtshandlung: Donald Trump begnadigt Steve Bannon» vom 20. Januar 2021 die Ziffer 1 (Wahrheitsgebot) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt, indem er fälschlich einen Zusammenhang zwischen einem Tweet von Donald Trumps Ex-Berater Steve Bannon und dem Sturm auf das US-Parlament herstellte.

3. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde abgewiesen.