Nr. 53/2022
Wahrheit / Unterschlagen wichtiger Informationselemente / Berichtigung

(X. c. «watson»)

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I. Sachverhalt

A. Am 12. Juni 2022 veröffentlichte «watson» einen Artikel, gezeichnet von Klaus Zaugg, mit dem Titel «‹Zwischen Verrat und Menschlichkeit› – ein Berner im Winter 1941/42 an der Ostfront». Zaugg schreibt über die Tagebücher von Ernst Gerber, einem Krankenpfleger, der mit einer Ärztemission des Schweizerischen Roten Kreuzes an die Ostfront gereist war. Er stand auf der Seite der Deutschen im Einsatz und sei dafür kritisiert worden: weil er auf der falschen, der bösen Seite stand. Im Rückblick sei diese Kritik ungerecht und billig, so der «watson»-Autor: Zum Zeitpunkt seines Hilfseinsatzes habe weder Ernst Gerber noch die Schweizer Regierung das wahre Gesicht dieses Krieges gekannt: «Sonst wäre dieser Einsatz kaum hochoffiziell bewilligt und von unserer Armee organisiert worden», so Zaugg. Er vergleicht den damaligen Einsatz auf deutscher Seite mit einer heutigen, humanitären Mission auf russischer Seite im Krieg in der Ukraine: «So wie die Russen heute in der Ukraine waren damals die Deutschen in Russland die Aggressoren.»

B. Am 8. August 2022 reichte X. Beschwerde gegen den Artikel von «watson.ch» beim Schweizer Presserat ein. Sie macht einen Verstoss gegen die Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung») geltend. Weiter sieht sie einen Verstoss gegen Richtlinie 3.1 (Berichtigungspflicht – sic) und Punkt 3.0.2 (Keine Unterschlagung von Informationselementen).

Den Verstoss gegen die Wahrheitspflicht begründet die Beschwerdeführerin (BF) damit, «watson.ch» behaupte, dass die offizielle Schweiz nichts gewusst habe, ansonsten wäre die Ärztemission nicht nach Russland geschickt worden. Sie begründet dies mit dem Verweis auf die Homepage des Roten Kreuzes – dort ist zu den Ärztemissionen an der Ostfront zu lesen, dass der Entsendeentscheid nicht rein humanitär gewesen sei. Vielmehr sei darin die Willfährigkeit gewisser Kreise in der Schweiz gegenüber dem Dritten Reich und dessen antibolschewistischer Politik erkennbar. Die BF führt weiter aus, 1941, zum Zeitpunkt von Ernst Gerbers Mission an der Ostfront, habe der Nationalsozialismus mit Pogromen, Vertreibungen, Gewaltakten und Konzentrationslager bereits 9 (oder 8) Jahre gedauert, was dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA durch diplomatische Depeschen bekannt gewesen sei. Diese Informationen habe dann spätestens der Schlussbericht der Bergier-Kommission aufgedeckt. Die Darstellung des «Nichtwissens» der Regierung widerspreche daher der Pflicht zur Wahrheitssuche, hält die BF fest. Dass die damalige Regierung «nicht im Bilde gewesen» sei, stehe im Widerspruch mit dem aktuellen geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisstand. Diese Unterschlagung von wichtigen Elementen von Informationen verletze Punkt 3.0.2. Diese Unterschlagung betreffe weiter die Behauptung im Artikel, der deutsche Überfall von damals sei mit dem russischen Angriff von heute zu vergleichen.

Der Verstoss gegen die Berichtigungspflicht bestehe weiter darin, dass die BF bei «watson.ch» gegen die oben erwähnte Darstellung protestiert habe, eine Berichtigung aber unterlassen worden sei.

C. Am 27. September 2022 nahm Chefredaktor Maurice Thiriet für «watson» Stellung zur Beschwerde und beantragte deren Ablehnung. Zum Verstoss gegen die Wahrheitspflicht weist er darauf hin, dass die Tatsachendarstellung des Autors aus historischer Perspektive nicht falsch sei: Die Deportationen von Juden in Richtung Ostfront, auf welche sich die Beschwerdeführerin beziehe, habe es zwar gegeben, doch die entsprechenden Botschafter-Berichte seien datiert von November/Dezember 1941. Die Sanitätsmission sei früher beschlossen, zusammengestellt und an die Ostfront geschickt worden, nämlich bis und mit Oktober 1941. Aus historischer Perspektive stimme also die Darstellung, dass sowohl Gerber als auch der Bundesrat nicht im Bild gewesen seien und verstosse nicht gegen die Pflicht zur Wahrheitssuche. Folglich könne auch keine Berichtigungspflicht einer falschen Tatsachendarstellung daraus erwachsen. Die Beschwerde sei auch in diesem Punkt abzuweisen.

Und zuletzt gebe es auch keine Unterschlagung von Informationselementen: Der Artikel behandle nicht die Frage, wann welche Stellen in der Schweiz über welche Kriegsverbrechen im Bild waren, Zaugg schreibe über die Mission des Schweizerischen Roten Kreuzes. In diesem Zusammenhang habe der Autor nicht die Aufgabe gehabt, die Haupterkenntnisse der Bergier-Kommission zusammenzufassen.

D. Am 11. Oktober 2022 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Präsidium des Presserats behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Jan Grüebler, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin.

E. Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 30. Dezember 2022 verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Ziffer 1 der «Erklärung» und die zugehörige Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) verpflichten Journalistinnen und Journalisten, nach der Wahrheit zu suchen und sich an diese zu halten. Im Artikel von «watson.ch» steht, die Schweizer Regierung und weitere Akteure, die an der Mission des Schweizerischen Roten Kreuzes beteiligt waren, seien damals nicht im Bilde über die damaligen Zustände an der Ostfront gewesen. Die Beschwerdeführerin argumentiert mit Botschafter-Berichten, die dieser Ansicht widersprechen würden. Laut Beschwerdegegnerin datieren diese Berichte allerdings vom November und Dezember 1941, also den Monaten nach dem Beschluss und der Entsendung der Sanitätsmission, welche bis und mit Oktober 1941 stattgefunden habe. Weder Beschwerdeführerin noch Beschwerdegegnerin legen Nachweise für diese Aussagen vor. Der Presserat sieht daher keinen Grund, die Formulierung als wahrheitswidrig anzusehen. Somit ist die Ziffer 1 der «Erklärung» nicht verletzt worden.

2. Ein Verstoss gegen Ziffer 5 der «Erklärung», die Berichtigungspflicht, ist damit ebenfalls nicht gegeben. Wenn Ziffer 1 (Wahrheitspflicht) nicht verletzt wurde, besteht auch kein Grund zur Berichtigung.

3. Mit dem Punkt «3.0.2. Keine Unterschlagung von Informationselementen» bezieht sich die BF offenbar auf die Meilensteine auf der Webseite, welche die wichtigsten Entscheide des Presserates zusammenfassen. Der Presserat prüft die Beschwerde daher unter dem Aspekt der Ziffer 3 (Unterschlagen wichtiger Informationselemente) der «Erklärung».

Da der Artikel nicht die im Schlussbericht der Bergier-Kommission dargestellten Ergebnisse zu den damaligen Vorkommnissen an der Ostfront zum Inhalt hat, sondern die Tagebücher eines Teilnehmers der medizinischen Mission zum Thema hat, kann auch das Fehlen eines Hinweises auf diesen Schlussbericht nicht als Unterschlagung von wichtigen Informationselementen angesehen werden. Der Autor der Tagebücher, Ernst Gerber, schreibt über historische Vorkommnisse aus seiner subjektiven Perspektive, nicht über den heutigen geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisstand der offiziellen Schweiz. Damit wurde auch Ziffer 3 der «Erklärung» nicht verletzt.

Auch der Hinweis auf den gemäss Beschwerdeführerin unzulässigen Vergleich zwischen dem damaligen Deutschland und dem heutigen Russland stellt keinen Verstoss gegen Ziffer 3 der «Erklärung» dar: Klaus Zaugg schreibt nur, der Angriff an sich sei vergleichbar: «So wie die Russen heute in der Ukraine waren damals die Deutschen in Russland die Aggressoren.» An keiner Stelle vergleicht der Autor die Gräueltaten und deren Ausmass und stellt sie einander gegenüber.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. «watson.ch» hat mit dem Artikel «‹Zwischen Verrat und Menschlichkeit› – ein Berner im Winter 1941/42 an der Ostfront» vom 12. Juni 2022 die Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (Unterschlagen wesentlicher Informationselemente) und 5 (Berichtigungspflicht) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.