Nr. 52/2010
Sperrfristen

(«Neue Luzerner Zeitung» c. Regierungsrat und Behörden des Kantons Luzern)

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I. Sachverhalt

A. Am 2. Oktober 2009 beschwerte sich Jerôme Martinu, Leiter Regionale Ressorts und Mitglied der Redaktionsleitung der «Neuen Luzerner Zeitung» (NLZ), in einem Schreiben an Regierungsrat und Staatskanzlei des Kantons Luzern über die Handhabung der kantonalen Behörden von Sperrfristen bei regierungsrätlichen Medieninformationen zu wichtigen Projekten. Die elektronischen Medien, insbesondere die Radiostationen, brächten die entsprechenden Informationen jeweils bereits am Abend, also noch vor Ablauf der um Mitternacht ablaufenden Sperrfrist. Diese Praxis führe bei der NLZ zu Unmut, werde die Zeitung doch so faktisch benachteiligt. Als Leitmedium könne sich die NLZ nicht damit begnügen, «nur» Vertiefung anzubieten. «Eine moderne Tageszeitung muss auch News bringen.»

Mit Erstaunen habe die NLZ zudem festgestellt, dass §12 (Sperrfristen) des Reglements des Kantons Luzern über die Information der Öffentlichkeit durch den Regierungsrat und die kantonale Verwaltung ausdrücklich festhalte, dass Radio und Fernsehen am Vorabend vor Ablauf der Sperrfrist berichten dürften. Eine derartige Bevorzugung der elektronischen Medien sei nach Auffassung der NLZ unzulässig.

B. Am 17. November 2009 antwortete der Staatsschreiber des Kantons Luzern, Markus Hodel, der zentrale Informationsdienst des Kantons Luzern versuche bei der Information der Öffentlichkeit via Medien, den unterschiedlichen Bedürfnissen und Möglichkeiten von elektronischen und Printmedien Rechnung zu tragen. In aller Regel verzichte der Kanton auf die Festlegung von Sperrfristen, was den elektronischen Medien zwangsläufig den Vorteil der raschen Berichterstattung verschaffe.

In begründeten Fällen würden Sperrfristen festgelegt. Diese seien nie Selbstzweck, sondern sollten vor allem den Medien zugutekommen. Einerseits dienten sie dazu, den Medienschaffenden bei komplexeren Inhalten genügend Vorbereitungszeit einzuräumen. Andererseits solle die Chancengleichheit der nur ein- oder zweimal wöchentlich erscheinenden Regionalzeitungen gewährleistet werden.

Die Sperrfristenregelung in §12 der Informationsrichtlinien müsste heute um die Online-Medien ergänzt werden. Die Regelung gelte sinngemäss für alle elektronischen Medien und nicht nur für Radio und TV. «In einer informellen Abmachung zwischen dem zentralen Informationsdienst und den elektronischen Medien wurde zudem präzisiert, dass die Berichterstattung kurz sein muss, höchstens knappe Statements und – für Online-Medien – keine Links zu Originaldokumenten enthalten darf. Ausführlich berichten dürfen damit auch die Online-Medien erst nach Ablauf der Sperrfrist.»

Eine unzulässige Bevorzugung der elektronischen Medien zu Lasten der Printmedien sei unter diesen Umständen zu verneinen. Aus Sicht des Informationsdienstes mache die geltende Regelung nach wie vor Sinn, weshalb man keine Veranlassung zu einer Änderung sehe. «Wir stellen im Übrigen fest, dass die festgesetzten Sperrfristen generell sehr gut eingehalten werden, was darauf schliessen lässt, dass die Regelung von den Medien akzeptiert und verstanden wird.»

C. Am 3. März 2010 wandten sich Jerôme Martinu und Chefredaktor Thomas Bornhauser namens der NLZ an den Schweizer Presserat. Nach ihrer Auffassung sei die geltende Sperrfristenregelung mit ihrer systematischen Bevorteilung der elektronischen Medien unzulässig. «Sperrfristen müssen sich gemäss unserem Verständnis von innen heraus begründen und dürfen keine medienpolitische Färbung haben. Wir erachten es als inakzeptabel, dass in Sachen Sperrfristen in einem solchen Reglement Mediengattungen erwähnt werden, beziehungsweise gewisse Medien eine bevorzugte Behandlung erfahren. Von Seiten des zentralen Informationsdienstes sei zwar anlässlich eines Gesprächs im Januar 2010 in Aussicht gestellt worden, bei den anderen Luzerner Medien in dieser Sache nachzufragen und das Reglement gegebenenfalls anzupassen. Bis dato habe sich aber nichts geändert. Deshalb wüsste die NLZ gerne, wie sich der Presserat zur Handhabe der Sperrfristen durch die Luzerner Behörden stellt.

D. Am 19. März 2010 räumte Harry Sivec, Informationschef des Kantons Luzern, in einer Stellungnahme zur Eingabe der NLZ ein, die geltende Sperrfristenregelung sei sowohl für die Medien als auch für den Kanton unbefriedigend. Zwar sehe man darin nach wie vor keine unzulässige oder gar systematische Bevorzugung einzelner Mediengattungen. Die Regelung sei aber zu einer Zeit formuliert worden, als die Lokalradios erst langsam aufkamen und Radio DRS nur am Abend ein regionales Sendegefäss hatte. Gestützt auf Gespräche mit verschiedenen Medien sei man zum Schluss gelangt, dass sich eine neue Regelung aufdränge. Dies bedinge eine Änderung der Informationsrichtlinien und damit einen Regierungsratsbeschluss. Man werde die Medien demnächst darüber informieren.

E. Am 24. März 2010 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Esther Diener-Morscher und Vizepräsident Edy Salmina.

F. Am 12. April 2010 teilte der zentrale Informationsdienst des Kantons Luzern dem Presserat mit, der Kanton Luzern werde die Informationsrichtlinien per 1. Juni 2010 ändern. Damit betrachte man die Angelegenheit soweit den Presserat betreffend als erledigt.

Aus einem beigelegten Schreiben des Zentralen Informationsdiensts an alle Medien im Kanton Luzern geht hervor, dass der Regierungsrat des Kantons Luzern beschlossen hat, den umstrittenen Satz «Radio und Fernsehen dürfen am Vorabend vor Ablauf der Sperrfrist darüber berichten» ersatzlos zu streichen. Diese Änderung trete per 1. Juni 2010 in Kraft.

G. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 17. Dezember 2010 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Gemäss Art 1 Abs. 4 des Geschäftsreglements erstreckt sich die Zuständigkeit des Schweizer Presserates auf den redaktionellen Teil oder damit zusammenhängende berufsethische Fragen von sämtlichen öffentlichen, periodischen und/oder auf die Aktualität bezogenen Medien. Die Beschwerden an den Presserat richten sich zwar in der Regel gegen eine oder mehrere Medienredaktionen. Sofern ein unmittelbarer Bezug zwischen dem Beschwerdegegenstand und der publizistischen Tätigkeit der Journalistinnen und Journalisten besteht, kann der Presserat aber ausnahmsweise auch auf Beschwerden eintreten, welche das Verhalten von Verlagen (vgl. Stellungnahme 2004) oder Behörden (Stellungnahme 60/2002) zur Diskussion stellen. Vorliegend ist dieser Zusammenhang offensichtlich gegeben.

2. Vorliegend hat der Kanton Luzern dem Anliegen der NLZ mit dem im Frühjahr beschlossenen und per 1. Juni 2010 in Kraft getretenen Änderung von §12 der Informationsrichtlinien soweit ersichtlich vollständig Rechnung getragen. Der Presserat nimmt den Sachverhalt aber trotzdem zum Anlass, um sich über den konkreten Fall hinaus generell zum Thema äussern. Mit der Entwicklung des Internet und dem Aufkommen der Online-Medien hat sich die Medienwelt in den letzten Jahren stark verändert, was eine Klarstellung sinnvoll macht, wie mit Sperrfristen umzugehen ist.

3.Die Richtlinie 4.4 zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Sperrfristen) lautet: «Wenn eine Information oder ein Dokument mit einer gerechtfertigten Sperrfrist (Abgabe von Texten noch nicht gehaltener Reden; Beeinträchtigung wichtiger Interessen bei einer verfrühten Publikation usw.) an ein oder mehrere Medien übergeben wird, ist diese Sperrfrist zu respektieren. Sperrfristen dürfen nicht Werbezwecken dienen. Hält eine Redaktion eine Sperrfrist nicht für gerechtfertigt, hat sie die Quelle über ihre Absicht, umgehend an die Öffentlichkeit zu gehen, zu informieren, damit die Quelle die übrigen Medien benachrichtigen kann.»

Bereits im Jahr 1983 hielt der Presserat in einer grundsätzlichen Stellungnahme fest, dass Sperrfristen immer eine Ausnahme darstellen sollten. Sie gälten nur dann als zumutbar, wenn überwiegende Interessen gegen eine umgehende Publikation sprechen. Die Ansetzung einer Sperrfrist sei insbesondere dann gerechtfertigt, wenn den Medienschaffenden vor einer Pressekonferenz Unterlagen zur Vorbereitung zugestellt werden oder wenn ein Unternehmen ohne eigenes Verschulden noch nicht dazu gekommen ist, sein Personal über eine geplante Massnahme zu orientieren. Dagegen gälten Sperrfristen nicht als zumutbar, wenn sie bezwecken, ein Medium einseitig zu bevorteilen, oder wenn mit der Sperrfrist versucht wird, die Veröffentlichung einer Information hinauszuzögern.

Ähnlich argumentierte der Presserat in der Stellungnahme 41/2001, in der er die Berechtigung einer Sperrfrist anerkannte, welche bezweckte, die Vororientierung des Personals einer Firma über geplante Entlassungen zu ermöglichen. Ebenso bejahte er, der Wunsch der Hinterlassenen eines Humoristen auf eine Beerdigung im privaten Kreis rechtfertige den Aufschub der Information der Öffentlichkeit über dessen Tod um wenige Stunden (Stellungnahme 57/2007).

Schliesslich hielt die Stellungnahme 39/2009 fest, es sei mit der Informationsfreiheit nicht vereinbar, durch die Festlegung einer Sperrfrist die Recherche zu einem Thema während fast eines Monats zu verhindern. Zudem seien Sperrfristen mit gesundem Menschenverstand auszulegen. Bei einer Sperrfrist um 07.00 Uhr bedeute dies, dass Printmedien ebenso wenig wie elektronische Medien mit der Veröffentlichung bis zum nächsten Tag zuwarten müssten, obschon ein Teil der Zeitungen bereits vor 07.00 Uhr in die Briefkästen verteilt werde.

4. Lassen sich Sperrfristen in der heutigen Zeit – neben den erwähnten Beispielen und damit vergleichbaren Sachverhalten sowie wenn die Sperrfrist sachlich an das Ende einer Veranstaltung oder Pressekonferenz gebunden ist – noch mit dem Argument der Gleichbehandlung verschiedener Medientypen rechtfertigen? Die Entwicklung der Online-Medien hat dazu geführt, dass Medienredaktionen Informationen auf verschiedenen Informationskanälen veröffentlichen. Auch die allermeisten Printmedien verbreiten ihre Berichte (zumindest teilweise) online, was tendenziell zu einer Angleichung der Möglichkeiten der verschiedenen Mediengattungen geführt hat, News rasch zu verbreiten. Unter diesen Umständen lässt sich die Festlegung einer Sperrfrist nach Auffassung des Presserates heute nicht mehr mit dem Argument der Gleichbehandlung rechtfertigen.

III. Feststellungen

1. Sperrfristen sind nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt. Einerseits, wenn sie sachlich an das Ende einer Veranstaltung oder Pressekonferenz gebunden sind. Andererseits, wenn ein überwiegendes Interesse den Anspruch der Öffentlichkeit auf Information kurzfristig überwiegt.

2. Sperrfristen sind nicht gerechtfertigt, wenn sie bezwecken, den Wettbewerb unter konkurrierenden Medien zu steuern.