Nr. 50/2017
Wahrheit / Freiheit der Information / Onlinekommentare

(X. c. «Infosperber»)

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Zusammenfassung

Der Presserat bekräftigt: Redaktionen dürfen auch schwierige Leserbriefschreiber und Onlinekommentatoren nicht gänzlich abblocken.

Hat eigentlich jeder ein Recht darauf, dass sein Onlinekommentar publiziert wird? Hierzu sagt der Schweizer Presserat klar, dass Onlineredaktionen Kommentare kürzen, gar nicht publizieren oder nachträglich löschen dürfen. Ebenso klar macht das Gremium, dass eine Redaktion das Konto eines Nutzers nur im absoluten Ausnahmefall permanent sperren darf. Dies gilt auch für lästige oder mühsame Schreibende.

Der Presserat hat daher soeben die Beschwerde eines Schreibers von Onlinekommentaren gegen das Onlineportal «Infosperber» teilweise gutgeheissen. «Infosperber» war berechtigt, einen einzelnen Kommentar zu löschen, der unbelegte schwere Vorwürfe erhob. Aber das Portal durfte den Schreiber nicht ganz aussperren.

Der Presserat empfiehlt zudem, Onlinekommentare vor der Publikation zu überprüfen. Im vorliegenden Fall erfolgte die Überprüfung erst nachträglich.

Résumé

Le Conseil de la presse le répète: les rédactions ne peuvent bloquer complètement les lettres de lecteur et les commentaires en ligne qui posent problème.

Tout le monde a-t-il le droit de voir son commentaire publié en ligne? Le Conseil suisse de la presse affirme clairement que les rédactions de médias en ligne peuvent raccourcir, ne pas publier ou supprimer après coup certains commentaires. Mais il indique tout aussi clairement qu’une rédaction ne peut bloquer définitivement le compte d’un utilisateur qu’en cas d’exception absolue. Cela vaut aussi pour les auteurs pénibles ou désagréables.

Le Conseil de la presse vient par conséquent d’accepter en partie la plainte de l’auteur de commentaires faits en ligne sur le portail «Infosperber». «Infosperber» était en droit de supprimer un commentaire contenant des reproches graves sans fondement. Mais le portail ne pouvait bloquer complètement l’auteur en question.

Le Conseil de la presse recommande en outre de vérifier les commentaires avant leur publication. Dans le cas présent, la vérification a été faite a posteriori.

Riassunto

Il Consiglio della stampa sottolinea: non è lecito a un portale online boicottare sistematicamente un lettore importuno.

Bisogna ritenere allora che chi scrive ha sempre diritto alla pubblicazione? No. Le redazioni possono accorciare un testo, eventualmente persino cancellarlo, e ciò anche dopo che sia stato pubblicato. Ma la chiusura del diritto di accesso è un provvedimento eccezionale e non può essere sistematico, anche se lo scrivente si è dimostrato un seccatore e un importuno.

Il Consiglio ha dunque parzialmente accolto un reclamo presentato contro «Infosperber». La redazione del sito aveva certo il diritto di non pubblicare uno scritto recante una critica severa ma infondata. Decidere il boicottaggio sistematico di chi scrive non può invece essere approvato.

Alle redazioni si consiglia di vagliare preventivamente i testi che le arrivano: nel caso in esame il controllo era avvenuto dopo la pubblicazione.

I. Sachverhalt

A. Am 18. Juli 2017 erschien bei «Infosperber» – eine Onlinezeitung zur «Förderung unabhängiger Information» – ein Artikel mit dem Titel «Novartis ködert Ärztinnen und Ärzte am meisten». Im Lead heisst es dazu: «Oft verschreibt ein Arzt nicht das geeignetste Medikament, sondern eines, für das ihn die Pharma speziell bezahlt.» US-Pharmakonzerne – schreiben die Autoren Markus Grill und Stefan Wehrmeyer – müssten alle Zahlungen an Ärzte, Spitäler und Patientenorganisationen offenlegen, was in Europa nicht der Fall sei, so dass hier keine Transparenz herrsche. Nur ein Viertel der Ärzte in Deutschland sei bereit, Zahlungen offen zu legen. Das Recherchezentrum «Correctiv» (das mit «Infosperber» kooperiert) habe zusammen mit «Spiegel Online» eine Datenbank erstellt, auf der man sehen könne, welche Ärzte zur Transparenz bereit seien. Allerdings werde über 60 Prozent der Zahlungen keine Auskunft gegeben; darin seien etwa Gelder enthalten, die Ärzte bekommen, wenn sie Patienten ein bestimmtes Medikament verordnen.

B. Am 8. September 2017 reichte X. beim Schweizer Presserat eine Beschwerde ein gegen «Infosperber» wegen «willkürlicher Manipulation der öffentlichen Meinungsbildung» durch den Stiftungspräsidenten der Schweizerischen Stiftung zur Förderung unabhängiger Information (SSUI), Urs P. Gasche. Dieser habe Ziffer 1, 2 und 5 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») verletzt.

X. beklagt sich zuerst darüber, dass Gasche seinen (X.s) Kommentar vom 18. Juli 2017 zum erwähnten Artikel gelöscht habe, mit der Begründung, dieser gehe überhaupt nicht auf den Artikel ein. X. greift im Kommentar Gasche an: Er sei ein Befürworter von Retrozessionen, also von Schmier- und Bestechungsgeldern. (Während der «Correctiv»-Artikel von der Lage in Deutschland handelt, beklagt X. die missliche Lage in der Schweiz.)

In seiner ausführlichen, mit 19 Beilagen unterfütterten «Anklageschrift» erläutert X. die juristische Sachlage bezüglich Zahlungen an Ärzte. Er beklagt, Gasche habe ihm «sämtliche Kompetenzen in dieser Angelegenheit» abgesprochen. Schliesslich habe Gasche sein Konto bei «Infosperber» gelöscht, «mitsamt all meinen bisherigen Kommentaren». Zur Begründung weise Gasche darauf hin, dass für rechtswidrige Beschuldigungen nicht nur der jeweilige Autor zur Rechenschaft gezogen werden könne, sondern auch der Verbreiter solcher Nachrichten, also «Infosperber».

Der Beschwerdeführer erläutert dann ausführlich, welche Bestimmungen der «Erklärung» Gasche verletzt habe: Ziffer 1 (Wahrheitspflicht), Ziffer 2 (Freiheit des Kommentars und der Kritik) sowie Ziffer 5 (Pflicht zur Berichtigung falscher Informationen). Im Übrigen betont X., Gasche habe die selbstauferlegte «Publizistische Ausrichtung» von «Infosperber» mehrfach verletzt. X. behauptet, Gasche hätte seinen Kommentar nur zensurieren dürfen, «wenn dem Kläger üble Nachrede, Verleumdung oder Verbreitung falscher Tatsachen hätte nachweislich vorgeworfen werden können». Dabei habe Gasche selbst festgestellt, dass Rabatte und Kickbacks in der Schweiz ein Problem darstellten. X. wirft Gasche auch vor, mit seiner Zensur «möglicherweise» Kritik an den herrschenden Missständen bei Medikamentenpreisen zum Schweigen bringen zu wollen.

C. Am 22. September 2017 antwortete Urs. P. Gasche als Präsident der SSUI kurz und bündig auf X.s Beschwerde. Zum Sachverhalt betont er, auf der Internet-Plattform «Infosperber» könnten Leserinnen und Leser direkt – also ohne vorgängige Kontrolle – online ihre Kommentare eingeben. «Wahrscheinlich rechtswidrige Darstellungen» würden nachträglich gelöscht; im Wiederholungsfall (oder wenn Betroffene die Löschung nicht akzeptierten) erfolge die Löschung des Kontos.

X. habe in seinem Beitrag verbreitet, Gasche befürworte die Zahlung von Schmier- und Bestechungsgeldern in einer Höhe von mindestens 1,5 Milliarden Franken pro Jahr. Zudem habe er Aussagen wiederholt, die schon mehrfach auf «Infosperber» erschienen seien. Weil er immer wieder die gleichen Textbausteine verwende und ehrverletzende Behauptungen gegen ihn, Gasche, aufstelle, habe er den Beitrag gelöscht. Nach X.s umgehendem Protest habe er ihm angedroht, sein Konto ganz zu löschen, falls er seine Anschuldigungen nicht belegen könne.

Zusätzlich habe er X. darauf hingewiesen, dass er möglicherweise auch Dritte durch tatsachenwidrige Behauptungen diffamiere. «Infosperber» sei es unmöglich, alle Meinungseinträge auf rechtswidrige Darstellungen hin zu überprüfen. Darum bliebe «Infosperber» nur noch der Weg offen, X.s Konto ganz zu löschen. X. habe seine Behauptung, wonach Gasche Schmiergelder gutheisse, nicht belegt – darauf sei sein Konto gelöscht worden.

X. habe weiterhin freien Zugang zu «Infosperber», könne jedoch keine Meinungseinträge mehr publizieren. Abschliessend betont Gasche, Zeitungen seien frei, welche Leserbriefe sie veröffentlichten oder (ohne Rücksprache) kürzten. Er – Gasche – könne es aber nicht zulassen, dass seine «Berufsehre» durch aus der Luft gegriffene Behauptungen verletzt werde.

Gasche fordert den Presserat auf, auf die Beschwerde nicht einzutreten, weil er nach Artikel 11 seines Geschäftsreglements gar nicht zuständig sei, wobei er nicht erläutert, warum der Presserat nicht zuständig sein sollte. Falls er doch darauf einträte, sei die Beschwerde vollumfänglich abzulehnen.

D. Das Präsidium wies den Fall der 3. Kammer zu, der Max Trossmann (Präsident), Marianne Biber, Jan Grüebler, Matthias Halbeis, Barbara Hintermann, Seraina Kobler und Markus Locher angehören.

E. Die 3. Kammer des Presserates behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 7. Dezember 2017 und auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. «Infosperber» schreibt, der Presserat sei für die Beschwerde nicht zuständig, ohne dies näher zu begründen. Der Presserat sieht keinen Grund, warum er in dieser Angelegenheit nicht zuständig sein sollte. Er tritt also auf die Beschwerde ein.

2. Die Beschwerde von X. bezieht sich nicht auf einen Artikel von «Infosperber», sondern auf die «Zensur» eines seiner Onlinekommentare und auf die Löschung seines Kontos durch Urs P. Gasche. X. sieht darin eine Verletzung von Ziffer 1 der «Erklärung», also der Wahrheitspflicht, er beruft sich auf Ziffer 2 (Freiheit des Kommentars) und sieht auch eine Verletzung von Ziffer 5, der Pflicht zur Berichtigung falscher Aussagen. Umgekehrt wehrt sich Gasche gegen ehrverletzende Aussagen X.s und will es auch nicht zulassen, dass Dritte durch tatsachenwidrige Behauptungen diffamiert werden.

Der Presserat kann nicht beurteilen, wie X. auf die heftigen Angriffe gegen Gasche kommt, denn der Beschwerdeführer bleibt Belege dafür schuldig. Die Frage stellt sich trotzdem, ob die Löschung des Onlinekommentars und dann auch des ganzen Kontos zulässig war.

3. «Infosperber» ist eine 2011 gegründete Stiftung, die unabhängigen Journalismus fördern will, insbesondere Recherchen von politischer und gesellschaftlicher Relevanz. Sie finanziert sich zu 90 Prozent durch Spenden, die Schreibenden arbeiten in der Regel ohne Honorare. Wie erwähnt können Leserinnen und Leser zu den Beiträgen Stellung nehmen, wobei «beleidigende, unnötig herabsetzende oder rassistische Passagen» nicht toleriert werden. Was bedeuten diese Grundsätze des Organs für unseren Fall? Im Mittelpunkt steht auch hier die Frage, inwiefern die Löschung des Kommentars und dann des Kontos des Beschwerdeführers berechtigt war.

4. Der Umgang der Redaktionen mit Leserbriefen und Onlinekommentaren beschäftigt den Presserat regelmässig. Die Regeln für beide sind identisch: In Richtlinie 5.2 heisst es dazu, der Meinungsfreiheit sei gerade auf der Leserbriefseite ein grösstmöglicher Freiraum zuzugestehen. Die Redaktion solle nur bei offensichtlichen Verletzungen der «Erklärung» eingreifen.
Zwar hielt der Presserat in seinem Entscheid 11/2012 fest, es liege im alleinigen Ermessen der Redaktion, ob Leserreaktionen veröffentlicht würden. Das heisse aber nicht, dass Redaktionen frei sind, einzelnen Personen den Zugang zu ihren Leserbriefseiten generell zu verweigern. Denn damit werde der Person «ihr Recht auf freie Meinungsäusserung in einer grundsätzlichen und systematischen Art eingeschränkt». Eine solche Diskriminierung sei nur in seltenen Ausnahmefällen zu vertretbar. Der Entscheid 44/2016 konstatiert zudem, die Ablehnung von Reaktionen eines Lesers würde Richtlinie 5.2 «allenfalls» verletzen, etwa wenn der Leser systematisch, über lange Zeit und aus journalistisch nicht zu rechtfertigenden Gründen gesperrt werde.

5. Nützlich ist, den Verlauf des Konflikts kurz nachzuzeichnen. Der Streit beginnt damit, dass Gasche X.s Onlinekommentar vom 18. Juli 2017 gleichentags kurzerhand löscht. Begründung: Er beziehe sich nur lose auf den Artikel der «Correctiv»-Autoren bezüglich Kickbacks. Sinnvoll wäre es nach Auffassung des Presserats gewesen, «Infosperber» hätte X. von Anfang an aufgefordert, den Artikel umzuformulieren und die Vorwürfe gegen Gasche zu belegen.

Am 19. Juli 2017 beginnt dann eine Eskalation, die in der Löschung von X.s Konto gipfelt. Beide Seiten sind an dieser Eskalation beteiligt: X. schreibt eine sehr ausführliche Stellungnahme an die Mitglieder des «Correctiv»-Netzwerks und Redaktoren des «Beobachter» – mit verschärften Anwürfen gegen Gasche; er wird als heuchlerisch und verlogen hingestellt, sein Verhalten sei «nachweislich belegbar meinungsmanipulierend» und «höchst korrumpierende Tatsachen verneinend».

Gasche schreibt postwendend an die gleichen Empfänger, X. sei in keiner Weise legitimiert, «sich als Patientenschützer auszugeben». Und an X. direkt: «Ich weiss nicht, was in Sie gefahren ist.» Er fordert ihn dann ultimativ auf, Beweise für die Behauptung vorzulegen, er habe rechtswidrige Rabatte und Kickbacks je gutgeheissen. Im gleichen Mail hält er fest, «Infosperber» könne nicht alle Beiträge auf rechtswidrige Inhalte durchsuchen und müsste also sein Konto ganz löschen. Bereits eine knappe Stunde später teilt er X. mit, er sei nun genötigt, sein Konto zu löschen. «Infosperber» dulde keine beleidigenden Bezeichnungen. Und wer sich «im Gegensatz zum Biertisch» öffentlich äussere, müsse sich an die Rechtsvorschriften halten oder zuerst dafür sorgen, dass diese geändert würden. «Für rechtswidrige Beschuldigungen haften nicht nur die Schreibenden, sondern auch die Verbreiter», also «Infosperber».

6. Gasches harsche Reaktion kann der Presserat insofern verstehen, als er offensichtlich befürchtete, die Angelegenheit laufe völlig aus dem Ruder. Als von Freiwilligen betriebenes Onlineportal ist «Infosperber» nicht in der Lage, Anwälte zu beschäftigen oder vor Gericht zu gehen. Gasches Reaktion läuft zwar idealen Forderungen zuwider, sie liesse sich aber im Lichte der beschränkten Möglichkeiten – vor allem der engen finanziellen Grenzen (Finanzierung durch private Sponsoren) – eines Onlineportals betrachten. Der Presserat muss jedoch auch im vorliegenden Fall darauf bestehen, dass sich eine Redaktion (eines Printmediums oder eines Onlineportals) bei ihren Interventionen vom Grundsatz der Verhältnismässigkeit leiten lässt. Schon im Entscheid 28/2002 wies der Presserat ausdrücklich darauf hin, dass Presseorgane «ihre Eigeninteressen sorgfältig gegen ihre journalistischen Pflichten abzuwägen» haben; sie haben sich mithin an den Grundsätzen der «Pflicht zur Sicherung des gesellschaftlichen Diskurses», der «Freiheit der Information» und dem «Gebot der Fairness» auszurichten. Für die definitive und dauernde Löschung eines Leserkontos müssen sehr gute Gründe vorliegen. Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit verlangt zudem, dass die Redaktion die mildere der möglichen Massnahmen wählt; im vorliegenden Fall zum Beispiel ein temporäres Time-out für den Nutzer. Im Geist dieser Prinzipien ist im vorliegenden Fall die permanente Löschung des Nutzerkontos des Beschwerdeführers nicht mit der Freiheit der Information vereinbar. Daher ist Ziffer 2 der «Erklärung» verletzt. Der Presserat verfolgt diese Leitlinien, die auch die weiter oben erwähnten Stellungnahmen unterstreichen, auch in den hektischen Internet-Zeiten unbeirrt.

7. Schliesslich sei noch ein besonderes Problem angesprochen. Bei «Infosperber» kann jedermann oder jedefrau einen Beitrag posten – erst nachträglich erfolgt eine Kontrolle durch die Redaktion. Der Presserat hat in seiner Stellungnahme 52/2011 ausdrücklich betont: Eine nachträgliche Kontrolle von Onlinekommentaren ist «kaum mit der Berufsethik vereinbar». Er empfiehlt «Infosperber» daher, seine Praxis im Lichte dieses Entscheids zu überdenken.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

2. «Infosperber» hat mit der vollständigen Löschung eines Leserkontos gegen Ziffer 2 (Freiheit der Information) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verstossen.

3. Hingegen hat die Redaktion mit der Löschung eines Onlinekommentars, der unbelegte schwere Vorwürfe enthielt, Ziffer 5 der «Erklärung» (Onlinekommentare) nicht verletzt.