Nr. 48/2018
Wahrheitspflicht / Freiheit der Information, des Kommentars und der Kritik sowie Unabhängigkeit / Unterschlagen wichtiger Informationselemente / Berichtigung

(X. c. «Basler Zeitung»)

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I. Sachverhalt

A. Am 9. August 2017 publizierte die «Basler Zeitung» (BaZ) einen Artikel von Dominik Feusi mit dem Titel «‹Grönland schmilzt› – oder doch nicht». Der Untertitel lautete: «Bundespräsidentin Doris Leuthard fliegt für eine PR-Aktion ins grönländische Eis – SRF liefert die Begleitmusik». Der Artikel geht auf einen zwei Tage früher ausgestrahlten Beitrag der «Tagesschau» von SRF ein, in welchem der Klimaforscher Konrad Steffen von der Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft Bundesrätin Doris Leuthard ins «Swiss Camp» in Grönland begleitet. Der Autor sieht darin eine politische PR-Aktion, deren Rahmen bereits die Anmoderation vorgebe: Der Klimawandel sei schnell, gefährlich und ohne jeden Zweifel vom Menschen gemacht. In einer gleichentags auf Radio SRF ausgestrahlten Sendung weise derselbe Klimaforscher darauf hin, dass durch das Abschmelzen des Eises der weltweite Meeresspiegel bis zum Jahr 2100 um «bis zu einem Meter» ansteigen werde. Diese Prognose sei die schlimmstmögliche Berechnung im schlimmstmöglichen von Forschern beschriebenen Szenario. Es beruhe auf unrealistischen Annahmen, nämlich auf einem rund dreimal höheren Anstieg des Meeresspiegels pro Jahr als der Klimaforscher selber angebe. Nach dem Zwischentitel «Ein Zehntelpromille» stellt der Autor die Frage, wie viel Eis denn nun genau schmilzt. Der erwähnte Klimaforscher habe im Radiobeitrag das Abschmelzen mit 365 Kubikkilometern Eis pro Jahr beziffert, was dem sechsfachen Eisvolumen der Alpen entspreche. Dieser Vergleich mit den Alpen mache nur Sinn, um die Alarmstimmung aufrechtzuerhalten. Hätte der Klimaforscher nämlich das Schmelzen ins Verhältnis zum Eisvolumen von Grönland gestellt, so hätte er zugeben müssen, dass die behauptete Schmelze nur gut ein Zehntel eines Promilles (0,12 Promille) betrage. Unter dem weiteren Untertitel «Es ist kompliziert» führt der Autor dann aus, klar sei nur, dass sich das Klima ändere. Aber das sei nichts Neues. Es gebe Hinweise darauf, dass sich der Fluss des Eises in Grönland beschleunige. Und es gebe Regionen, in denen das Eis tatsächlich schmelze, wie es auch solche gebe, in denen das Eis wachse. Ausgerechnet im letzten Jahr sei es fast überall gewachsen. Diese Aussage wird mit einer Grafik «Veränderung des Grönlandeises 1. September 2016 bis 27. Juni 2017» illustriert, welche zweimal die Karte von Grönland darstellt, einmal die überwiegende Zunahme in Millimeter auf fast ganz Grönland respektive die Abnahme an wenigen Küstenstreifen, einmal die Veränderung zum Vorjahr. Wäre Steffen ein seriöser Wissenschaftler hätte er auf all diese offenen Fragen hingewiesen, folgert Feusi. Und ein seriöser Sender hätte ihn dazu befragt. Offen bleibe, ob der Klimawandel vom Menschen verursacht werde. Sollte er natürlich sein, würden alle Gesetze nichts helfen. Aber Klimaforscher Steffen (und SRF) stelle den Menschen als Verursacher als Tatsache in den Raum.

B. X. reichte am 19. August 2017 Beschwerde gegen den Artikel vom 9. August 2017 beim Schweizer Presserat ein. Er macht zum einen eine Verletzung der Wahrheitspflicht (Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» – nachfolgend «Erklärung») geltend: Indem der Autor ein unvollständiges Bild zeichne und eine Momentaufnahme nicht als solche kennzeichne, suggeriere er, dass Grönlands Eismasse nicht bedroht sei, sondern gar zulege. Grönlands Eismassenbilanz sei seit Jahren negativ, der Massenverlust sogar noch grösser als bisher angenommen. Er habe den Autor auf den Fehler hingewiesen und eine Korrektur verlangt, diese sei jedoch ausgeblieben. Die Grafik zeige eine Momentaufnahme einer Oberflächenbilanz Grönlands vom 27. Juni 2017. Es liege mehr Schnee als im September 2016, was aber nicht einer effektiven Eiszunahme entspreche, denn nach dem Winter liege immer mehr Schnee als davor. Auch sage die Grafik, dass im Juni 2017 gebietsweise mehr Schnee lag als im Juni 2016. Das sei aber laut dem Urheber der Grafik, dem belgischen Wissenschaftler Xavier Fettweis, auf einen aussergewöhnlich schneereichen Winter 2016/2017 zurückzuführen. Der Wissenschaftler halte klar fest, dass die Auswirkung des gesamten Jahresklimas auf die Massenbilanz abzuwarten sei. Davon lese man in der BaZ nichts. Während zumindest die Oberflächenbilanz positiv zu sein scheine, so wisse man über den Eisverlust durch Kalbung in den Ozean anhand der von Feusi gezeigten Grafik nichts. So oder so nehme Feusi in Kauf, Unwahrheit zu verbreiten, indem er ein unvollständiges Bild zeichne.

Weiter macht der Beschwerdeführer eine Verletzung von Ziffer 2 der «Erklärung» (Freiheit der Information, des Kommentars und der Kritik sowie Unabhängigkeit) geltend. Der Autor wahre die Objektivität ungenügend und beeinträchtige somit die Freiheit der Information. Er schlüpfe in die Rolle des Wissenschaftlers und treffe dabei Aussagen, die ihm nicht zustünden. Er präsentiere sich nicht als unabhängig und lasse die Trennung von Fakten und Meinung vermissen. Der Text müsste als Meinung oder Kommentar gekennzeichnet sein, sodass Leser einschätzen könnten, ob sie Dominik Feusis Ausführungen vertrauen wollen oder nicht.

X. rügt auch eine Verletzung von Ziffer 3 der «Erklärung», indem der Autor wichtige Elemente von Informationen unterschlage: Es werde nicht erwähnt, dass die Grafik, mit welcher Feusi eine Eiszunahme behaupte, eine Momentaufnahme vom 27. Juni zeige und folglich abzuwarten bleibe, bis die Schmelze vorüber sei, um sagen zu können, ob der Eiszuwachs definitiv sei. Es werde weiter auch nicht erwähnt, dass Grönlands Eisverlust zu 50 Prozent durch Kalbung in die Ozeane bedingt sei, womit eine positive Oberflächenbilanz nicht zur Aussage herangezogen werden könne, dass das Eis auf Grönland zulege. Zudem werde die durchaus komplizierte wissenschaftliche Grafik 1:1 abgedruckt und lediglich mit einer ungenügenden Bildunterschrift «erklärt». Es würden wichtige Informationen unterschlagen, wie man die Grafik zu lesen habe: Es sei unklar, welche Veränderung man beobachte über welchen Zeitraum, ebenso unklar sei, was die Skala bedeute.

Schliesslich moniert X. eine Verletzung von Ziffer 5 der «Erklärung»: Er habe Dominik Feusi und die BaZ mehrmals um eine Berichtigung gebeten, vergeblich. Die BaZ müsste klargestellen, dass die Grafik keinen effektiven Eiszuwachs zeige und die Schmelzsaison 2017 abzuwarten bleibe. Auch sage die Grafik nichts über den allgemeinen Trend aus, dazu könnten nur Langzeitbetrachtungen herangezogen werden. Und diese zeigten den Trend des schwindenden Eises.

C. Trotz zweimaliger Aufforderung nahm die BaZ zur Beschwerde nicht Stellung.

D. Am 8. November 2017 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 5. Dezember 2018 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Ziffer 1 der «Erklärung» verlangt von Journalistinnen und Journalisten, dass sie sich an die Wahrheit halten ohne Rücksicht auf die sich für sie ergebenden Folgen. Sie lassen sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten, die Wahrheit zu erfahren. Der Beschwerdeführer wirft Autor Feusi hauptsächlich vor, ein unvollständiges Bild zu zeichnen und insbesondere nicht darauf hinzuweisen, dass die Grafik keinen effektiven Zuwachs darstelle, sondern erst die Schmelzsaison 2017 abgewartet werden müsste. Damit suggeriere der Autor, dass die Eismasse Grönlands nicht bedroht sei, sondern gar zulege. X. sagt somit nicht, Feusi behaupte, die Eismasse nehme nicht ab, sondern lege im Gegenteil zu. Aber er suggeriere dies.

Für den Presserat gibt bereits der Titel den Klimawandel-skeptischen Tenor des Artikels vor: «‹Grönland schmilzt› – oder doch nicht». Der Autor wirft vor allem Fragen auf: Auf welchen Annahmen beruht die Aussage von Konrad Steffen, durch das Abschmelzen könne der weltweite Meeresspiegel bis zum Jahr 2100 um «bis zu einem Meter» ansteigen? Er fragt weiter, wie viel Eis genau schmilzt. Die von Steffen genannte Zahl stellt Feusi nicht in Frage, wohl aber dessen Vergleich mit den Alpen. Die Prognose von Steffen und der Moderatoren von SRF, wonach Grönland «schmelze», treffe noch sehr lange nicht ein, denn auch in mehreren tausend Jahren dürfte es noch Eis in Grönland geben, schreibt Feusi. Und er fragt, ob der Klimawandel menschgemacht oder natürlich sei. Hingegen sagt er nicht eindeutig, Grönland «schmelze nicht».

Zur Grafik: Der Beschwerdeführer macht auch hier nicht geltend, sie sei falsch, sondern er erklärt, sie stelle keinen effektiven Zuwachs dar, weil es sich um eine Momentaufnahme handle. Die Grafiken sind überschrieben mit «Veränderung des Grönlandeises 2017 – 1. September 2016 bis 27. Juni 2017». Die Grafik linkerhand ist untertitelt mit «Kumulierte Oberflächenmassenbilanz, Wasseräquivalent (mm)», die Grafik rechterhand mit «Abweichung der kumulierten Oberflächenmassenbilanz, Wasseräquivalent (mm)». Damit ist klar, dass es sich nicht um eine Bilanz über ein ganzes Jahr handelt. Auch die Quelle wird genannt (Xavier Fettweis). Die Bildunterschrift lautet: «Das Eis wächst. Die Karte links zeigt die Zunahme in Millimeter des Grönlandeises, die Karte rechts die Veränderung zum Vorjahr.» Die Grafik ist also nicht falsch; eine Verletzung der Wahrheitspflicht (Ziffer 1 der «Erklärung») ist somit nicht nachgewiesen.

2. Der Beschwerdeführer rügt weiter eine Verletzung von Ziffer 2 der «Erklärung». Diese verlangt von Journalisten, dass sie die Freiheit der Information verteidigen, die sich daraus ergebenden Rechte, die Freiheit des Kommentars und der Kritik sowie die Unabhängigkeit und das Ansehen ihres Berufs. X. macht geltend, der Text müsste als Meinung oder Kommentar gekennzeichnet sein, sodass Leser einschätzen könnten, ob sie Feusis Ausführungen vertrauen wollen oder nicht.

Der Presserat teilt die Einschätzung des Beschwerdeführers nicht, wonach Feusi in die Rolle des Wissenschaftlers schlüpfe und dabei Aussagen treffe, die ihm nicht zustünden. Der Autor argumentiert vorwiegend politisch und wertet Klimaforscher Steffens TV-Auftritt bzw. dessen Aussagen am Radio sowie Bundesrätin Leuthards Grönland-Besuch als politische PR-Massnahme zur Unterstützung der bundesrätlichen Klimapolitik. Diese Kritik bzw. Feusis Einschätzung der Sendungen von SRF ist durchaus zulässig. In Erinnerung zu rufen ist in diesem Zusammenhang auch, dass der Journalistenkodex von Medienschaffenden keine Objektivität verlangt. Für die Leser ist zudem klar, wo der Autor kommentiert und wo es um Fakten geht. Ziffer 2 der «Erklärung» ist somit nicht verletzt.

3. Ziffer 3 der «Erklärung» verpflichtet Journalisten, nur Informationen, Dokumente, Bilder und Töne zu veröffentlichen, deren Quellen ihnen bekannt sind. Sie unterschlagen keine wichtigen Elemente von Informationen und entstellen weder Tatsachen, Dokumente, Bilder und Töne noch von anderen geäusserte Meinungen. Der Beschwerdeführer führt Ziffer 3 im Zusammenhang mit der Grafik an und wirft dem Autor vor, er mache nicht deutlich, dass es sich dabei um eine Momentaufnahme handle und die BaZ unterschlage wichtige Elemente, wie die Grafik zu lesen sei. Der Presserat gibt dem Beschwerdeführer insofern recht, als auch er der Meinung ist, dass die Grafik journalistisch ungenügend erklärt und eingebettet ist. Die wesentlichen Informationen, wie sie zu interpretieren ist, werden dem Leser jedoch vermittelt. Es werden keine wichtigen Informationselemente unterschlagen. Die Tatsache, dass eine korrekte Interpretation für den Leser schwierig ist, reicht nicht für eine Verletzung. Dazu kommt, dass die Bildunterschrift unter dem nebenan stehenden Foto von Keystone lautet: «Nichts Neues. Es gibt Hinweise, dass sich der Fluss des Eises in Grönland beschleunigt. Wie das passiert und wieso ist nicht vollständig geklärt.» Im Ergebnis belegt somit auch diese Grafik nicht, dass die BaZ unwahr berichtet bzw. die Eisschmelze negiert oder wesentliche Informationselemente unterschlagen würde. Ziffer 3 der Erklärung ist nicht verletzt.

4. Der Beschwerdeführer hat von der BaZ eine Berichtigung verlangt: Sie müsse klargestellen, dass die Grafik keinen effektiven Eiszuwachs zeige und die Schmelzsaison 2017 abzuwarten bleibe. Auch sage die Grafik nichts über den allgemeinen Trend aus, das könnten nur Langzeitbetrachtungen. Und diese zeigten den Trend des schwindenden Eises.

Ziffer 5 der «Erklärung» verlangt von Journalistinnen und Journalisten, dass sie jede Meldung berichtigen, deren materieller Inhalt sich ganz oder teilweise als falsch erweist. Wie oben dargestellt, lässt sich im kritisierten Artikel eine falsche Berichterstattung nicht nachweisen. Ziffer 5 der «Erklärung» ist somit nicht verletzt.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. Die «Basler Zeitung» hat mit dem Artikel «‹Grönland schmilzt› – oder doch nicht» vom 9. August 2017 Ziffer 1 (Wahrheitsgebot), 2 (Freiheit der Information, des Kommentars und der Kritik sowie Unabhängigkeit), 3 (Unterschlagen wichtiger Informationselemente) und 5 (Berichtigung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.