Nr. 45/2022
Wahrheitssuche / Trennung von Fakten und Kommentar

(X. c. «Weltwoche»)

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Zusammenfassung

Der Schweizer Presserat hat eine von gut 300 Mitunterzeichnenden eingereichte Beschwerde eines Journalisten abgewiesen. Die Beschwerde richtete sich gegen einen in der «Weltwoche» veröffentlichten Artikel von Hubert Mooser. Dieser beschäftigte sich kritisch mit der SRF-Berichterstattung am ersten Tag des Einfalls russischer Truppen in die Ukraine. Der Artikel kritisierte insbesondere, dass die SRF-Korrespondentin Luzia Tschirky an einer Ausfahrtsstrasse über den Ausbruch des Krieges in der Ukraine berichtet und dabei eine schusssichere Weste getragen habe, obwohl sie weder mitten im Kugelhagel gestanden habe noch in Kiew zu diesem Zeitpunkt geschossen worden sei.

Der Beschwerdeführer monierte, dass sich Moosers «abschätziger Kommentar» auf eine ungenügende Grundlage oder gar auf eine blosse Vermutung stütze. Der Artikel entstelle damit die reale Sicherheitsgefahr für Tschirky – der Autor habe es unterlassen, den genauen Standort Luzia Tschirkys zu eruieren.

Der Presserat hat die Beschwerde abgewiesen, weil er in Betracht gezogen hat, dass die Lage vor Ort am 24. Februar 2022 während laufender Ereignisse durchaus verworren und der Artikel für das Publikum klar als subjektiv verfasster Meinungsbeitrag erkennbar war. Er hält jedoch fest, dass aus berufsethischer Sicht solche Kommentare über die gefährliche Arbeit von Medienschaffenden in Kriegs- und Konfliktgebieten zynisch und unangebracht sind.

Résumé

Le Conseil suisse de la presse a rejeté la plainte d’un journaliste et de ses plus de 300 cosignataires. La plainte visait un article d’Hubert Mooser publié dans la «Weltwoche». L’article en question était très critique vis-à-vis du traitement journalistique par SRF de l’invasion de l’Ukraine par les troupes russes. Il décriait en particulier le fait que la correspondante de SRF Luzia Tschirky soit postée sur une route d’accès pour rendre compte du début de la guerre en Ukraine et porte un gilet pare-balles alors qu’elle ne se trouvait pas au milieu des tirs et que Kiev, à ce stade, n’était pas encore touchée.

Le plaignant a déploré que le commentaire méprisant d’Hubert Mooser reposait sur des bases insuffisantes voire sur de simples présomptions. Selon lui, l’article donnait une fausse impression du danger réel que courait Luzia Tschirky, puisque l’auteur ne s’était pas donné la peine de déterminer l’emplacement exact d’où elle s’exprimait.

Le Conseil suisse de la presse a rejeté la plainte, considérant que la situation sur place le 24 février 2022, au milieu des événements, était confuse et que l’article d’Hubert Mooser était clairement reconnaissable comme l’expression de son opinion subjective. Il constate néanmoins, au regard de l’éthique professionnelle, que ce genre de commentaires sur la dangerosité du travail des journalistes dans les zones de guerre et de conflit sont cyniques et inadéquats.

Riassunto

Il Consiglio svizzero della stampa ha respinto un reclamo con oltre 300 firmatari presentato da un giornalista. La protesta era diretta contro un articolo di Hubert Mooser, pubblicato sulla «Weltwoche», il quale criticava il resoconto dell’SRF sul primo giorno d’invasione dell’Ucraina da parte delle truppe russe. L’articolo biasimava in particolare il fatto che la corrispondente dell’SRF Luzia Tschirky informasse dello scoppio della guerra in Ucraina da una strada d’uscita e indossando un giubbotto antiproiettile, sebbene non si trovasse sotto una pioggia di proiettili né, in quel momento, a Kiev fosse ancora stato sparato nessun colpo.

Il reclamante si è lamentato del fatto che il «commento denigratorio» di Mooser si fondasse su una base insufficiente o addirittura su di una mera supposizione. L’articolo avrebbe quindi distorto la reale minaccia alla sicurezza di Luzia Tschirky, avendo inoltre l’autore omesso di verificare l’esatta posizione di quest’ultima.

Il Consiglio della stampa ha respinto il reclamo poiché ha tenuto conto del fatto che il 24 febbraio 2022, durante lo svolgersi degli eventi la situazione era piuttosto confusa e che l’articolo era chiaramente riconoscibile dal pubblico come un pezzo d’opinione scritto in modo soggettivo. Tuttavia, il Consiglio della stampa afferma che dal punto di vista dell’etica professionale questo genere di commenti riguardanti il pericoloso lavoro dei giornalisti nelle zone di guerra e di conflitto sono cinici e inappropriati.

I. Sachverhalt

A. Am 24. Februar 2022 erschien unter dem Titel «Die SRF-Korrespondentin Luzia Tschirky berichtet in Schutzweste an einer Ausfahrtsstrasse über den Ausbruch des Krieges in der Ukraine – als stünde sie mitten im Kugelhagel» in der «Weltwoche» ein kurzer Artikel von Hubert Mooser. Der Artikel fokussiert auf die Person von Luzia Tschirky und ist begleitet von einer grossformatige Stillfotografie des Fernsehberichts, welche die SRF-Korrespondentin mit SRF-Mikrofon und Wollstirnband am Strassenrand vor einer Autokolonne zeigt. Im Hintergrund ist ein blaues Strassenschild zu sehen mit dem Hinweis auf die Ortschaften «Koroste[n], Sarny, Kovel». Luzia Tschirky trägt eine Schutzweste mit der Aufschrift «PRESS».

Im Text äussert sich Hubert Mooser kritisch zur Berichterstattung von SRF zum «Ukraine-Konflikt» am ersten Tag des Einfalls russischer Truppen in die Ukraine («nicht gerade berauschend»). Der mit Gebühren finanzierte Sender SRF habe erst um 8.30 Uhr morgens eine erste Sondersendung geschaltet, obwohl diese schon frühmorgens angekündigt worden sei. Die Russland-Korrespondentin habe sich mit Schilderungen über eine schlaflose Nacht, zwitschernde Vögel und Explosionen in der Ferne durch das Geschehen «gewurstelt». Zudem habe Tschirky eine schusssichere Weste getragen, obwohl sie weder mitten im Kugelhagel gestanden habe und in Kiew zu diesem Zeitpunkt gar nicht geschossen worden sei. Die Explosionen hätten sich im Norden an der Grenze zu Weissrussland ereignet. Moosers Artikel gipfelt in der Kritik an einer «Inszenierung» Tschirkys und dem Verdikt, dass die Situation schon dramatisch genug sei und nicht noch zusätzlich angeheizt werden müsse.

B. Am 24. Februar 2022 reichte X. beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen den in der «Weltwoche» veröffentlichten Artikel von Hubert Mooser ein. Seine Beschwerde wird sekundiert von gut 300 Mitunterzeichnenden, deren Namen der Beschwerde angehängt sind. Der Artikel verletze die Richtlinien 1.1 (Wahrheitssuche) und 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar). Der Presserat habe in seinen Stellungnahmen eine berufsethische Haltung entwickelt, die der im Journalistenkodex verbrieften Kommentarfreiheit Grenzen setze. Auch polemische Kommentare bedürften als Grundlage einer Wahrheitssuche. Fakten und kommentierende Wertungen müssten klar erkennbar sein.

Mooser habe auf eine Wahrheitssuche verzichtet oder es unterlassen, die Ergebnisse seiner Recherche offenzulegen. Der Beschwerdeführer verweist auf die Möglichkeit einer Analyse von öffentlichen Kartendiensten, um den exakten Standort von Luzia Tschirky zu eruieren. Tschirky hätte sich nämlich 7,6 Kilometer nordwestlich der Kiewer Antonow-Werke aufgehalten, einem Unternehmen, das auch militärische Flugzeuge produziere und auch über einen Flugplatz verfüge. Die russischen Streitkräfte hätten am Morgen des 24. Februar 2022 kommuniziert, solche Standorte würden angegriffen.

Der Beschwerdeführer macht geltend, dass sich Moosers «abschätziger Kommentar» auf eine ungenügende Grundlage oder gar auf eine blosse Vermutung stütze und damit die Situation und die reale Sicherheitsgefahr für Tschirky entstelle. Tschirky habe in ihrem Bericht über Explosionen berichtet, die sie frühmorgens in ihrem Kiewer Hotel gehört habe. Und sie habe im Textinterview auf der Webseite von SRF diese Informationen auch noch präzisiert, indem sie darauf hingewiesen habe, dass die Explosionen, die sie gehört hatte, nicht im Zentrum von Kiew, sondern ausserhalb des Zentrums stattgefunden hätten. Moosers Aussage gegen Schluss seines Artikels, dass sich die Explosionen an der Grenze zu Weissrussland ereignet hätten, würden Tschirkys Aussagen in der Liveschaltung und im Textinterview entstellen.

C. Am 15. März 2022 forderte die Geschäftsführerin des Presserats die Chefredaktion der «Weltwoche» auf, sich bis 22. April 2022 zur Beschwerde zu äussern. Nachdem eine Beschwerdeantwort ausgeblieben war, erfolgte am 4. Mai 2022 abermals die Bitte um eine Beschwerdeantwort bis zum 20. Mai 2022 und der Hinweis, dass der Presserat bei Ausbleiben davon ausgeht, dass die «Weltwoche» auf eine Beschwerdeantwort verzichtet. Eine Beschwerdeantwort blieb aus.

D. Das Präsidium des Presserats wies die Beschwerde seiner 3. Kammer zu, bestehend aus Jan Grüebler (Präsident), Annika Bangerter, Monika Dommann, Christina Neuhaus, Simone Rau, Pascal Tischhauser und Hilary von Arx.

E. Die 3. Kammer hat die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 7. September 2022 und auf dem Korrespondenzweg behandelt.

II. Erwägungen

1. Der Presserat hat zu prüfen, ob die «Weltwoche» im Artikel «Die SRF-Korrespondentin Luzia Tschirky berichtet in Schutzweste an einer Ausfahrtsstrasse über den Ausbruch des Krieges in der Ukraine – als stünde sie mitten im Kugelhagel» die zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» gehörenden Richtlinien 1.1 (Wahrheitssuche) und 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) verletzt habe.

2. Zu Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche): Diese hält fest, dass die Wahrheitssuche den Ausgangspunkt der Informationstätigkeit darstellt. Diese setzt die Beachtung verfügbarer und zugänglicher Daten, die Achtung der Integrität von Dokumenten, die Überprüfung und die allfällige Berichtigung voraus. Zu klären ist die Frage, ob Mooser seiner journalistischen Pflicht nachgekommen ist, indem er sich genügend um Klärung der Faktenlage bemüht hat. Mooser schreibt, dass Tschirky keineswegs mitten im Kugelhagel gestanden sei. Er behauptet, dass zu diesem Zeitpunkt in Kiew gar nicht geschossen worden sei, und dass die Explosionen, die Tschirky im Bericht erwähnt, im Norden an der Grenze zu Weissrussland stattgefunden hätten. Er suggeriert, dass sich Tschirky an einem sicheren Ort aufgehalten habe und bezichtigt sie einer «Inszenierung mit der schusssicheren Weste». Alle Faktenaussagen von Mooser sind, falls überprüfbar, nicht falsch.

Da die «Weltwoche» zur Beschwerde keine Stellung genommen hat, ist nicht klar, ob und wie viel Mühe sich Mooser bei der Suche nach der Wahrheit gemacht hat. Angesichts der Tatsache, dass die Situation in den ersten Stunden des Ukrainekriegs am 24. Februar 2022 unübersichtlich war, wäre ein Einholen von verfügbaren Informationen wünschenswert gewesen. Leicht in Erfahrung bringen können hätte Mooser etwa, dass Tschirky zu diesem Zeitpunkt wenige Kilometer vom Kriegsgeschehen entfernt war. Dennoch ist auch in Betracht zu ziehen, dass der Artikel während laufender Ereignisse gleichsam mit heissen Nadeln gestrickt wurde und dass die Lage zu diesem Zeitpunkt verworren war. Deshalb ist Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) nicht verletzt.

3. Zu Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar): Moosers Artikel ist nicht explizit als Kommentar gekennzeichnet, jedoch für das Publikum (gerade auch in seinem polemischen und hämischen Charakter) klar als subjektiv verfasster Meinungsbeitrag erkennbar. Es handelt sich um eine unter dem persönlichen Eindruck während den laufenden Ereignissen verfasste Kritik an der Arbeit von Luzia Tschirky. Obwohl es nicht geschadet hätte, auch in den hektischen ersten Stunden des Ukrainekriegs zumindest die in Medien verfügbaren Informationen in die Einschätzung einzubeziehen, gewichtet der Presserat die Freiheit des Kommentars und der Kritik als sehr hoch. Deshalb ist Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) nicht verletzt worden.

Der Presserat hält jedoch fest, dass es aus berufsethischer Sicht äusserst bedenklich ist, dass eine Journalistin, die aus einem Kriegsgebiet berichtet und sich mit einer Schussweste vor möglichen Angriffen schützt, von einem Kollegen vom Schreibtisch aus dafür kritisiert wird. Zudem ist der Presserat der Ansicht, dass das Tragen einer schusssicheren Weste nicht nur Sinn macht, wenn man sich mitten im Kugelhagel befindet. Gerade vor dem Hintergrund, dass in Kriegs- und Konfliktgebieten immer wieder Journalistinnen und Journalisten bei der Arbeit getötet werden, ist eine solche Kritik zynisch und unangebracht.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. Die «Weltwoche» hat mit dem Artikel «Die SRF-Korrespondentin Luzia Tschirky berichtet in Schutzweste an einer Ausfahrtsstrasse über den Ausbruch des Krieges in der Ukraine – als stünde sie mitten im Kugelhagel» vom 24. Februar 2022 die Ziffern 1 (Wahrheit) und Ziffer 2 (Trennung von Fakten und Kommentar) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.