Nr. 43/2023
Identifizierung

(X. c. «Südostschweiz»)

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I. Sachverhalt

A. Am 20. Februar 2023 veröffentlichte die «Südostschweiz» einen Artikel mit dem Titel «Chefärztin steht wegen laschen Umgangs mit Corona vor Gericht», gezeichnet von Daniel Fischli. Es handelt sich um eine Gerichtsreportage. Die Chefärztin einer Reha-Klinik in Braunwald soll zwischen Ende April und Ende Juni 2021 das Corona-Schutzkonzept nicht umgesetzt haben, weder Personal noch PatientInnen hätten Masken tragen müssen. Die Ärztin selber habe zudem wiederholt die damals geltende Maskentragpflicht missachtet. Ihre Arbeitgeberin Zurzach Care hätte gegenüber den Medien und dem Gericht unterschiedliche Aussagen gemacht: Zuerst hiess es, die Chefärztin habe für die Masken einen ärztlichen Dispens, dann wiederum, es liege keiner vor. Bereits im August 2020 hätten die «Glarner Nachrichten» darüber berichtet, dass die Ärztin ohne Maske in der Braunwaldbahn unterwegs war. Die Unternehmensleitung äusserte sich damals dazu und gab an, die Ärztin habe einen Dispens von der Maskenpflicht. Die «Südostschweiz» führt weiter aus, im Mai 2021 seien 20 Prozent der PatientInnen der Klinik positiv auf Corona getestet worden. Bei einer behördlichen Kontrolle seien diverse gravierende Mängel entdeckt worden, woraufhin der Kanton Glarus die Chefärztin angezeigt habe. Die Ärztin, die im Text nicht namentlich genannt wird, habe von der Glarner Staatsanwaltschaft einen Strafbefehl erhalten – eine Busse von 1000 Franken – den sie angefochten habe. Vor Gericht habe sie argumentiert, sie habe nicht gewusst, dass sie die Verantwortung für das Corona-Schutzkonzept trage. Ihrer Ansicht nach sei die Unternehmensleitung in Zurzach dafür zuständig gewesen. Laut dem Journalisten sei auf der Webseite der Klinik in Braunwald allerdings nur eine einzige Person mit Namen, Bild und der Bezeichnung «medizinische Leitung» aufgeführt: die beschuldigte Ärztin. Der Journalist beschreibt in seiner Reportage auch den Verteidiger: Der Anwalt sei öffentlich als Gegner von Corona-Massnahmen aufgetreten und lasse sich auf Youtube über bundesrätliche Lügen, Panikmache aus, behaupte dort, Maskentragen sei gesundheitsschädlich. Im Text wird nicht erwähnt, welches Urteil das Gericht fällte, dieses wurde erst nach dessen Erscheinen schriftlich eröffnet. In einem Nebentext kommt die Unternehmensleitung von Zurzach Care zu Wort. Sie betont, dass in der Klinik jederzeit eine Maskentragepflicht gegolten habe.

B. Am 6. März und ergänzend am 19. März 2023 reichte X. Beschwerde gegen den Artikel in der «Südostschweiz» beim Schweizer Presserat ein. Er macht einen Verstoss gegen Richtlinie 7.2 (Identifizierung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung») geltend. Die Regeln zur Anonymisierung seien nicht genug beachtet worden. Der Hinweis, die Ärztin sei als einzige Person mit Bild und Namen auf der Klinikwebseite aufgeführt, mache ihre Identifizierung leicht. Der Artikel verstosse zudem gegen Richtlinie 7.4 (Unschuldsvermutung) der «Erklärung». Der Zwischentitel «Ohne Maske in der Bahn» sei eine Vorverurteilung, denn die Frau habe dafür ein Attest gehabt. Dieser Vorfall habe ausserdem nichts mit der Gerichtsverhandlung, über die berichtet werde, zu tun. Dass sich ihr Rechtsvertreter mit ähnlichen Verfahren einen Namen gemacht habe, werde negativ ausgelegt, gewisse Formulierungen würden der Unschuldsvermutung nicht gerecht. Etwa: «Anwalt mit besonderem Profil» sowie der Zwischentitel «Sie will nicht zuständig sein» in Bezug auf das Schutzkonzept. Letzteres sei auch ein Verstoss gegen Richtlinie 2.3 (Trennung Fakten und Kommentar): Es werde damit impliziert, dass die Betreffende tatsächlich zuständig sei, was doch eben die Frage sei, die das Gericht erst zu klären habe.

C. Am 28. April 2023 nahm Chefredaktor Reto Furter für die «Südostschweiz» zur Beschwerde Stellung und beantragte deren Abweisung. Richtlinie 7.2 (Identifizierung) sei dann nicht verletzt, wenn die Person eine gesellschaftlich leitende Funktion wahrnehme und der Medienbericht damit in Zusammenhang stehe oder es ein überwiegendes öffentliches Interesse gebe. Dies sei bei Schutzmassnahmen im Gesundheitswesen der Fall. Ferner sei eine identifizierende Berichterstattung auch dann notwendig, wenn damit für Dritte nachteilige Verwechslungen vermieden würden. Auch das sei gegeben. Auch Richtlinie 7.4 (Unschuldsvermutung) werde nicht verletzt. Die Vorverurteilungen, die der Beschwerdeführer in den drei Zwischentiteln «Ohne Maske in der Bahn», «Sie will nicht zuständig sein» und «Anwalt mit besonderem Profil» erkennen wolle, seien keine. Die Zwischentitel gäben den Inhalt des jeweiligen Abschnitts zwar konzentriert, aber korrekt wieder. Im Text habe der Autor die Aussagen jeweils explizit relativiert – durch die Erwähnung des Maskendispens’, durch die von der Chefärztin selbst gemachte Aussage, sie sei formal für das Konzept zuständig gewesen sowie durch die belegten Aussagen und Ansichten des Anwalts. Schliesslich gebe es keine Verletzung der Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar). Der Zwischentitel «Sie will nicht zuständig sein» müsse nicht zwingend die Meinung des Autors wiedergeben, es sei vielmehr ein Zitat aus dem Mund des Verteidigers der Chefärztin: Diese habe «nicht gewusst, dass sie die Verantwortung getragen haben soll». Die Aussage, der Anwalt sei an Veranstaltungen von MassnahmegegnerInnen aufgetreten, sei nicht wertend, sondern einordnend.

D. Am 23. Mai 2023 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde gemäss Artikel 13 Abs. 1 seines Geschäftsreglements vom Präsidium behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Jan Grüebler, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin.

E. Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 22. Dezember 2023 verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Gemäss Richtlinie 7.2 der «Erklärung» wägen JournalistInnen die beteiligten Interessen (Recht der Öffentlichkeit auf Information, Schutz der Privatsphäre) sorgfältig ab. Unter bestimmten Voraussetzungen ist eine identifizierende Berichterstattung zulässig, so wenn die Betroffenen eine gesellschaftlich leitende Funktion einnehmen und in diesem Zusammenhang über sie berichtet wird. Dies ist vorliegend der Fall: Eine Chefärztin und Klinikdirektorin hat eine gesellschaftlich leitende Funktion inne. Auch das öffentliche Interesse an einem Bericht über die Corona-Schutzmassnahmen in einer Reha-Klinik ist gegeben. Es muss in einem Text, in dem es um die Verantwortung einer Chefärztin geht, möglich sein, deren Funktion zu nennen. Richtlinie 7.2 zur «Erklärung» ist somit nicht verletzt.

2. Richtlinie 7.4 (Gerichtsberichterstattung; Unschuldsvermutung und Resozialisierung) verlangt von JournalistInnen, dass sie der Unschuldsvermutung Rechnung tragen. Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, dass der Anwalt in Kreisen von MassnahmegegnerInnen verkehrt, diese schon vor Gericht vertreten hat und die erwähnten Aussagen auf Youtube macht. Sie sind zudem durch die erwähnten Videos belegt. Diese Tatsachen als «besonderes Profil» zu bezeichnen, tangiert die Unschuldsvermutung nicht. Was die Ärztin angeht, macht der Beschwerdeführer geltend, auch sie werde durch zwei Zwischentitel vorverurteilt. Die Aussagen in beiden Zwischentiteln entsprechen den Tatsachen und werden zudem in den direkt nachfolgenden Textteilen erläutert und eingeordnet. Auch in Bezug auf die Ärztin ist die Unschuldsvermutung nicht berührt. Richtlinie 7.4 zur «Erklärung» ist nicht verletzt.

3. Gemäss Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) muss das Publikum zwischen Fakten und kommentierenden, kritisierenden Einschätzungen unterscheiden können. Die vom Beschwerdeführer kritisierten Zwischentitel («Ohne Maske in der Bahn», «Sie will nicht zuständig sein» und «Anwalt mit besonderem Profil») verkürzen zwar den Inhalt der darauffolgenden Passagen, geben aber den Sachverhalt korrekt wieder. Die Ärztin sagte, sie habe gedacht, sie sei nicht zuständig. Und sie fuhr ohne Maske in der Bahn. Das sind Fakten, keine Kommentare. Richtlinie 2.3 zur «Erklärung» ist ebenfalls nicht verletzt.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2.
Die «Südostschweiz» hat mit dem Beitrag «Chefärztin steht wegen laschen Umgangs mit Corona vor Gericht» vom 20. Februar 2023 die Ziffern 2 (Trennung von Fakten und Kommentar) und 7 (Identifizierung; Unschuldsvermutung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.