Nr. 43/2020
Wahrheit / Berichtigung / Autorisierung

(X. c. «20 Minuten»)

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I. Sachverhalt

A. Am 26. Juni 2019 veröffentlichte «20 Minuten» den Onlineartikel «Man nimmt in Kauf, dass Kinder kollabieren» sowie am 27. Juni 2019 den Printartikel «Schüler müssen trotz Hitze Papier einsammeln gehen», beide verfasst von Maria Kafantari. Inhalt beider Artikel ist die Papiersammlung der Primarschüler der Gemeinde Lohn-Ammannsegg SO. Diese würde am heissesten Tag der Woche, vom Morgen bis am Mittag während vier Stunden stattfinden. Einige Eltern seien entsetzt; ein Vater sagt, man nehme effektiv in Kauf, dass Kinder kollabieren würden. Noch vor Beginn der Papiersammlung hätten sich die Eltern zusammengetan und die Schule kontaktiert. Die Schulleitung habe die Papiersammlung jedoch weder absagen noch verschieben wollen. Ebenfalls sei das Angebot einiger Eltern, die Kinder mit dem Auto bei der Papiersammlung zu unterstützen, abgelehnt worden.

Der Schulleiter der Schule Lohn-Ammannsegg habe versichert, die Sorgen der Eltern würden ernst genommen. Es werde ein Wasserdepot geben, auch für Schattenplätze sei gesorgt. Ausserdem habe die Schule Gemeindearbeiter angefragt, die bei der Sammlung helfen sollen, damit die Schüler entlastet und frühzeitig fertig würden. Die Lehrpersonen hätten die Schüler angewiesen, sich mit entsprechender Kleidung zu schützen. Eine kurzfristige Absage oder Verschiebung sei nicht möglich, da die Organisation eine logistische Herausforderung sei und die Daten seit fast einem Jahr feststünden. Den Kindern wolle man zeigen, wie man mit einer Hitzewelle umgehen könne.

B. Am 9. August 2019 reichte X., der Schulleiter der Schule Lohn-Ammannsegg, beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen die Artikel vom 26. respektive 27. Juni 2019 ein. Er rügt die Verletzung von Ziffer 1 (Wahrheit), 3 (Quellenbearbeitung) und 5 (Berichtigung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») sowie der dazugehörenden Richtlinien 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) und 4.6 (Recherchegespräche). Die Autorin des Artikels habe sich in seinen Augen nur mangelhaft bemüht, die Wahrheit zu erfahren. Die Aussagen des Vaters stünden unwidersprochen als «Wahrheit» da. Da sie ihn im Telefongespräch vom 25. Juni 2019 nicht auf diese Vorwürfe angesprochen habe, gehe er davon aus, sie habe angenommen, die Aussagen des Vaters entsprächen der Wahrheit.

Weiter führt X. aus, die Autorin habe sich nicht sicher sein können, dass die Aussagen des Vaters zuträfen, ohne dass er als Schulleiter damit konfrontiert werde. Es genüge nicht, wenn aus dem Text ersichtlich werde, wer diese Aussagen gemacht habe. Es müsste klar stehen, was die Schulleitung dazu sage. Wenigstens müsste stehen, dass die Schulleitung dazu keine Stellung habe nehmen können. Obwohl er die Autorin noch am Tag der Online-Veröffentlichung kontaktiert habe und klarstellte, dass gewisse Aussagen des Vaters so nicht stimmen würden, sei der Artikel dennoch tags darauf mit demselben Wortlaut abgedruckt worden.

Das Fairnessprinzip sieht der Beschwerdeführer dadurch verletzt, dass er sich nicht zum Vorwurf äussern konnte, ein Angebot zur Mithilfe von Eltern abgelehnt zu haben. Ebenso wenig sei er von der Redaktion gefragt worden, was die Schule zum Vorwurf, sie habe ein Kollabieren von Schülern in Kauf genommen, zu entgegnen habe. Zu Richtlinie 4.6 (Recherchegespräch) hält der Beschwerdeführer fest, im Telefongespräch vom 25. Juni 2019 habe die Journalistin nie erwähnt, sie gedenke einen Artikel zu schreiben. Sie habe ihm lediglich gesagt, sie habe eine Mail erhalten und wolle dies nachprüfen. Sie habe ihn auch nicht gesagt, dass er eine Autorisierung verlangen dürfe; folglich sei ihm der Artikel auch nicht zum Gegenlesen vorgelegt worden.

C. Am 25. September 2019 nahm die Rechtskonsulentin der Tamedia im Namen von «20 Minuten» zur Beschwerde Stellung. Sie schliesst auf vollständige Abweisung. Zum Vorwurf, Ziffer 1 der «Erklärung» sei verletzt, führt sie aus, der Beschwerdeführer habe keinen Anspruch darauf, dass einzig seine Ansicht im Artikel Niederschlag finde, selbst wenn er der Ansicht sei, dass nur seine Meinung zutreffe. Die Besorgnis des Vaters sei eine Tatsache. Dass er sich Sorgen gemacht habe, sei wahr, auch wenn sie aus Sicht des Beschwerdeführers unbegründet gewesen sei. Es gehe somit nicht um «Wahrheit oder Unwahrheit». Dass diese Meinung unwidersprochen dastehe, treffe keineswegs zu. Im gesamten Text würden die Meinungen der Eltern und des Schulleiters in ausgeglichener Weise dargestellt. So behandle etwa die Hälfte des Textes die Aussagen von X. Es werde deutlich, dass die Schule Massnahmen getroffen habe. Die Besorgnis des Vaters stehe folglich nicht unkommentiert im Text.

Zum Zeitpunkt des Telefongesprächs mit dem Beschwerdeführer sei noch nicht klar gewesen, welche Zitate im Artikel verwendet würden. Der Journalistin seien Meldungen von Eltern vorgelegen, welche sich um die Gesundheit ihrer Kinder sorgten. Über diese Meldungen habe sie den Schulleiter im Detail informiert; der Inhalt sei ihm paraphrasiert worden. Dies genüge, um Stellung zu beziehen. Auch habe er zur Besorgnis um die Gesundheit und Sicherheit Stellung genommen, indem er gesagt habe, er nehme die Bedenken der Eltern ernst, aber es bestehe kein Grund zur Sorge, da für die Sicherheit der Kinder gesorgt sei. Die Sorgfaltspflicht sei nicht verletzt.

Ziffer 3 der «Erklärung» stelle sicher, dass nur bekannte Quellen verwendet würden. Die Aussagen der Eltern seien der Redaktion bekannte Quellen. Dass die Namen der Eltern weder im Artikel erwähnt noch dem Beschwerdeführer mitgeteilt worden seien, verletze Ziffer 3 der «Erklärung» nicht. Der Quellenschutz schütze Quellen nicht nur vor Publikation, sondern auch davor, anderen involvierten Personen preisgegeben zu werden. Dadurch, dass der Titel in Anführungszeichen stehe, sei klar, dass es sich um die Aussage einer Person handle und nicht um einen Schluss, welchen «20 Minuten» gezogen habe. Beim Zitat handle es sich um die Ansicht des Vaters, welche nicht bestätigt oder unbestätigt sein könne. Dass X. die Meinung des Vaters nicht teile, werde im Artikel ebenfalls klar.

Zur Berichtigungspflicht gemäss Ziffer 5 der «Erklärung» legt die Redaktion dar, dass wenn die Wahrheitspflicht nicht verletzt sei, so sei auch die Berichtigungspflicht nicht verletzt. X. habe «20 Minuten» eine Stunde, nachdem der Artikel online publiziert worden sei, kontaktiert. Die für den Artikel zuständige Journalistin habe da bereits Feierabend gehabt. Leider habe er seine E-Mail nicht der zuständigen Redaktion, sondern lediglich an die allgemeine Feedback-Adresse geschickt. Bis Redaktionsschluss der Printausgabe habe die E-Mail den Weg nicht zur Regionalredaktion gefunden. Auch habe er nicht versucht, die Journalistin telefonisch zu erreichen, sondern er habe in seiner E-Mail angekündigt, dies am darauffolgenden Tag zu tun. Als die Journalistin am Folgetag die E-Mail gelesen habe, habe sie ihm umgehend geantwortet und ihren Standpunkt klargestellt.

Zu Richtlinie 3.8 legt «20 Minuten» dar, der Schulleiter sei vor Publikation in einem Telefongespräch mit den Aussagen der Eltern konfrontiert worden. Da noch nicht klar gewesen sei, welche Zitate abgedruckt würden, sei er nicht mit den wörtlichen Aussagen konfrontiert worden. Der sinngemässe Inhalt sei ihm jedoch genau erklärt worden. Der Beschwerdeführer habe problemlos dazu Stellung nehmen können, ohne den genauen Wortlaut der Aussage des schliesslich zitierten Vaters zu kennen.

Auch die Verletzung von Richtlinie 4.6 bestreitet «20 Minuten». Die Journalistin habe sich am Telefon ausdrücklich als solche zu erkennen gegeben und X. gesagt, sie recherchiere für einen Artikel zur Papiersammlung durch Kinder während der Hitzeperiode und gedenke, einen Artikel dazu zu verfassen. X. sei zu keinem Zeitpunkt das Recht zugestanden, den gesamten Artikel vor Publikation zu lesen. Er habe nur das Recht, zu schweren Vorwürfen Stellung zu nehmen und dass die Zitate der eigenen Aussagen korrekt wiedergegeben würden. Wie «20 Minuten» die Zitate einbette und welche Schlüsse die Redaktion ziehe, liege in ihrer alleinigen Kompetenz. Nur die Zitate der eigenen Aussagen hätte der Beschwerdeführer folglich vor Veröffentlichung überprüfen können. In seiner Beschwerdeschrift führe er jedoch an keiner Stelle an, diese seien unrichtig wiedergegeben worden.

D. Am 11. Oktober 2019 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 26. Juni 2020 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Ziffer 1 der «Erklärung» verlangt von Journalistinnen und Journalisten, dass sie sich an die Wahrheit halten. Sie lassen sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten, die Wahrheit zu erfahren. Sollte sich der materielle Inhalt einer veröffentlichten Meldung ganz oder teilweise als falsch erweisen, berichtigen sie diese (Ziffer 5 der «Erklärung»). Beide Artikel spiegeln sowohl die Ansicht der besorgten Eltern als auch die Erklärungen des Schulleiters in ausgewogener Weise wider. «20 Minuten» hat keine unwahren Behauptungen als wahr bezeichnet, da Zitate unmissverständlich als solche gekennzeichnet wurden. Die Besorgnis der Eltern entsprach aus ihrer Sicht der Wahrheit, genauso wie die Aussage von X., dass die Sorgen der Eltern von der Schule ernst genommen würden auch seiner Wahrnehmung entsprach. Da die Wahrheitspflicht nicht verletzt wurde, besteht auch kein Anspruch auf Berichtigung.

2. Ziffer 3 der «Erklärung» verlangt von Journalisten, dass sie nur Informationen veröffentlichen, deren Quellen ihnen bekannt sind. Die Artikel benennen die Quellen korrekt und kennzeichnen sie als Zitate. Ziffer 3 der «Erklärung» ist somit nicht verletzt.

3. Richtlinie 3.8 räumt Betroffenen ein Recht ein, vor der Publikation schwerer Vorwürfe angehört zu werden. Richtlinie 4.6 verlangt von Journalistinnen und Journalisten, ihre Gesprächspartner über das Ziel des Recherchegesprächs zu informieren. Medienschaffende dürfen Statements ihrer Gesprächspartner bearbeiten und kürzen, soweit dies die Äusserungen nicht entstellt. Der befragten Person muss bewusst sein, dass sie eine Autorisierung der zur Publikation vorgesehenen Äusserungen verlangen darf. Deren Stellungnahme ist bei schweren Vorwürfen im gleichen Medienbericht kurz und fair wiederzugeben.

Unbestritten ist, dass Maria Kafantari den Beschwerdeführer am 25. Juni 2019 telefonisch kontaktierte. Der Beschwerdeführer macht geltend, er sei nicht mit dem Vorwurf konfrontiert worden, ein Angebot zur Mithilfe von Eltern abgelehnt zu haben, ebenso wenig mit dem Vorwurf, man nehme in Kauf, dass Kinder kollabierten. «20 Minuten» führt dazu aus, X. sei vor Publikation mit den Aussagen der Eltern konfrontiert worden. Da zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar gewesen sei, welche Zitate abgedruckt würden, sei er nicht mit den wörtlichen Aussagen konfrontiert worden. Der sinngemässe Inhalt der Aussagen der Eltern sei ihm jedoch genau erklärt worden. Der Beschwerdeführer habe problemlos dazu Stellung nehmen können, ohne den genauen Wortlaut der Aussage des schliesslich zitierten Vaters zu kennen.

Die Pflicht, den Beschwerdeführer zu Vorwürfen anzuhören, besteht in Bezug auf schwere Vorwürfe. Laut Praxis des Presserats wiegt ein Vorwurf schwer, wenn damit ein illegales oder damit vergleichbares Verhalten vorgeworfen wird. Dies ist in Bezug auf den Vorwurf, ein Angebot zur Mithilfe von Eltern abgelehnt zu haben, nicht der Fall. Wie ist der Vorwurf, man nehme in Kauf, dass Kinder kollabierten, zu bewerten? Aus diesem Vorwurf spricht die Sorge von Eltern, die Kinder könnten angesichts der Hitze kollabieren. Wird der Schule damit der Vorwurf gemacht, sie vernachlässige ihre Fürsorgepflicht gegenüber den Kindern? Wenn, dann nur indirekt, weshalb der Presserat diesen Vorwurf nicht als schwer im Sinne seiner Praxis wertet. Er musste der Schule bzw. dem Schulleiter somit nicht im Detail vorgelegt werden.

4. Der Beschwerdeführer bemängelt weiter, die Journalistin habe ihn nicht gefragt, ob ihm bewusst sei, dass er eine Autorisierung seiner Zitate verlangen dürfe. Richtlinie 4.6 verlangt jedoch genau dies. Laut Praxis des Presserats sind Medienunerfahrene bei Recherchegesprächen darauf hinzuweisen, dass sie auf der Autorisierung ihrer Zitate bestehen können. «20 Minuten» bestreitet nicht, den Hinweis unterlassen zu haben, macht jedoch geltend, in seiner Beschwerdeschrift führe der Beschwerdeführer an keiner Stelle an, seine Zitate seien unrichtig wiedergegeben worden. Dies ist nicht massgebend, sondern allein, ob er auf sein Recht, eine Autorisierung seiner Zitate verlangen zu können, aufmerksam gemacht wurde. Dies war nicht der Fall, weshalb Richtlinie 4.6 in Bezug auf den Teilaspekt der Autorisierung verletzt wurde.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

2. «20 Minuten» hat mit den Artikeln «Man nimmt in Kauf, dass Kinder kollabieren» und «Schüler müssen trotz Hitze Papier einsammeln gehen» vom 26. bzw. 27. Juni 2019 Ziffer 4 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» dadurch verletzt, dass der Beschwerdeführer nicht auf sein Recht auf Autorisierung seiner Zitate hingewiesen wurde.

3. Nicht verletzt hat «20 Minuten» die Ziffern 1 (Wahrheitssuche), 3 (Quellenbearbeitung/Anhörung bei schweren Vorwürfen) und 5 (Berichtigung) der «Erklärung».