Nr. 40/2018
Wahrheitspflicht

(Schwanger-Hilfe.ch c. «Ostschweiz am Sonntag»)

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I. Sachverhalt

A. Am 9. Juli 2017 erschien in der «Ostschweiz am Sonntag» ein Artikel mit dem Titel «Abtreibungsgegner wirken im Verborgenen». Der Untertitel lautete: «Viele Anbieter privater Beratungsstellen lehnen Abtreibungen kategorisch ab. Ein Verein mit Sitz im Thurgau lässt sich nicht in die Karten blicken». Das Gesundheitsdepartement des Kantons St. Gallen weise auf die offiziellen wie auch privaten Beratungsstellen für schwangere Frauen in Not hin. Aufgeführt würden jene Angebote, die auch materielle Hilfe anböten. Die weltanschauliche Ausrichtung trete dabei in den Hintergrund. Dass Abtreibungsgegner eher im Verborgenen wirkten, zeige sich am Fall von «Schwanger-Hilfe.ch», einem Verein, der seit Anfang Jahr in der Ostschweiz aktiv sei. Die Organisation wolle weder für noch gegen die Fristenregelung Stellung beziehen und bezeichne ihre Beratungen als «ergebnisoffen». Einzelne Vereinsmitglieder hätten sich jedoch schon gegen Abtreibungen ausgesprochen. So habe Pirmin Müller als Präsident der Jungen SVP Luzern die Fristenlösung abgelehnt und die Initiative «Abtreibungsfinanzierung ist Privatsache» befürwortet. Auch Werner Messmer, der sich als «Botschafter» für den Verein engagiere, sei ein Gegner der Fristenregelung gewesen. Auf die Frage, ob die Vertreter von «Schwanger-Hilfe.ch» Abtreibungsgegner seien, habe dieser geantwortet: «Der Verein ist weder für noch gegen die Fristenregelung, weil die Beratung keine Entscheidung vorwegnimmt.» Die Leiterin der Beratungsstelle St. Gallen äussere sich über Schwanger-Hilfe.ch folgendermassen: «Mich stört, dass sie ihre Haltung nicht deutlich genug deklarieren.» Auf ihrer Webseite schreibe die Institution, sie wolle «Beratung und Hilfe für ungewollt schwangere Frauen … mit einer lebensbejahenden Ausrichtung» anbieten. Dank einer auffallend modernen Website sei der Verein einfach zu finden und mache es besonders jungen Frauen einfach, auch anonym mit der Beratungsstelle in Kontakt zu treten. Gemäss dem Generalsekretär des St. Galler Gesundheitsdepartements würde der Kanton auch private Angebote in seinen Leitfaden aufnehmen, damit die Ratsuchenden letztlich selber entscheiden könnten, von wem sie sich beraten lassen wollen. Die Institutionen müssten aber offenlegen, welchen Hintergrund sie haben. Zurzeit sei «Schwanger-Hilfe.ch» noch nicht im St. Galler Leitfaden aufgeführt.

B. Der Verein «Schwanger-Hife.ch» reichte am 14. August 2017 Beschwerde gegen den Artikel vom 9. Juli 2017 beim Schweizer Presserat ein. Das Wahrheitsgebot der Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») sei verletzt, da der Artikel auf falschen oder unvollständigen Annahmen aufbaue und teilweise suggestiven Charakter aufweise. Die im Artikel abgedruckten Zitate seien zwar von «Schwanger-Hilfe.ch» genehmigt worden, stünden jedoch in krassem Kontrast zu Titel, Zwischentitel und der «Schwanger-Hilfe.ch» unterstellten Haltung zur Abtreibung. Die von «Schwanger-Hilfe.ch» eingereichten Beschwerdemails habe die «Ostschweiz am Sonntag» abschlägig beantwortet. Konkret kritisiert «Schwanger-Hilfe.ch» den Titel «Ostschweizer Abtreibungsgegner wirken im Verborgenen». Da der Artikel «Schwanger-Hilfe.ch» thematisiere, ziele diese Bezeichnung auf ihre Organisation. «Schwanger-Hilfe.ch» habe jedoch eine klare Positionierung, die sie dem Journalisten transparent schilderte und die im Artikel wiedergegeben werde. Somit stehe der Titel im Widerspruch zur Aussage im Text «Der Verein ist weder für noch gegen die Fristenregelung, weil die Beratung keine Entscheidung vorwegnimmt». Gleich verhalte es sich mit dem Zwischentitel «Verein weicht aus». Dieser unterstelle dem Verein, dass er sich nicht klar positioniere, obwohl er explizit zur Frage der Fristenregelung Stellung genommen habe. Weiter beanstandet der Verein, die Aussage im Artikel über Werner Messmer «auch er war ein Gegner der Fristenregelung» als pauschalisierend, da Messmer im Parlament diese Vorlage in der Detailberatung befürwortet habe. Der Verein «Schwanger-Hilfe.ch» positioniere sich zur Frage der Abtreibung jedoch explizit neutral. Zuletzt rügt der Beschwerdeführer die Aussage, dass einzelne Vereinsmitglieder sich in der Vergangenheit gegen Abtreibungen ausgesprochen hätten. Namentlich genannt würden nur Werner Messmer und Pirmin Müller, welche jedoch beide gar keine Vorstandsmitglieder seien.

C. Mit Beschwerdeantwort vom 26. September 2017 beantragte Pascal Hollenstein, Leiter Publizistik Regionalmedien der NZZ, für das «St. Galler Tagblatt», auf die Beschwerde gegen die «Ostschweiz am Sonntag» sei nicht einzutreten, eventualiter sei diese vollumfänglich abzuweisen. Die Beschwerde lege nicht ausreichend dar, inwiefern die Wahrheitspflicht verletzt sein soll. Sie beschränke sich im Grundsatz auf den Vorwurf, der Artikel sei suggestiv und stigmatisierend. Aufgrund der unzureichenden Begründung sei auf die Beschwerde nicht einzutreten.

Der Beschwerdegegner bestreitet den Vorwurf, der Titel des Artikels verletze das Wahrheitsgebot. Sinngemäss mache «Schwanger-Hilfe.ch» geltend, der Titel insinuiere fälschlicherweise, dass sich der Verein in der Abtreibungsfrage nicht klar positioniere, obwohl dem nicht so sei. Gemäss «Ostschweiz am Sonntag» sei dem jedoch genau so. «Der Verein ist weder für noch gegen die Fristenregelung, weil die Beratung keine Entscheidung vorwegnimmt» sei wenig erhellend. Es ginge im Kern um die Frage, ob man sich positioniere, wenn man keine Position beziehe. Ausserdem sei das Angebot von «Beratung und Hilfe für ungewollt schwangere Frauen … mit einer lebensbejahenden Ausrichtung» im Kontext von Schwangerschaftsabbrüchen erklärungsbedürftig. Auch die Leiterin der offiziellen St. Galler Beratungsstelle für Familienplanung, Schwangerschaft und Sexualität störe sich an der unzureichenden Deklarierung der Haltung von «Schwanger-Hilfe.ch». Aus diesen Gründen blieben erhebliche Zweifel bestehen. Einer Redaktion stünde es frei, Darstellungen von Personen kritisch zu hinterfragen und Schlussfolgerungen zu ziehen. Diese dürften im Titel – gewissermassen als Fazit – angedeutet werden. Im Übrigen sei es gängige Praxis des Presserats, Zuspitzungen in Titeln zu erlauben.

Auch der Zwischentitel «Verein weicht aus» verletze die Wahrheitspflicht nicht. Wie dargelegt beziehe «Schwanger-Hilfe.ch» tatsächlich nicht eindeutig Position zu gewissen Themen. Ihr Medienbeauftragter Müller habe in einer ersten Fassung des Artikels gesagt «Dazu wollen wir keine Stellung nehmen», während des Autorisierungsprozesses habe Müller dann die Streichung dieses Satzes verlangt. Insgesamt sei festzuhalten, dass der Verein es ablehne, gewisse Fragen klar zu beantworten. Die Formulierung des Zwischentitels sei damit presseethisch zulässig. Die Äusserungen des Vereins in Bezug auf Abtreibungen seien im Artikel korrekt wiedergegeben worden. Daher sei nicht ersichtlich und auch vom Beschwerdeführer nicht vorgebracht, inwiefern das Wahrheitsgebot verletzt sein soll. Auch stehe im Artikel nirgends, Werner Messmer habe die Fristenregelung in der Detailberatung nicht befürwortet. Tatsache sei, dass dieser sich über lange Zeit in der Öffentlichkeit gegen Abtreibungen stark gemacht habe. Deshalb sei auch die Formulierung «war ein Gegner der Fristenregelung» klar zulässig.

Was die Angaben zu den Vereinsmitgliedern anginge, sei nicht ersichtlich, worin eine Verletzung des Kodex bestehen solle. Im Artikel würden Pirmin Müller korrekt als «Medienbeaufragter» und Werner Messmer als «Botschafter» bezeichnet und nicht als «Vorstandsmitglieder». Es liege hier, wie auch in den vorhergehenden Punkten, keine Verletzung der Wahrheitspflicht gemäss Ziffer 1 der «Erklärung» vor.

D. Am 6. Oktober 2017 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 8. Oktober 2018 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

Der Verein «Schwanger-Hilfe.ch» macht eine Verletzung der Wahrheitspflicht geltend. Ziffer 1 der «Erklärung» hält Journalistinnen und Journalisten dazu an, sich an die Wahrheit zu halten. Sie sollen sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten lassen, die Wahrheit zu erfahren. Der Verein bringt vor, die Bezeichnung als «Abtreibungsgegner» im Titel entspreche nicht der Wahrheit. Gemäss Eigenaussage von «Schwanger-Hilfe.ch» sei der Verein weder für noch gegen die Fristenregelung. Die Bezeichnung als «Abtreibungsgegner» widerspreche somit der Eigendarstellung des Vereins.

Der Schweizer Presserat lässt Zuspitzungen in Titeln grundsätzlich zu – diese sind mit der Wahrheitspflicht vereinbar. Der vorliegende Fall ist jedoch grenzwertig, da die «Ostschweiz am Sonntag» keine Beweise dafür vorlegt oder auch nur geltend macht, dass der Verein «Schwanger-Hilfe.ch» sich tatsächlich gegen Abtreibungen einsetzt und nicht nur eine effektive Wahlfreiheit erlauben möchte. Gemäss «Ostschweiz am Sonntag» ist der Titel jedoch eine Schlussfolgerung bzw. Interpretation der Tatsache, dass sich der Verein nicht explizit zu der Frage äussern möchte und dass sich mindestens zwei wichtige Repräsentanten gegen Abtreibungen ausgesprochen haben. Auch der Schweizer Presserat qualifiziert dies knapp als ausreichende Grundlage, um die Stossrichtung des Vereins in einem zugespitzten Titel zu hinterfragen. Damit ist die Wahrheitspflicht der Ziffer 1 der «Erklärung» nicht verletzt.

Auch durch den Zwischentitel «Verein weicht aus» sieht der Presserat die Wahrheitspflicht nicht verletzt. Tatsächlich spricht sich der Verein nicht explizit gegen Abtreibungen aus, vertritt jedoch nach eigenen Angaben eine «lebensbejahende Ausrichtung». Auch die Aussage «Der Verein ist weder für noch gegen die Fristenregelung» ist sehr offen. Aus diesem Grund hat die «Ostschweiz am Sonntag» das Wahrheitsgebot nicht verletzt, wenn sie schreibt, der Verein weiche aus. Für die Leserschaft wird deutlich, worauf die Zeitung ihre Aussage stützt.

Der Verein kritisiert weiter die Aussage über Werner Messmer, auch er sei ein Gegner der Fristenregelung gewesen, als pauschalisierend. Die Redaktion hält dem entgegen, Messmer habe sich in der Öffentlichkeit über einen langen Zeitraum gegen Abtreibungen stark gemacht. So sei er früher Präsident der «Gesellschaft zum Schutz des ungeborenen Lebens» gewesen – einem Zusammenschluss aus den Vereinen «Ja zum Leben», «Helfen statt Töten» und der evangelikalen Schweizerischen Evangelischen Allianz. Er habe sich zudem wiederholt gegen die Fristenlösung ausgesprochen. Aus diesen Gründen sieht auch der Presserat in der Einschätzung Messmers als Gegner der Fristenregelung keine Verletzung der Wahrheitspflicht.

Der Verein rügt schliesslich, Werner Messmer und Pirmin Müller würden zu Unrecht als Vorstandsmitglieder bezeichnet. Dies wird im Artikel jedoch nirgendwo erwähnt. Müller und Messmer werden lediglich als prominenteste Unterstützer des Vereins bezeichnet, Müller zudem als dessen Medienbeauftragter. Eine Verletzung der Wahrheitspflicht liegt auch hier nicht vor.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. Die «Ostschweiz am Wochenende» hat mit dem Artikel «Abtreibungsgegner wirken im Verborgenen» vom 9. Juli 2017 Ziffer 1 (Wahrheitsgebot) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.