Nr. 39/2022
Wahrheit / Entstellen von Tatsachen

(Union Schweizerischer komplementärmedizinischer Ärzteorganisationen c. «Neue Zürcher Zeitung»)

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Zusammenfassung

Im Dezember 2021 veröffentlichte die NZZ einen Artikel unter dem Titel: «Impfempfehlung? Nein, dazu können sich Schweizer Homöopathen nicht durchringen.» In diesem Zusammenhang wurde bemerkt: «Fast 10 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer versuchen sich laut einer Umfrage aus dem Jahr 2014 mit Globuli zu kurieren – obwohl es keinerlei wissenschaftliche Evidenz gibt, dass homöopathische Mittel besser wirken als Placebo. Manche, wenn auch nicht alle Anhänger der ‘sanften Medizin’ sind gegenüber der evidenzbasierten Medizin skeptisch. Und damit anfällig für Verschwörungstheorien über den angeblichen Schaden der Covid-19-Impfung.»
Die Union Schweizerischer komplementärmedizinischer Ärzteorganisationen erhob Beschwerde gegen den Text. Die Behauptung des NZZ-Journalisten, es gebe keinen Beweis, dass alternative Heilmittel wirksam seien, sei falsch, es gebe Studien, die das belegten. Eine zweite Behauptung, wonach Befürworter der Komplementärmedizin empfänglich seien für Verschwörungstheorien, sei eine reine, nicht deklarierte Meinungsäusserung. Es gebe im übrigen auch Studien, die belegten, dass es keinen Zusammenhang gebe zwischen der Verwendung von Homöopathika und der Bereitschaft, sich impfen zu lassen.
Der Presserat hält in seinem Entscheid fest, dass es nicht seine Aufgabe ist, strittige wissenschaftliche Fragen zu klären. Er prüft nur, ob ein Text den Anforderungen der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» entspricht.
Nach intensiver Diskussion wurde die Beschwerde abgewiesen. Die Beschwerdeführerin legte zwar Studien vor, welche die Wirksamkeit von alternativen Heilmitteln belegen, umgekehrt gibt es aber auch ernstzunehmende wissenschaftliche Stimmen, die das bestreiten. «Evidenz» wird laut Duden unter anderem als «unumstössliche Tatsache», als eine «unwiderlegbare Erkenntnis» definiert. So gelesen ist die verwendete Formulierung nicht falsch; es wäre aber wünschbar gewesen, dass die NZZ differenzierter formuliert hätte.
Bezüglich der Feststellung, dass Befürworter der Komplementärmedizin empfänglicher für Verschwörungstheorien seien und sich seltener impfen liessen, gibt es Belege, die für respektive gegen die Thesen sprechen, ein Verstoss gegen die «Erklärung» ist deshalb auch in diesem Punkt nicht nachgewiesen.

Résumé

La NZZ a publié en décembre 2021 un article intitulé: «Impfempfehlung? Nein, dazu können sich Schweizer Homöopathen nicht durchringen.» (Recommandation de se vacciner? Non, les homéopathes suisses ne peuvent s’y résoudre). Il y était remarqué la chose suivante: près de 10 pour cent des Suisses et des Suissesses essaient de se soigner au moyen de granules, selon un sondage datant de 2014, quand bien même il n’existe aucune preuve scientifique que les produits homéopathiques ont plus d’effet que des placebos. De nombreux tenants de la ‘médecine douce’, sinon tous, sont sceptiques envers la médecine fondée sur l’évidence. Et par conséquent sensibles aux théories complotistes sur les supposés dommages provoqués par la vaccination contre le Covid-19.
L’Union des sociétés suisses de médecine complémentaire a porté plainte contre ce texte. L’affirmation du journaliste de la NZZ selon laquelle il n’y aurait aucune preuve de l’efficacité des médicaments non conventionnels est fausse, il existe des études en témoignant. La deuxième affirmation selon laquelle les partisans de la médecine complémentaire sont réceptifs aux théories complotistes est l’expression pure et simple, non déclarée, d’une opinion. Il existe d’ailleurs des études prouvant qu’il n’y a aucun lien entre la prise de médicaments homéopathiques et la disposition à se faire vacciner.
Le Conseil de la presse constate dans sa décision qu’il ne lui incombe pas de trancher des questions scientifiques contestées. Il a seulement pour tâche de voir si un texte répond aux exigences de la Déclaration des devoirs et des droits du/de la journaliste.
La plainte a été rejetée au terme d’intenses discussions. La plaignante a certes présenté des études prouvant l’efficacité des médicaments alternatifs, mais il existe inversement des voix scientifiques tout aussi sérieuses qui la contestent. Le dictionnaire définit «l’évidence» comme le caractère de ce qui s’impose à l’esprit avec une telle force qu’on n’a besoin d’aucune autre preuve pour en connaître la vérité, la réalité. La formulation utilisée n’est donc pas fausse; mais il aurait été souhaitable que la NZZ s’exprime de manière plus nuancée.
En ce qui concerne la constatation que les partisans de la médecine complémentaire sont réceptifs aux théories complotistes et se font plus rarement vacciner, il existe des preuves pour et contre, et il n’est pas possible non plus d’affirmer qu’il y a atteinte à la «déclaration» sur ce point.

Riassunto

Nel mese di dicembre del 2021, la NZZ ha pubblicato un articolo dal titolo ««Impfempfehlung? Nein, dazu können sich Schweizer Homöopathen nicht durchringen» (Raccomandare la vaccinazione? No, gli omeopati svizzeri proprio non ce la fanno). In questo contesto è stato sottolineato come «secondo un sondaggio del 2014 quasi il 10% degli svizzeri cerca di curarsi con i globuli nonostante l’assenza di prove scientifiche che ne dimostrino un’efficacia superiore a quella del placebo. Alcuni, anche se non tutti i seguaci della medicina dolce, sono scettici nei confronti della medicina basata sull’evidenza e sono quindi ricettivi nei confronti delle teorie cospirative sui presunti danni del vaccino contro il Covid 19».
L’Unione delle associazioni mediche svizzere di medicina complementare ha presentato un reclamo contro il testo. Ritiene che l’affermazione del giornalista della NZZ, a detta del quale non esiste alcuna prova riguardo all’efficacia dei rimedi alternativi, sia falsa, e aggiunge che vi sono studi che lo dimostrano. Considera la seconda affermazione, secondo cui i sostenitori della medicina complementare sarebbero ricettivi alle teorie del complotto, una mera espressione non dichiarata del proprio parere soggettivo. Esistono peraltro anche degli studi che dimostrano come non vi sia alcun legame tra l’uso di medicinali omeopatici e la disponibilità o meno a farsi vaccinare.
Nella propria decisione il Consiglio della stampa afferma che non è suo compito risolvere questioni scientifiche controverse. Esso verifica unicamente se un testo è conforme ai requisiti della «Dichiarazione dei doveri e dei diritti del giornalista».
Dopo un’approfondita discussione, il reclamo è stato respinto. Sebbene il reclamante abbia presentato studi che dimostrano l’efficacia dei rimedi alternativi, vi sono anche opinioni scientifiche serie che la contestano. Il dizionario Duden definisce, tra le altre cose, il termine «evidenza» come «fatto incontestabile», «conoscenza inconfutabile».
Letta in questa chiave la formulazione utilizzata non è errata; tuttavia, sarebbe stato auspicabile che la NZZ avesse utilizzato una formulazione più differenziata.
Per quanto riguarda l’affermazione che i sostenitori della medicina complementare sono più ricettivi alle teorie cospirative e si vaccinano meno spesso, ci sono prove sia a favore che contro detta tesi. Pertanto, nemmeno riguardo a questo punto è stata dimostrata una violazione della «Dichiarazione dei doveri e dei diritti del giornalista».

I. Sachverhalt

A. Am 29. Dezember 2021 veröffentlichte die «Neue Zürcher Zeitung» (NZZ) einen Artikel von Simon Hehli unter dem Titel: «Impfempfehlung? Nein, dazu können sich Schweizer Homöopathen nicht durchringen». Untertitel: «Alternativmediziner gelten als mitverantwortlich für die Impfskepsis. Während ihre Kollegen in Deutschland für die Corona-Vakzine werben, bleiben die Homöopathen und anthroposophischen Ärzte hierzulande stumm.»

Im Text wird auf die vergleichsweise tiefe Impfquote in der Schweiz hingewiesen und darauf, dass die Gründe «auch bei der Popularität der Alternativmedizin» hierzulande gesehen werden können. «Fast 10 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer versuchen sich laut einer Umfrage aus dem Jahr 2014 mit Globuli zu kurieren – obwohl es keinerlei wissenschaftliche Evidenz gibt, dass homöopathische Mittel besser wirken als Placebo. (…) Manche, wenn auch nicht alle Anhänger der ‹sanften Medizin› sind gegenüber der evidenzbasierten Medizin skeptisch. Und damit anfällig für Verschwörungstheorien über den angeblichen Schaden der Covid-19-Impfung.» Aufgrund all dessen, so der Artikel weiter, könnten die Anbieter von alternativen Heilmethoden eine entscheidende Rolle spielen, indem sie «ihren Kundinnen und Kunden die Impfung explizit empfehlen». Das sei etwa in Deutschland ausdrücklich so geschehen, in der Schweiz suche man aber vergeblich nach einer entsprechenden Stellungnahme.

Der Verband der Homöopathen HVS habe keinen derartigen Appell auf seiner Website und betone auf Anfrage, man gebe grundsätzlich keine Empfehlungen ab. Das wiederum treffe, laut NZZ, so nicht zu. Im Weiteren stelle die Impffrage auch für anthroposophisch gesinnte Ärzte «eine Herausforderung» dar. Zwar habe die Internationale Vereinigung Anthroposophischer Ärztegesellschaften 2019 festgehalten, dass Impfungen zur weltweiten Vermeidung lebensbedrohlicher Krankheiten beitrügen. Deshalb nehme sie keine Anti-Impf-Haltung ein und unterstütze keine Anti-Impf-Bewegungen. Aber es gebe, so die NZZ, «vonseiten der Vereinigung anthroposophisch orientierter Ärzte in der Schweiz bis jetzt keine Aufforderung zur Covid-19-Impfung».

B. Am 31. Januar 2022 reichte Gisela Etter im Namen der Union Schweizerischer komplementärmedizinischer Ärzteorganisationen beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen den Artikel ein. Die Beschwerdeführerin (BF) macht einen Verstoss gegen die Ziffern 1 (Wahrheit) und 2 («Entstellung von Tatsachen, Unterlassung») der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung») geltend.

Zur Begründung führt die BF an, die NZZ verletze die Wahrheitspflicht, wenn sie behaupte, es gebe keinen Beweis dafür, dass homöopathische Mittel besser wirkten als Placebo. Es gebe sehr wohl wissenschaftliche Studien, welche deren Wirksamkeit belegten. Die BF führt dazu eine Studie der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Homöopathie an und weitere Studien der Universität Bern. Ferner weist sie auf die Rechtslage nach Art. 32 KVG hin und führt auch eine Stellungnahme des Presserates (8/2011) an, in der es ebenfalls ums Thema Wirksamkeit von Homöopathie ging.

Weiter sieht die BF die «Ziffer 2» der «Erklärung» verletzt. Es würden Tatsachen entstellt, respektive Fakten unterschlagen, wenn erstens «sanfte Medizin» und «evidenzbasierte Medizin» einander gegenübergestellt würden. Komplementärmedizin sei evidenzbasierte Medizin.

Zweitens sei die Behauptung, wonach Befürworter der Komplementärmedizin empfänglich seien für Verschwörungstheorien, eine rein subjektive Behauptung des Autors, die allenfalls in einem Kommentar Platz finden könne.

Drittens sei falsch, dass die Anbieter alternativer Heilmethoden keine Impfempfehlungen aussprächen. Es gebe solche Stellungnahmen auf den Homepages der Fachgesellschaften derjenigen Methoden, die von der Grundversicherung bezahlt würden.

Und viertens unterschlage der Autor Studien, «die seine Thesen widerlegt hätten». Es gebe mehrere Studien, die belegten, dass es keinen Zusammenhang gebe zwischen der Verwendung von Homöopathika und der Bereitschaft, sich impfen zu lassen. Die BF führt die Links zu drei entsprechenden Studien an.

C. Am 12. April 2022 nahm der Rechtsdienst der NZZ zur Beschwerde Stellung und beantragte, diese vollumfänglich abzuweisen. Die Beschwerdegegnerin (BG) NZZ stellt einleitend fest, dieser Artikel habe in erster Linie thematisiert, dass Schweizer Homöopathen keine Covid-Impfempfehlung abgegeben hätten. Der Text sei «nicht wissenschaftlich motiviert, sondern politisch». Deshalb würde auch auf keine Studien verwiesen. Das sei in einem Artikel, der kein spezifisch wissenschaftliches Thema im Zentrum habe, auch nicht nötig und nicht machbar. Zudem gebe es durchaus Studien, die zeigten, dass homöopathische Arzneimittel keine nachweisbare Wirkung erzielten. Dazu verweist die BG auf diverse Quellen in einem Wikipedia-Eintrag sowie auf mehrere Metastudien, die zeigten, «dass homöopathische Mittel keine wissenschaftlich nachweisbare Wirkung erzielen». Die Aussage des Autors des Artikels, wonach die Wirkung nicht über einen Placeboeffekt hinausgehe, stütze sich u.a. auf ein «Homöopathie-Statement von ESAC», des Wissenschaftsrats der Europäischen Akademien. Die BG verlinkt den Bericht und zitiert die betreffende Stelle: «We acknowledge that a placebo effect may appear in individual patients but we agree with previous extensive evaluations concluding that there are no known diseases for which there is robust, reproducible evidence that homeopathy is effective beyond the placebo effect.»

Die BG geht davon aus, dass angesichts von Studien und Gegenstudien niemand die absolute Wahrheit kenne. Der Presserat habe in seiner Stellungnahme 8/2011 denn auch festgestellt, es sei falsch zu behaupten, es gebe «keine einzige Studie», welche die Wirksamkeit von Homöopathie belege. Deswegen – so die NZZ weiter – benutze der Autor des Artikels denn auch die Formulierung, es gebe keine «Evidenz» für die Wirksamkeit von Homöopathie und nicht etwa die Formulierung, es gebe keine diesbezügliche Studie. «Evidenz» sei ein Synonym für Unwiderlegbarkeit. Wenn der Autor sich so äussere, dann sei dies eine persönliche Wertung, die durch die Meinungsfreiheit geschützt sei.

Die Beschwerdeführerin irre, wenn sie annehme, die Wirksamkeit sei schon dadurch belegt, dass laut der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zum Artikel 32 des Krankenversicherungsgesetzes die homöopathischen Heilmittel zugelassen, also wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich seien. Diese seien allein aufgrund des Volksentscheides von 2009 in den Leistungskatalog der Grundversicherung aufgenommen worden.

Was den angeblich fehlenden Zusammenhang von Alternativmedizin und Impfskepsis betreffe, so weise eine von der BF zum Beleg vorgelegten Studien sogar selber einen leichten Zusammenhang zwischen Alternativmedizin und Impfskepsis nach. Die NZZ fährt weiter: «Dass den Impfskeptikern viele Verschwörungstheoretiker angehören, vermag niemand ernsthaft zu bezweifeln.» Insofern könne auch die Aussage nicht falsch sein, wonach manche, wenn auch nicht alle Homöopathieanhänger gegenüber der Schulmedizin skeptisch und damit auch anfällig für Verschwörungstheorien seien.

Schliesslich sei es nicht richtig, wenn die BF behaupte, dass Anbieter alternativer Heilmethoden Impfempfehlungen ausgesprochen hätten. Es gehe im Artikel nicht um irgendwelche Impfungen, sondern um solche gegen Covid-19. Dazu habe weder der Homöopathieverband HVS, noch der Schweizerische Verein homöopathischer Ärztinnen und Ärzte (SVHA) oder die Beschwerdeführerin eine explizite Empfehlung herausgegeben.

D. Am 31. Mai 2022 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde gemäss Artikel 13 Abs. 2 von der 1. Kammer behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Luca Allidi, Dennis Bühler, Ursin Cadisch, Michael Herzka, Francesca Luvini und Casper Selg.

E. Die 1. Kammer des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 31. August 2022 sowie auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Der Presserat tritt auf die Beschwerde ein. Er untersucht dabei die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht) und 3 (Entstellen von Tatsachen, Unterschlagen wichtiger Informationselemente) der «Erklärung». Die Beschwerdeführerin hatte eine Verletzung von Ziffer 2 geltend gemacht, aufgrund ihrer Umschreibung aber offensichtlich Ziffer 3 der «Erklärung» gemeint. Davon geht auch die Beschwerdegegnerin NZZ stillschweigend in ihrer Beschwerdeantwort aus.

2. Was der Presserat in der Stellungnahme 8/2011 festgehalten hat, gilt nach wie vor: Der Presserat kann und soll nicht entscheiden, ob Alternativmedizin wirksam ist oder nicht. Er entscheidet lediglich darüber, ob die Berichterstattung zu dieser und weiteren damit verbundenen Fragen den Bestimmungen der «Erklärung» entsprechen oder sie allenfalls verletzen.

3. Die erste umstrittene Frage dreht sich um die Feststellung im Artikel, wonach es «keinerlei wissenschaftliche Evidenz gibt, dass homöopathische Mittel besser wirken als Placebo». Diese Aussage sei objektiv falsch, weshalb ein Verstoss gegen Ziffer 1 (Wahrheitspflicht) der «Erklärung» vorliege, sagt die BF und verweist auf drei Studien. Die erste, sehr ausführliche, stammt von der «Wissenschaftlichen Gesellschaft für Homöopathie». Die zweite vom Institut für komplementäre und integrative Medizin der Universität Bern. Dort sind verschiedene Einzeluntersuchungen zu bestimmten Therapien zusammengestellt (englisch). Im Weiteren wird die Rechtslage zur Rechtsprechung des Bundesgerichts in Sachen KVG zitiert und schliesslich wird auf den Presseratsentscheid 8/2011 verwiesen. All diese Dokumente belegten, so die BF, die Wirksamkeit homöopathischer Mittel.

Die Beschwerdegegnerin hält dem entgegen, es gebe Studien, welche das Gegenteil belegten, insbesondere verweist sie auf das Statement des Wissenschaftsrats der Europäischen Akademien aus dem Jahr 2017. Gerade weil das Thema letztlich widersprüchlich sei, habe der Autor nicht davon gesprochen, es gebe keine diesbezügliche Studie, sondern es gebe keine «Evidenz», im Sinne von Unwiderlegbarkeit.

Klar ist im Ergebnis aller dem Presserat vorliegenden Materialien, dass es wissenschaftliche Stimmen gibt, die von einer Wirksamkeit bestimmter homöopathischer Therapien ausgehen. Umgekehrt ist das Papier des Wissenschaftsrates der Europäischen Akademien ein ebenso klarer Beleg für die gegenteilige wissenschaftliche Sicht, wonach «keine Krankheiten bekannt seien, die auf solide belegbare, reproduzierbare Weise mit homöopathischen Mitteln wirksam bekämpft werden können».

Wenn also darüber geschrieben wird, ob homöopathische Mittel wirksam seien oder nicht, müsste wahrheitsgemäss darauf hingewiesen werden, dass die Meinungen in der Wissenschaft diesbezüglich auseinandergehen. Natürlich kann im Weiteren gewichtet und begründet werden, welche wissenschaftliche Haltung als plausibler erscheint. Es fragt sich in diesem Zusammenhang, ob die NZZ mit der Formulierung, es gebe «keinerlei wissenschaftliche Evidenz, dass homöopathische Mittel besser wirken als Placebo», dieser Anforderung genügt hat.

Die fragliche Formulierung mag suggerieren, dass homöopathische Therapien aus wissenschaftlicher Sicht unwirksam seien, denn die durchschnittlichen LeserInnen dürften den Begriff «Evidenz» als Synonym für «Beweis» verstehen. Die Feststellung, es gebe «keinerlei Beweise», dass Homoöpathie besser wirke als Placebo, wäre in dieser Absolutheit nicht korrekt. Damit würde ein Verstoss gegen Ziffer 1 (Wahrheitspflicht) der «Erklärung» vorliegen.

Der Duden definiert «Evidenz» allerdings als «unmittelbare und vollständige Einsichtigkeit», als «unumstössliche Tatsache», als eine «unwiderlegbare Erkenntnis» und – spezifisch auf die Medizin bezogen – als «empirisch erbrachter Nachweis der Wirksamkeit eines Präparats, einer Therapieform».

Geht man von diesen Definitionen aus, ist die Formulierung der NZZ nicht falsch. Es ist – angesichts der dem Presserat unterbreiteten widersprüchlichen Quellen – keine «unumstössliche Tatsache», dass homöopathische Mittel besser wirken als Placebo. Ein «empirisch erbrachter, unbestrittener Nachweis» liegt ebenfalls nicht vor. Der Nachweis wird von den einen offenbar als erbracht erachtet, von anderen aber bestritten.

Nach intensiver Diskussion kam der Presserat deshalb zum Schluss, dass die Formulierung nicht gegen die Wahrheitspflicht der Ziffer 1 der «Erklärung» verstösst. Angesichts der von der NZZ selber festgestellten Kontroverse um die Wirksamkeit von alternativmedizinischen Behandlungen wäre es aber wünschbar, eine Formulierung zu wählen, welche dem Umstand klarer Rechnung trägt, dass die Materie mindestens in Teilen der Wissenschaft umstritten ist.

Der Bezug der BF auf die Stellungnahme 8/2011 ist insofern nicht massgebend, als die Frage dort klarer, die Antwort noch eindeutiger war: Dort ging es darum, ob es zutreffe, dass es «keine einzige Studie» gebe, welche die Wirksamkeit von homöopathischen Methoden beweise. Diese Darstellung war in ihrer Absolutheit auf jeden Fall unzutreffend, also ein Verstoss gegen die Wahrheitspflicht.

4. Die BF sieht weiter Tatsachen falsch dargestellt, respektive unterschlagen, wenn die NZZ im Artikel «evidenzbasierte Medizin» und «sanfte Medizin» einander als Gegensätze gegenüberstelle. Ärztliche Komplementärmedizin sei ebenfalls evidenzbasierte Medizin. Die BF sieht einen Verstoss gegen Ziffer 2 der «Erklärung» gegeben, aufgrund der Umschreibung – «Entstellung wichtiger Tatsachen, Unterlassung» – meint sie offensichtlich Ziffer 3. Der Presserat geht auf den monierten Punkt nicht ein, weil hier wieder über Charakter und Wirksamkeit von medizinischen Methoden entschieden werden müsste (siehe oben die Erwägungen 1 und 2).

5. Die Behauptung im Artikel, wonach die Befürworter der Komplementärmedizin empfänglich seien für Verschwörungstheorien, verstösst laut BF ebenfalls gegen die Ziffer 3 der «Erklärung». Hier argumentiert die NZZ, viele Verschwörungstheoretiker seien bekanntlich gleichzeitig Impfskeptiker. Entsprechend liege es auf der Hand, dass sich unter den Skeptikern gegenüber der Schulmedizin, die sich der Alternativmedizin zugewendet haben, auch Verschwörungstheoretiker befänden, «wenn auch nicht alle». Diese These werde effektiv teilweise unterstützt durch eine von der Beschwerdeführerin selber angerufene Studie (gemeint offenbar: Science direct, 2020: «CAM users are more vaccine hesitant than CAM non-users»).

Der Schluss daraus, wonach Befürworter der Komplementärmedizin empfänglicher für Verschwörungstheorien seien, mag zwar naheliegen, ist aber mit diesem Hinweis der BG nicht ausreichend belegt. Umgekehrt reicht auch die Argumentation der BF kaum aus: Wenn 67 Prozent der Stimmbevölkerung der Komplementärmedizin zugestimmt haben und die Zahl der Ungeimpften wesentlich tiefer liegt, dann sagt das über die Empfänglichkeit für Verschwörungstheorien bei Nutzern von Alternativmedizin ebenfalls wenig aus.

Der Presserat kommt zum Schluss, dass auch hier kein Verstoss gegen die Ziffer 3 der «Erklärung» vorliegt, weil der Autor seine Aussage doch eindeutig relativiert hat («manche, … wenn auch nicht alle»).

6. Die BF moniert, es sei falsch, wenn die NZZ schreibe, die Anbieter alternativer Heilmethoden hätten keine Impfempfehlungen ausgesprochen. Entsprechende Stellungnahmen seien auf den Homepages der Fachgesellschaften derjenigen Methoden, welche aus der Grundversicherung bezahlt würden. Belege dafür wurden aber nicht unterbreitet. Die BF sieht darin ebenfalls eine Verletzung von Ziffer 3 (Entstellung von Tatsachen) der «Erklärung» Die NZZ hält dem entgegen, dass nie behauptet worden sei, es gebe keine (allgemeinen) Impfempfehlungen. Es sei im Artikel ausschliesslich um die Empfehlung gegangen, sich gegen Covid impfen zu lassen. Dazu habe auf den Webseiten von HVS, SVHA und der Beschwerdeführerin UNION nichts gestanden.

Der Presserat erhebt selber keine Beweise, er hält sich an die Schriftsätze der beiden Parteien. Es ist kein Beleg dafür vorgebracht worden, dass es auf den Webseiten entsprechende Stellungnahmen zur Covid-Impfung gibt. Es ist entsprechend auch kein Verstoss gegen die Ziffer 3 der «Erklärung» erstellt.

7. Schliesslich zur Kritik der BF, es sei falsch zu behaupten, die Bereitschaft, sich nicht impfen zu lassen, habe etwas mit Komplementärmedizin zu tun. In dieser Hinsicht unterschlage die NZZ wichtige Studien, die das widerlegten. Sie erwähnt dafür drei Studien, von denen sich allerdings die erste und die zweite auf die gleiche Umfrage stützen (Nielsen IQ, Deutschland, im Auftrag des BAH, Basis: 2000 Befragte, dies jedoch zu sehr vielen verschiedenen Gesundheits-Themen). Diese besagt in der Tat, dass ein Zusammenhang hier nicht festzustellen sei. Die dritte angeführte Studie (Spanien, Sample: 5000, Befragung spezifischer) stellt indes fest: «CAM users are more vaccine hesitant than CAM non-users, but there is little evidence that trust in CAM per se is a major predictor of vaccine hesitancy. A far bigger predictor of vaccine hesitancy is (dis)trust of conventional medicine.»

Die Studie zeigt demnach, dass Nutzer von Alternativmedizin in der Tat impfskeptischer sind als Nicht-Nutzer. Als einen weitaus grösseren Faktor für Impfskepsis sieht die Studie jedoch das (Miss)Trauen in die konventionelle Medizin.

Diese Aussage stützt die These des NZZ-Autors nicht. Doch formulierte er bewusst relativierend und schreibt, «manche, wenn auch nicht alle Anhänger der ‹sanften Medizin›» seien gegenüber der evidenzbasierten Medizin skeptisch. Deshalb ist auch in diesem Punkt kein Verstoss gegen Ziffer 3 der «Erklärung» erstellt.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. Die «Neue Zürcher Zeitung» hat mit dem Artikel «Impfempfehlung? Nein, dazu können sich Schweizer Homöopathen nicht durchringen» vom 29. Dezember 2021 die Ziffern 1 (Wahrheitsgebot) und 3 (Entstellen von Tatsachen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.