Nr. 39/2018
Wahrheitspflicht/Anhörung bei schweren Vorwürfen

(X. c. «Blick»)

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I. Sachverhalt

A. Am 6. August 2017 veröffentlichte der «Blick» online einen Artikel mit dem Titel «Nazi-Schiff will Flüchtlingsboote stoppen». Dem Titel ist die Oberzeile «Selbstjustiz im Mittelmeer» vorangestellt. Ein Schiff der rechtsextremen Gruppierung «Identitäre Bewegung» sei vor die lybische Küste aufgebrochen, um die Rettung von Flüchtlingen zu verhindern. Ziel sei es, die Rettungsaktionen von Hilfsorganisationen auf dem Mittelmeer zu behindern. Unter dem Zwischentitel «Selbstjustiz via Crowdfunding» führt der Artikel aus, die Bewegung finanziere ihre Mission mittels einer Crowdfunding-Aktion, für welche sich Rechtsextremisten mehrerer europäischer Länder zusammengeschlossen hätten. Man wolle auf den «kriminellen Schlepperwahnsinn im Mittelmeer» hinweisen. Gemäss der «Identitären Bewegung» würden NGOs die Aktivitäten der Schlepperbanden unterstützen. Es solle sichergestellt werden, dass «Flüchtlinge zurück nach Afrika kommen» und dass alles getan werde, um «Europa zu verteidigen». Die «Identitäre Bewegung» gehe von einer homogenen «europäischen Kultur» aus, welche durch die Einwanderung von Personen aus anderen Kulturkreisen bedroht sei. Politikwissenschaftler würden solche Gruppierungen als eine Form von Rechtsextremismus einordnen. NGOs würden besorgt auf die Aktion blicken, so «Amnesty International» Schweiz: «Es ist unfassbar, dass es Menschen gibt, die so etwas planen und damit bewusst Menschenleben gefährden und sogar den Tod von Frauen, Kindern und Männern auf der Flucht in Kauf nehmen würden.»

B. Am 6. August 2017 reichte X. beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen den Artikel vom gleichen Tag ein. Er rügt, im Beitrag werde die «Identitäre Bewegung» des Betriebs eines «Nazi-Schiffes» bezichtigt, deren Mitglieder als «Rechtsextremisten» verunglimpft und es werde der Bewegung die Planung von Selbstjustiz unterstellt. Es lägen dafür weder Beweise noch Gerichtsurteile vor. Der «Identitären Bewegung» würde ausserdem unterstellt, die Rettung von Schiffbrüchigen verhindern zu wollen bzw. «… sogar den Tod von Frauen, Kindern und Männern auf der Flucht in Kauf zu nehmen». X. bringt vor, die «Identitäre Bewegung» habe mehrmals unmissverständlich darauf hingewiesen, dass sie sich an internationales Recht, insbesondere das Seerecht halten werde. Der «Identitären Bewegung» sei offensichtlich keinerlei Möglichkeit geboten worden, zu den Behauptungen Stellung zu nehmen, was klar gegen die journalistische Sorgfaltspflicht verstosse. Der Bericht sei vorverurteilend und tendenziös und verstosse somit gegen Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»).

C. Mit Beschwerdeantwort vom 12. Oktober 2017 beantragte der anwaltlich vertretene «Blick», die Beschwerde sei abzuweisen. «Blick» argumentiert, bei der Wahrheitspflicht gehe es um falsche Tatsachenbehauptungen; ein Werturteil könne diese nicht verletzen. Wenn der Beschwerdeführer den Bericht als «vorverurteilend und tendenziös» beanstande, so würden ihn die im Artikel enthaltenen Werturteile und Meinungen stören, nicht aber die Tatsachenbehauptungen. Auf den Vorwurf, dass die «Identitäre Bewegung» nicht angehört worden sei, sei nicht weiter einzugehen, da die entsprechende als verletzt geltend gemachte Richtlinie des Presserats nicht genannt worden und zudem nicht ersichtlich sei, zu welchen Vorwürfen eine Anhörung hätte stattfinden müssen. X. verkenne, dass die «Planung von Selbstjustiz» und der «Betrieb eines Nazi-Schiffes» gar nicht im Text vorkämen. Es sei unerklärlich, warum diesbezüglich «Beweise» oder «Gerichtsurteile» vorliegen müssten.

Unbestritten sei, dass die politischen Ziele und die ideologische Verankerung der «Identitären» tief am rechten Rand des politischen Spektrums lägen. Alles, was sich in Europa rechts vom rechten Rand des bisher üblichen Parteienspektrums befände, müsse mit dem Risiko leben, irgendwann mit dem Nazi-Etikett versehen zu werden. Dies sei ein Werturteil und keine Tatsachenbehauptung. Mit dem Titel «Nazi-Schiff will Flüchtlingsboote stoppen» sei der Akzent auf die Absicht des Unternehmens gelegt. Der Lead des Artikels stelle weiter klar, dass es sich bei den Betreibern um die «Identitäre Bewegung» handle, eine «rechtsextreme Gruppierung»; der Lead betone das Wertende des Artikels. Auch mit der Spitzmarke «Selbstjustiz im Mittelmeer» sei keine Tatsachenbehauptung aufgestellt, sondern werde klargestellt, worum es bei der ganzen Sache wertungsmässig gehe: Es soll von privater Seite etwas durchgesetzt werden, was einzig den politischen (bzw. militärischen oder polizeilichen) Instanzen zustehe – nämlich den Flüchtlingsstrom aus Libyen zu stören bzw. gar zu unterbinden.

Das beanstandete Zitat sei das eines Vertreters von Amnesty International und als solches ausgewiesen. Es könne deshalb nicht als Verstoss gegen die Wahrheitspflicht in Frage gestellt werden, zumal der Beschwerdeführer den «Gegenbeweis» gar nicht antrete. Schliesslich sei die Bezeichnung «Rechtsextremist» auch nur eine – politische – Wertung und es sei deshalb sinnlos, nach «Beweisen» oder gar «Urteilen» zu rufen. Insgesamt sei die Wahrheitspflicht gemäss Ziffer 1 der «Erklärung» nicht verletzt.

D. Am 12. Oktober 2017 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 8. Oktober 2018 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1.a) Ziffer 1 der «Erklärung» hält Journalistinnen und Journalisten dazu an, sich an die Wahrheit zu halten ohne Rücksicht auf die sich daraus für sie ergebenden Folgen und sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten zu lassen, die Wahrheit zu erfahren. Der Beschwerdeführer rügt eine ungerechtfertigte und unbelegte Bezeichnung der «Identitären Bewegung» als Betreiberin eines «Nazi-Schiffes» sowie die Unterstellung der Planung von «Selbstjustiz». Die Redaktion «Blick» bringt dem entgegen, dass es sich dabei nicht um Tatsachenbehauptungen, sondern um Werturteile handle, welche nicht von der Wahrheitspflicht der Ziffer 1 erfasst würden. Sie macht geltend, eine sich rechts vom rechten Rand des bisher üblichen Parteienspektrums befindende Gruppe müsse mit dem Risiko leben, irgendwann mit dem Nazi-Etikett versehen zu werden.

Zu beurteilen ist zum einen der Titel «Nazi-Schiff will Flüchtlingsboote stoppen». Mit ihm wird eine rechtsextreme Gruppierung ohne weitere Erklärung bzw. Einordnung mit einem Nazi-Etikett versehen. Dies stellt nicht eine – an sich zulässige – Zuspitzung, sondern eine Überspitzung dar. Ein Vergleich bzw. eine Gleichsetzung mit den Nazis ist nicht ein einfaches Werturteil, wie dies der «Blick» geltend macht, sondern eine schwerwiegende Unterstellung, welche sich nur durch eine konkrete Begründung rechtfertigen liesse. Die Erklärung im Lead, es handle sich um ein Schiff der umstrittenen «Identitären Bewegung», einer rechtsextremen Gruppierung, reicht als Relativierung nicht aus. Die Bezeichnung eines Schiffes, das von einer rechtsextremen Bewegung gechartert wird, als «Nazi-Schiff» im Titel stellt eine unzulässige Überspitzung dar und verletzt somit die in Ziffer 1 der «Erklärung» statuierte Wahrheitspflicht.

b) Zu beurteilen ist weiter die Spitzmarke «Selbstjustiz im Mittelmeer» bzw. der Zwischentitel «Selbstjustiz via Crowdfunding». «Blick» macht hierzu geltend, mit dem Ausdruck «Selbstjustiz» werde keine Tatsachenbehauptung aufgestellt, sondern klargestellt, worum es bei der ganzen Sache wertungsmässig gehe: Es soll von privater Seite etwas durchgesetzt werden, nämlich den Flüchtlingsstrom aus Libyen zu stören bzw. zu unterbinden. Der Begriff Selbstjustiz impliziert, dass Private das staatliche Gewaltmonopol beanspruchen. Im Artikel heisst es, Ziel der Mission «Defend Europe» sei es, Rettungsaktionen von Hilfsorganisationen auf dem Mittelmeer zu behindern, mithin «Europa zu verteidigen». Damit übernimmt diese Aktion der «Identitären Bewegung» eine Rolle, die gemäss deren Überzeugung politische Instanzen übernehmen müssten. In diesem Zusammenhang von Selbstjustiz zu sprechen ist somit durchaus angebracht. Eine Verletzung der Wahrheitspflicht liegt nicht vor.

c) Zu beurteilen ist schliesslich die Aussage «Es ist unfassbar, dass es Menschen gibt, die so etwas planen und damit bewusst Menschenleben gefährden oder sogar den Tod von Frauen Kindern und Männern auf der Flucht in Kauf nehmen würden.» Hier handelt es sich um ein Zitat von Amnesty International Schweiz. Das Zitat ist klar als ein solches gekennzeichnet, «Blick» verletzt damit die Wahrheitspflicht nicht.

2. Der Beschwerdeführer rügt zudem, der «Identitären Bewegung» sei offensichtlich keine Möglichkeit geboten worden, zu den Behauptungen Stellung zu nehmen, was gegen die journalistische Sorgfaltspflicht verstosse. «Blick» führt dazu aus, auf den Vorwurf der mangelnden Anhörung sei nicht einzugehen, da die entsprechende als verletzt geltend gemachte Richtlinie des Presserats nicht genannt werde und zudem nicht ersichtlich sei, zu welchen Vorwürfen eine Anhörung hätte stattfinden müssen.

Für den Presserat liegt es auf der Hand, dass der Beschwerdeführer mit seiner Kritik eine Verletzung von Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) geltend macht. Dem Rügeprinzip hat der Beschwerdeführer Genüge getan. Richtlinie 3.8 verlangt, dass Betroffene vor der Publikation schwerer Vorwürfe anzuhören sind. Deren Stellungnahme ist im gleichen Medienbericht kurz und fair wiederzugeben. Für den Presserat liegt auch auf der Hand, welche Vorwürfe der Beschwerdeführer meint – er nennt sie explizit: «Selbstjustiz», «Nazi-Schiff», «… den Tod von Frauen, Kindern und Männern auf der Flucht in Kauf nehmen». Gestützt auf die Praxis des Presserats hat ein Vorwurf als schwer zu gelten, wenn damit ein illegales oder damit vergleichbares Verhalten vorgeworfen wird. Dies ist vorliegend unzweifelhaft der Fall. Die «Identitäre Bewegung» hätte somit zu den gegen sie erhobenen Vorwürfen angehört werden müssen. Richtlinie 3.8 ist folglich verletzt.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

2. Der «Blick» hat mit dem Artikel «Nazi-Schiff will Flüchtlingsboote stoppen» vom 6. August 2017 Ziffer 1 (Wahrheitsgebot) und Ziffer 3 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.