Nr. 36/2022
Wahrheit / Unterschlagen wichtiger Informationen / Anhören bei schweren Vorwürfen

(Verein Netzcourage c. «20 Minuten»)

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Zusammenfassung

Der Schweizer Presserat hat zwei Beschwerden gegen «20 Minuten» und den «Tages-Anzeiger» abgewiesen. Beide Beschwerden richteten sich gegen die Berichterstattung über einen Tweet, den die Redaktion «Megafon» der Berner Reitschule veröffentlicht hatte. Im Tweet enthalten ist die Zeichnung einer Hinrichtungsszene aus der Zeit der Französischen Revolution. Darin wird ein durch eine Guillotine abgetrennter Kopf präsentiert. Über den ursprünglich gezeichneten Kopf ist das Foto einer Journalistin des «Tages-Anzeiger» montiert.

Die beiden Beschwerden des Vereins Netzcourage kritisierten insbesondere, dass in der Berichterstattung von «20 Minuten» und «Tages-Anzeiger» diese Hinrichtungsszene aus dem Kontext gerissen und des satirischen Charakters beraubt werde. Die Leserschaft könne nicht auf den Kontext schliessen.

Der Presserat hat beide Beschwerden abgewiesen. Die beschriebene Köpfungsszene ist zentrales Element des Tweets. «20 Minuten» hat kurz und einfach den Hintergrund der Kontroverse zwischen der Reitschule Bern und der Journalistin dargestellt. Im Artikel des «Tages-Anzeiger», bei dem es sich um einen Kommentar handelt, wird der Hintergrund und der Anlass für den Kommentar sinngemäss wiedergegeben.

Résumé

Le Conseil suisse de la presse a rejeté deux plaintes visant «20 Minuten» et le «Tages-Anzeiger». Toutes deux concernaient le compte rendu d’un tweet publié par la rédaction «Megafon» de la Reitschule de Berne. Le tweet contenait le dessin d’une scène d’exécution datant de la Révolution française. On y voit une tête tranchée par une guillotine. La tête figurant sur le dessin original a été remplacée par la photo d’une journaliste du «Tages-Anzeiger».

Les deux plaintes de l’association Netzcourage critiquent notamment le fait que le compte rendu de «20 Minuten» et du «Tages-Anzeiger» a sorti cette scène de son contexte, la privant de son caractère satirique. Les lecteurs ne pouvaient établir de lien avec ledit contexte.

Le Conseil de la presse a rejeté les deux plaintes. La scène de guillotinage décrite est l’élément central du tweet. «20 Minuten» a illustré brièvement et simplement le contexte de la controverse entre la Reitschule de Berne et la journaliste. Dans l’article du «Tages-Anzeiger», qui est un commentaire, le contexte et le motif du commentaire sont indiqués en substance.

Riassunto

Il Consiglio svizzero della stampa ha respinto due reclami nei confronti di «20 Minuten» e «Tages-Anzeiger». Entrambi i reclami erano diretti contro la copertura di un tweet pubblicato dalla redazione «Megafon» del centro culturale bernese Reitschule. Nel tweet è inclusa l’immagine di un’esecuzione del periodo della Rivoluzione francese in cui viene mostrata una testa tagliata dalla ghigliottina. Al capo mozzato del disegno originale è sovrapposta la foto di una giornalista del «Tages-Anzeiger».

Le due lamentele dell’associazione Netzcourage criticano in particolare il fatto che nei servizi di «20 Minuten» e «Tages-Anzeiger» la scena dell’esecuzione sia stata estrapolata dal contesto, privandola così del suo carattere satirico e togliendo ai lettori la possibilità di trarre conclusioni dal testo a essa annesso.

Il Consiglio della stampa ha respinto entrambi i reclami. La scena della decapitazione descritta è l’elemento centrale del tweet. «20 Minuten» ha presentato in modo breve e semplice i retroscena della controversia tra la Reitschule di Berna e la giornalista interessata. Nell’articolo del «Tages-Anzeiger», che è un commento, il contesto e il motivo del commento sono riprodotti in modo analogo a quello di «20 Minuten».

I. Sachverhalt

A. Am 6. Juli 2021 publizierte «20 Minuten» einen Artikel mit dem Titel «Berner Reitschule köpft Journalistin in Meme», gezeichnet mit dem Kürzel CLM. Es handelt sich um eine leicht gekürzte Version eines Artikels, den «20 Minuten» am Vortag online veröffentlicht hatte: Die Berner Reitschule habe auf dem Kurznachrichtendienst Twitter mit einem satirischen Meme auf Aussagen der Journalistin Michèle Binswanger reagiert. Dieses Meme zeige eine Hinrichtungsszene aus der Zeit der Französischen Revolution. Ein Soldat präsentiere Binswangers durch eine Guillotine abgetrennten Kopf der anwesenden Meute. Der Artikel ist mit dem beschriebenen Bild illustriert. Darin ist über den ursprünglichen gezeichneten Kopf ein Foto von Binswanger montiert. Im Text zitiert «20 Minuten» aus einem Tweet der Redaktion «Megafon» der Berner Reitschule, die auch das Meme veröffentlicht hatte: «Journalist*innen bemühen seit Jahr und Tag wirre Hinrichtungsmetaphern. Aber wehe, wenn das mal jemand in ein Bild packt – das ist doch menschenverachtend!» Das Meme sei eine Reaktion unter anderem auf eine Aussage Binswangers in der «SonntagsZeitung», schreibt «20 Minuten» und zitiert im Artikel diese Aussage Binswangers: «Der Vorwurf, rechts zu sein, kann ein gesellschaftliches Todesurteil sein». Im Online-Artikel nennt «20 Minuten» zwei weitere von den Reitschul-Leuten als «Hinrichtungsmetaphern» bezeichnete Sprachbilder, die Binswanger verwendet habe: «mediale Hinrichtung» und «virtueller Scheiterhaufen».

Der Tweet der Reitschule sei unter anderem auch von Netzcourage-Gründerin Jolanda Spiess-Hegglin geliked worden, die sich als Gründerin von Netzcourage eigentlich gegen Gewalt im Netz engagiere, schreibt «20 Minuten».

B. Am 4. Oktober 2021 reichte der Verein Netzcourage Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Er macht geltend, die beiden Artikel verletzten die Ziffern 1 (Wahrheit) und 3 (Unterschlagen wichtiger Informationen und Anhörung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»).

«20 Minuten» habe mit der Veröffentlichung der Hinrichtungsszene die inhaltliche Einheit des Memes aufgebrochen, die bildliche Darstellung aus dem Kontext gerissen und ihres satirischen Charakters beraubt. Das ursprüngliche Meme bestehe aus einer Text-Bild-Kombination. Je ein Bild sei mit einer Aussage verknüpft. Im ersten steht dabei «Was der Rest der Welt sieht» mit der Überschrift «he michele das stimmt gar nicht». Die Hinrichtungsszene wurde überschrieben mit «Was Michèle sieht». Der satirische Gehalt des Beitrags ergebe sich einzig aus der Kombination von Text- und Bildelementen. Da die Anschuldigungen von «20 Minuten» auf dem alleinstehenden Bild mit der Hinrichtungsszene aufgebaut seien, könne die Leserschaft nicht auf die textliche Einbettung des Ursprungstweets schliessen. Nach Ziffer 3 der «Erklärung» sollen Journalistinnen und Journalisten keine wichtigen Elemente von Informationen unterschlagen. Indem «20 Minuten» wichtige Elemente unterschlagen habe, sei der Journalistenkodex verletzt worden.

Mit der Aussage, Spiess-Hegglin habe das Bild geliked, sei der Eindruck entstanden, sie habe der blossen Darstellung der Köpfungsszene mit Binswanger zugestimmt. Dies stelle einen Verstoss gegen die Wahrheitspflicht dar. Spiess-Hegglin habe einen Tweet geliked, der die unterschiedliche Sicht der Dinge auf denselben Umstand thematisiere. Zudem habe es «20 Minuten» unterlassen, Spiess-Hegglin um eine Stellungnahme zu bitten, was wegen der Schwere des Vorwurfs hätte geschehen müssen. Damit sei die Anhörungspflicht gemäss Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» verletzt worden. Weiter habe «20 Minuten» verschwiegen, dass sich Spiess-Hegglin zum Zeitpunkt der Publikation bereits öffentlich von der Bildwahl distanziert hätte.

C. Am 3. Mai 2022 nahm der Rechtsdienst der TX Group für «20 Minuten» Stellung zur Beschwerde. Diese sei abzuweisen. Das Bild mit der Köpfungsszene sei keineswegs ein kleiner Teil des Memes. Vielmehr stelle es den zentralen Aussagegehalt dar, der satirisch gemeint sei. «20 Minuten» habe nicht nur den Hintergrund zum Tweet erläutert, sondern auch die von «Megafon» abgegebene Erklärung veröffentlicht. Die Redaktion von «20 Minuten» habe aufgrund der Redaktionsfreiheit selbst entschieden, wie sie den Schwerpunkt eines Berichts setze.

«20 Minuten» habe nicht behauptet, Spiess-Hegglin habe das Bild geliked, sondern dass sie den «Tweet der Reitschule» geliked habe. Was korrekt und unbestritten sei. Zudem liege kein schwerer Vorwurf vor. Spiess-Hegglin habe sich in weiteren Aussagen auf Twitter nicht vom Meme distanziert, sondern habe vielmehr das Bild und den Tweet gerechtfertigt.

D. Das Präsidium des Presserats wies die Beschwerde seiner 3. Kammer zur Behandlung zu, bestehend aus Max Trossmann, Präsident, Annika Bangerter, Monika Dommann, Michael Furger, Jan Grüebler, Simone Rau und Hilary von Arx. Simone Rau trat von sich aus in den Ausstand.

E. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 6. Juli 2022 und auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägung

Die Beschwerde wirft «20 Minuten» in der Hauptsache das Unterschlagen von Informationen (Ziffer 3 der «Erklärung») vor. Der Presserat hat zu prüfen, ob «20 Minuten» mit der Veröffentlichung eines Teils des Memes von «Megafon» den Medienkodex verletzt hat. In Ziffer 3 heisst es: Journalistinnen und Journalisten «unterschlagen keine wichtigen Elemente von Informationen und entstellen keine Tatsachen, Dokumente, Bilder und Töne noch von anderen geäusserte Meinungen». «Megafon» hat in einem kurz nach dem Meme veröffentlichten Tweet eine Erläuterung zum Meme nachgeschoben: «Journalist*innen bemühen seit Jahr und Tag wirre Hinrichtungsmetaphern. Aber WEHE wenn das mal jemand in ein Bild packt das ist doch menschenverachtend!!!» [Originalschreibweise]. Diese Aussage hat «20 Minuten» im Artikel zitiert. Zudem hat «20 Minuten» mit einem Beispiel den Vorwurf von «Megafon» aufgenommen, Binswanger benütze in ihrer Arbeit «Hinrichtungsmetaphern». (Im Online-Artikel vom Vortag hatte die Redaktion sogar alle drei von Binswanger benutzten sogenannten «Hinrichtungsmetaphern» erwähnt.) «20 Minuten» hat also ausführlich über die Aussageabsicht des Memes und den Kontext des Köpfungsbilds berichtet. So konnten sich Leserinnen und Leser eine eigene Meinung bilden, ohne den ganzen Tweet gesehen zu haben, der zum Veröffentlichungszeitpunkt der Artikel bereits gelöscht war.

Das Bild mit der Köpfungsszene ist zentrales Element des ganzen Tweets von «Megafon». Es ist absolut dominant und springt ins Auge, während man andere Elemente des Memes zuerst öffnen musste, um sie lesen zu können. Mit der Veröffentlichung hat «20 Minuten» ein wesentliches Element der Aussage illustriert. Mit den zusätzlichen Informationen im Text hat «20 Minuten» kurz und einfach den Hintergrund der Kontroverse zwischen der Reitschule Bern und der Journalistin Binswanger dargestellt.

Spiess-Hegglin hat das satirisch gemeinte Meme von «Megafon» geliked. Es geht aus dem Text hervor, dass sie nicht das eigentliche Bild, sondern den ganzen Tweet geliked hat. Die Wahrheitspflicht ist nicht verletzt. Diesen Like zu erwähnen, entspricht nicht einem schweren Vorwurf. Deshalb war «20 Minuten» nicht verpflichtet, Spiess-Hegglin dazu anzuhören. Die Anhörungspflicht ist nicht verletzt.

Netzcourage beanstandet, dass eine Distanzierung von Spiess-Hegglin vom Köpfungsbild im Artikel nicht erwähnt ist. Netzcourage belegt aber nicht, dass es eine solche Distanzierung gegeben hat. Aus den Unterlagen, die dem Presserat vorliegen, ist höchstens eine halbherzige Distanzierung Spiess-Hegglins ersichtlich. Entsprechend gab es auch keinen Grund, dies im Artikel zu erwähnen.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. «20 Minuten» hat mit dem Artikel «Berner Reitschule köpft Journalistin in Meme» vom 6. Juli 2021 die Ziffern 1 (Wahrheit) und 3 (Unterschlagen von Informationen / Anhörung bei schweren Vorwürfen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.