Nr. 29/2018
Wahrheitspflicht / Quellenbearbeitung / Informationsbeschaffung

(X. c. «St. Galler Tagblatt»)

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I. Sachverhalt

A. Im April 2017 veröffentlichte das «St. Galler Tagblatt» eine Serie von Artikeln über die Gewerbliche Berufsschule St. Gallen (GBS) bzw. deren Rektor. Den Auftakt bildete der Artikel «Der ungenügende Rektor» vom 24. April 2017. Marcel Elsener und Regula Weik berichten über ein anonymes Schreiben, welches ausgewählten Adressaten – darunter dem «St. Galler Tagblatt» – zugestellt worden war. Darin würden happige Vorwürfe gegen den GBS-Rektor erhoben: Als Chef einer der grössten Bildungsinstitutionen der Ostschweiz verursache er teure Leerläufe, betreibe Vetternwirtschaft und vergraule gute Leute. Zu Wort kommen mehrere GBS-Kenner, allerdings ohne namentlich genannt zu werden. Am nächsten Tag, dem 25. April 2017, folgt der Artikel «Fragwürdige Aufsicht». Thematisiert wird darin die «Mehrfachrolle» der Berufsfachschulkommission, welche Wahl- und Aufsichtsorgan in einem sei, d.h. Kandidaten für den Rektorposten vorschlage, wähle und auch beaufsichtige. Da wundere es nicht, dass die Kommission Kritik gar nicht erst ernst nehme oder in gemeinsamer Sache mit dem Rektor abschmettere. Der St. Galler Bildungschef Stefan Kölliker kommentiere die Vorwürfe an den GBS-Rektor nicht. Er räume jedoch ein, dass die Aufsicht der Schulleitung unbefriedigend geregelt sei. Im Artikel heisst es weiter, was es mit den Vorwürfen auf sich habe, werde wohl demnächst die Politik klären: Die Finanzkommission des Kantonsparlaments prüfe die aufgeworfenen finanziellen Fragen. Und die Staatswirtschaftliche Kommission wolle das Thema an ihrer nächsten Sitzung ebenfalls aufgreifen. Am 26. April folgt der Artikel «Ein Aufräumer fürs Riethüsli». Nach den Vorwürfen an den GBS-Rektor würden die Rechnungen der Schule unter die Lupe genommen. Zugleich werde darüber spekuliert, warum die Kritik genau jetzt derart laut werde. Am 6. Mai 2017 folgt schliesslich der Leitartikel von Pascal Hollenstein, Leiter Publizistik der Regionalmedien der NZZ-Gruppe: «Gebt den Namenlosen den verdienten Schutz!». Darin geht Hollenstein der Frage nach, ob Journalisten aufgrund anonymer Hinweise Nachforschungen anstellen dürfen. Seine Antwort lautet: «Sie dürfen nicht nur, sie müssen.»

B. Am 1. Juni 2017 reichte X. beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen das «St. Galler Tagblatt» ein. Er macht geltend, die Artikelserie beruhe auf einem Schreiben mit einem fiktiven Absender, was im Artikel auch gesagt werde. Das «St. Galler Tagblatt» schreibe, anonyme Schreiben würden normalerweise im Papierkorb landen. Der Beschwerdeführer stellt die Frage, warum dies diesmal nicht so gehandhabt werde. Zu fragen sei, warum Pascal Hollenstein, der sonst kaum je einen Leitartikel schreibe, nun einen solchen verfasse und nicht Chefredaktor Stefan Schmid. X. stellt die folgenden Mutmassungen an: X., welcher Meinungsverschiedenheiten mit dem Rektor gehabt habe und der im ersten Artikel namentlich genannt worden sei, sei der Schwiegervater von Chefredaktor Stefan Schmid. Dies erkläre, warum der Ursprung dieser Geschichte ein anonymes Schreiben sein musste. Wäre X. dazu gestanden, hätte es geheissen, das «Tagblatt» mache nun eine Kampagne gegen den Rektor, weil dieser mit dem Schwiegervater des Chefredaktors nicht nett war. Der Beschwerdeführer sieht damit Ziffer 3 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») verletzt. Der Chefredaktor und die beiden Journalisten seien für die Verwendung eines anonymen Schreibens als Grundlage der Artikelserie zu rügen. Wenn mindestens ein Journalist des «St. Galler Tagblatt» von der Identität des Informanten gewusst habe, wäre dies eine gravierende Zurückhaltung und Verfälschung von Informationen. Damit wären die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht), 3 (Quellenbearbeitung) und 4 (Unlautere Methoden bei der Informationsbeschaffung) der «Erklärung» verletzt. Die Tatsache zudem, dass X. ein Gesuch um weitere Beschäftigung über das Pensionsalter hinaus gestellt habe und dass er mit dem Chefredaktor verwandt sei, habe diesem und den zwei Journalisten bekannt sein müssen. Diese drei Personen seien wegen des Verstosses gegen Ziffer 3 und 4 der «Erklärung» zu rügen. Diese Rüge sei zudem im «St. Galler Tagblatt» zu veröffentlichen. Der Leitartikel von Pascal Hollenstein stehe zudem Ziffer 3 der «Erklärung» diametral entgegen. Hollenstein sei für diesen Leitartikel zu rügen und zu verpflichten, diesen im «St. Galler Tagblatt» zu widerrufen.

C. Chefredaktor Stefan Schmid nahm am 18. August 2017 für das «St. Galler Tagblatt» Stellung zur Beschwerde. Er beantragte, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten, eventuell sei diese vollumfänglich abzuweisen. Zum Sachverhalt führt er aus, Auslöser der umfangreichen Recherchen über die Arbeitsweise von GBS-Rektor Lukas Reichle sei ein anonymes Schreiben gewesen, welches dem «St. Galler Tagblatt» mit Datum 6. März 2017 zugeschickt worden sei. Als fiktiver Absender war der «Bund der Steuerzahler», Hansheiri Meier, Hauptstrasse, 9400 Rorschach, aufgeführt, eingeworfen war der Brief in Goldach SG. Das Schreiben sei hauptsächlich an Kurt Alder, den Präsidenten der Finanzkommission des St. Galler Kantonsrats, adressiert gewesen. Gleichzeitig sei es an eine Berufsschullehrerin und zwei Berufsschullehrer, alle Mitglieder des Kantonsrats, gegangen sowie an die «Tagblatt»-Journalisten Regula Weik und Marcel Elsener. Angesichts dieser Streuung des Schreibens habe das «Tagblatt» davon ausgehen müssen, dass die Angelegenheit früher oder später an die Öffentlichkeit gelangen werde. Das Schreiben habe auf die Kosten, die dem Staat durch Lukas Reichles Amtsführung angeblich entstanden sein sollen, fokussiert. Weik und Elsener hätten in der Folge während Wochen an der GBS und in deren Umfeld recherchiert. Insgesamt hätten die beiden persönliche Gespräche mit zwei Dutzend Informantinnen und Informanten geführt, darunter der vom Beschwerdeführer erwähnte X. Die im anonymen Schreiben angeführten Vorwürfe seien dabei mehrfach und unabhängig voneinander bestätigt und teilweise mit anderen Beispielen ergänzt worden. Weik und Elsener seien aufgrund ihrer umfangreichen Recherchen zu einem Gesamteindruck über die Lage an der GBS gelangt, welcher die massiven Vorwürfe an die Adresse von Rektor Reichle glaubwürdig, nachvollziehbar und plausibel erscheinen liess. Sie hätten sich deshalb entschlossen, ihn als Chefredaktor des «St. Galler Tagblatt» in die Geschichte einzuweihen. Am 7. April habe er den Entwurf der Geschichte erhalten und dabei zur Kenntnis genommen, dass sein Schwiegervater gegenüber dem «Tagblatt» Stellung zum Fall Reichle genommen habe. Die Tatsache, dass mit X. ein Verwandter von ihm zitiert worden sei, habe im Austausch zwischen Weik, Elsener und ihm keine Rolle gespielt. Die beiden Journalisten hätten in der Folge versucht, Rektor Reichle zu einer Stellungnahme zu bewegen. Dieser habe sich jedoch geweigert, auf die anonymen Vorwürfe einzugehen. Auch Stefan Kölliker, als Erziehungsdirektor der oberste Chef von Reichle, sei um eine Stellungnahme gebeten worden, habe eine solche zunächst aber ebenfalls verweigert. Der erste Artikel sei für Montag, 24. April 2017, geplant worden, dem ersten Tag der Frühlingssession des Kantonsrats.

D. Am 6. November 2017 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 10. September 2018 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Der Beschwerdeführer beantragt, der Chefredaktor des «St. Galler Tagblatt» und die beiden Journalisten seien für die Verwendung eines anonymen Schreibens als Grundlage der Artikelserie zu rügen. Diese Rüge sei zudem im «St. Galler Tagblatt» zu veröffentlichen. Er sieht in der Verwendung dieses Schreibens eine Verletzung von Ziffer 3 der «Erklärung». Dazu ist vorab festzuhalten, dass der Presserat sein Geschäftsreglement so interpretiert, dass sich Presseratsbeschwerden nicht gegen einzelne Journalistinnen und Journalisten richten, sondern gegen das Medium, welches deren Artikel veröffentlicht. Insoweit der Beschwerdeführer somit die Erteilung einer Rüge an den Chefredaktor und die beiden Journalisten verlangt, ist auf die Beschwerde nicht einzutreten. Ziffer 3 der «Erklärung» verlangt von Journalistinnen und Journalisten, dass sie nur Informationen, Dokumente, Bilder und Töne veröffentlichen, deren Quellen ihnen bekannt sind. Richtlinie 3.1 (Quellenbearbeitung) präzisiert, dass der Ausgangspunkt der journalistischen Sorgfaltspflichten die Überprüfung der Quelle einer Information und ihrer Glaubwürdigkeit bildet. Eine genaue Bezeichnung der Quelle eines Beitrages liegt im Interesse des Publikums. Sie ist vorbehältlich eines überwiegenden Interesses an der Geheimhaltung einer Quelle unerlässlich, wenn dies zum Verständnis der Information wichtig ist. Diese Bestimmungen über den Umgang mit Quellen bedeuten nicht, dass anonyme Schreiben für die Medien tabu sind. Selbst die Veröffentlichung eines anonymen Schreibens ist nicht a priori ausgeschlossen. In seiner Stellungnahme 3/2017 hatte der Presserat festgehalten, ein anonymer Brief dürfe nur publiziert werden, wenn die Quelle sorgfältig überprüft worden ist. Damit die Leserschaft Echtheit und Bedeutung eines solchen anonymen Briefs beurteilen könne, müsse die Urheberschaft so detailreich dargestellt werden, wie es die Anonymität gerade noch zulasse. Vorliegend hat das «St. Galler Tagblatt» das anonyme Schreiben nicht im Wortlaut veröffentlicht, sondern dieses zum Anlass genommen, umfangreiche Recherchen bezüglich der Vorwürfe gegen Rektor Reichle, welche im Schreiben genannt worden waren, anzustellen. Ziffer 1 der «Erklärung» verlangt von Journalisten, sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten zu lassen, die Wahrheit zu erfahren. Dies haben die beiden Journalisten getan, indem sie die Begründetheit der anonymen Vorwürfe abzuklären versuchten. Es ist grundsätzlich von öffentlicher Relevanz, wie ein Rektor einer regionalen Bildungsinstitution sein Amt ausübt und wie er mit den Finanzen umgeht. Die Funktion der Medien als «Wachhunde der Demokratie» gebot es nachgerade, diesen Vorwürfen nachzugehen. Chefredaktor Schmid führt aus, die im anonymen Schreiben angeführten Vorwürfe seien dabei mehrfach und unabhängig voneinander bestätigt und teilweise mit anderen Beispielen ergänzt worden. Die Journalisten haben Rektor Reichle zudem mit den Vorwürfen konfrontiert. Eine Verletzung von Ziffer 3 der «Erklärung» liegt somit nicht vor.

2. Der Beschwerdeführer macht weiter geltend, wenn mindestens ein Journalist des «St. Galler Tagblatt» von der Identität des Informanten gewusst habe, wäre dies eine gravierende Zurückhaltung und Verfälschung von Informationen. Damit wären seiner Ansicht nach die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht), 3 (Quellenbearbeitung) und 4 (Unlautere Methoden bei der Informationsbeschaffung) der «Erklärung» verletzt. Beschwerdeführer X. äussert damit eine Vermutung, für die er keinerlei Beweise vorlegt. Der Chefredaktor des «Tagblatt» äussert sich nicht zu diesem Vorwurf des Beschwerdeführers. Hingegen legt er detailliert dar, wie die beiden Journalisten in ihren Recherchen die Fundiertheit der Vorwürfe gegen Rektor Reichle überpüft haben. Im Zentrum ihrer Recherchen standen ganz klar die Vorwürfe, nicht die Urheberschaft des anonymen Schreibens. Dies geht aus den vier veröffentlichten Artikeln klar hervor. Die diesbezüglichen Vorbringen des Beschwerdeführers entbehren demnach jeglicher Grundlage. Dasselbe gilt für die Mutmassungen bezüglich Motivation des «Tagblatt» für die Artikelserie. Daraus, dass eine namentlich genannte Auskunftsperson der Schwiegervater des Chefredaktors ist, lässt sich nichts ableiten. Chefredaktor Schmid hat überzeugend dargelegt, wie sich die Recherchetätigkeit der beiden Journalisten abgespielt hat und zu welchem Zeitpunkt er involviert wurde. Wie erwähnt ist das Thema der Amtsführung von Rektor Reichle von öffentlichem Interesse. Insofern ist es völlig unerheblich, ob eine Auskunftsperson gleichzeitig der Schwiegervater des Chefredaktors ist. Eine Verletzung der Ziffern 1, 3 und 4 der «Erklärung» liegt nicht vor.

3. Soweit der Beschwerdeführer schliesslich geltend macht, der Leitartikel von Pascal Hollenstein stehe Ziffer 3 der «Erklärung» diametral entgegen und Hollenstein sei für diesen Leitartikel zu rügen, sei auf die obigen Ausführungen verwiesen. Im Übrigen begründet Hollenstein den gelegentlichen Beizug auch anonymer Helfer und Informanten für einen Journalismus, der Transparenz schafft, überzeugend. Diese Überlegungen teilt der Presserat. Soweit der Beschwerdeführer verlangt, Hollenstein sei zu verpflichten, seinen Leitartikel im «St. Galler Tagblatt» zu widerrufen, sei festgehalten, dass der Presserat gestützt auf sein Geschäftsreglement Medien keine Direktiven erteilt und auch keine Sanktionen ausspricht. Insofern ist auf diese Forderung des Beschwerdeführers nicht einzutreten.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. Das «St. Galler Tagblatt» hat mit der Veröffentlichung der Artikel «Der ungenügende Rektor» vom 24. April 2017, «Fragwürdige Aufsicht» vom 25. April 2017, «Ein Aufräumer fürs Riethüsli» vom 26. April 2017 und «Gebt den Namenlosen den verdienten Schutz!» vom 6. Mai 2017 die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht), 3 (Quellenbearbeitung) und 4 (Unlautere Methoden bei der Informationsbeschaffung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.