Nr. 28/2023
Wahrheit

(X. c. «Neue Zürcher Zeitung»)

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Zusammenfassung

Die «Neue Zürcher Zeitung» hat mit einem Kommentar zu Aktivitäten von KlimaaktivistInnen die Wahrheitspflicht nicht verletzt, jedoch den Sachverhalt ungenau beschrieben. Der Autor hatte in seinem Kommentar festgehalten, dass KlimaaktivistInnen, die sich auf Strassen festklebten, erstmals nicht mehr nur als Ärgernis wahrgenommen würden, sondern als Gefährder von Menschenleben. In Berlin sei eine Velofahrerin gestorben, nachdem sie mit einem Betonmischer kollidiert sei. «Die Rettungskräfte trafen verspätet am Unfallort ein, weil sie in einem Stau feststeckten, der durch Klimaaktivisten verursacht worden war.» Der Presserat stellt fest, dass die Frage, ob ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Blockade und dem Tod der Verunfallten bestand, aufgrund der Unterlagen nicht sicher beantwortet werden kann. Entsprechend ist ein Verstoss gegen die Wahrheitspflicht nicht belegt. Jedoch ist die Verwendung des Plurals «Einsatzkräfte», die verspätet am Unfallort eingetroffen seien, nicht korrekt. Eine Notärztin war von Beginn an anwesend und es war ein einziger Rettungswagen, der einige Minuten zurückgehalten wurde. Dies bewertet der Presserat als journalistische Ungenauigkeit.

Résumé

Dans un commentaire sur les agissements des activistes du climat, la « Neue Zürcher Zeitung » n’a pas manqué à son devoir de recherche de la vérité, mais n’a pas fait preuve de suffisamment de précision dans la description des faits. L’auteur avait énoncé que pour la première fois, des activistes du climat collés sur des routes ont constitué, plus qu’une simple source d’énervement, une menace pour la vie des gens. Dans son commentaire, il a relaté qu’une cycliste avait perdu la vie après être entrée en collision avec une bétonnière et mentionnait que les secours étaient arrivés trop tard sur les lieux, car ils étaient pris dans un embouteillage causé par les activistes du climat. Le Conseil suisse de la presse note qu’il n’est pas possible de déterminer avec certitude sur la base des documents disponibles s’il existe un lien de cause à effet entre le blocage d’une route et le décès de la personne accidentée. Rien ne permet donc d’attester une atteinte au principe de recherche de la vérité. Le Conseil relève toutefois qu’il n’est pas correct de dire que les secours dans leur ensemble sont arrivés trop tard sur les lieux de l’accident. Une urgentiste était présente sur place dès le début et une seule ambulance a été retenue pendant quelques minutes. Le Conseil considère qu’il s’agit d’une imprécision.

Riassunto

La «Neue Zürcher Zeitung» non ha violato il suo dovere di dire la verità, in un commento riguardo alle attività degli attivisti per il clima, ma ha descritto i fatti in modo impreciso. Nel suo resoconto, l’autore aveva affermato che, per la prima volta, gli attivisti per il clima scesi in strada non erano più percepiti solo come un fastidio, ma anche come una minaccia alla vita umana. A Berlino, una ciclista è morta dopo essersi scontrata con una betoniera. «I servizi di emergenza, rimasti bloccati in un ingorgo causato dagli attivisti per il clima, sono arrivati tardi sul luogo dell’incidente» Il Consiglio della stampa ritiene che, sulla base dei documenti, non può essere risolta con certezza la questione dell’esistenza o meno di un nesso causale tra il blocco degli attivisti e la morte della vittima dell’incidente. Di conseguenza, non vi è alcuna prova di una violazione del dovere di dire la verità. Tuttavia, l’uso del plurale «servizi di emergenza» che sarebbero arrivati in ritardo sul luogo dell’incidente, non è corretta. Un medico di emergenza era presente fin dall’inizio e un’unica ambulanza è stata trattenuta per alcuni minuti. Il Consiglio della stampa ritiene che si tratti di un’imprecisione giornalistica.

I. Sachverhalt

A. Am 5. November 2022 erschien in der «Neuen Zürcher Zeitung» (NZZ) auf der Seite «Meinung und Debatte» ein Kommentar von Auslandchef Peter Rásonyi mit dem Titel «Klimakleber gefährden ihre eigenen Ziele». Darin stellt der Autor fest, dass Klimaaktivisten, die sich auf Strassen festklebten, erstmals nicht mehr nur als Ärgernis wahrgenommen würden, sondern als Gefährder von Menschenleben. In Berlin sei eine Velofahrerin gestorben, die mit einem Betonmischer kollidiert sei. «Die Rettungskräfte trafen verspätet am Unfallort ein, weil sie in einem Stau feststeckten, der durch Klimaaktivisten verursacht worden war.» Ausgehend von dieser Feststellung weitet der Autor das Thema dann aus auf andere Aspekte des zivilen Ungehorsams und die Frage, wie Politik und Gerichte auf Aktionen wie das Blockieren von Strassen reagieren sollten.

B. Am 7. November 2022 reichte X. Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Er macht geltend, der Kommentar verletze die Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten». Der fragliche Satz, wonach die Rettungskräfte in Berlin verspätet am Unfallort eingetroffen seien, weil sie in einem von Umweltaktivisten verursachten Stau festgesteckt seien, entspreche nicht der Wahrheit. Sowohl die «Süddeutsche Zeitung» wie auch der «Tages-Anzeiger» hätten schon am Vortag der Publikation des NZZ-Kommentars davon berichtet, dass laut Einschätzung der behandelnden Notärztin der von AktivistInnen verursachte Stau die Rettung der verunglückten Radfahrerin nicht beeinträchtigt habe. Der beigelegte Artikel des «Tages-Anzeiger» spricht von einem Dokument der Feuerwehr, das besage, eine Notärztin sei am Unfallort zugegen gewesen. Diese habe bereits entschieden, dass sie auf ein Anheben des Unfallfahrzeuges mittels des noch im Stau stehenden «Rüstwagens» der Feuerwehr verzichte. Selbst bei Anwesenheit dieses Fahrzeugs hätte sie es nicht zur Anwendung gebracht.

C. Mit Beschwerdeantwort vom 3. Januar 2023 beantragte die Rechtsabteilung der «Neuen Zürcher Zeitung», die Beschwerde sei vollumfänglich abzuweisen. Zur Begründung erklärt sie, der Ablauf der Rettungsbemühungen sei noch immer sehr umstritten. Laut Berliner Medien vom 9. November 2022 sei gemäss einem internen Abschlussdokument der Feuerwehr noch immer mindestens ungeklärt, inwieweit die Aktion der Klimaaktivisten die Rettung beeinträchtigt habe («Tageszeitung» TAZ 9. November 2022). Unbestritten sei aber, so die Stellungnahme der NZZ, dass Umweltaktivisten einen Stau verursachten und dass ein Spezialfahrzeug der Feuerwehr im Stau steckengeblieben sei. Deshalb leuchte es nicht ein, weshalb die Feststellung, «die Rettungskräfte trafen verspätet am Unfallort ein» falsch sein soll. Allenfalls könne der Plural «die Rettungskräfte» – statt «ein Rettungswagen» – als journalistische Ungenauigkeit, aber nicht als Verstoss gegen die Wahrheitspflicht gewertet werden. Wäre von «einem Rettungswagen» die Rede gewesen, hätte dies auf die Wahrnehmung der Leserschaft keinen Einfluss gehabt. Ohnehin sei diese Darstellung nur ein Aufhänger für das eigentliche, viel breitere Thema des Kommentars. Hinzu komme, dass der Autor die abweichende Darstellung in anderen Medien zum Zeitpunkt seiner Niederschrift nicht gekannt habe und dass schon deswegen ein Verstoss gegen die Wahrheitspflicht nicht gegeben sein könne.

D. Am 21. August 2020 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Präsidium behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Jan Grüebler, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin.

E. Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 6. November 2023 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Die fragliche Schilderung im Kommentar lautete: «Klimaaktivisten, die sich (…) auf Strassen festkleben, werden erstmals (…) auch als Gefährder von Menschenleben wahrgenommen. In Berlin ist soeben eine 44-jährige Velofahrerin gestorben, Sie war … mit einem Betonmischer kollidiert. Die Rettungskräfte trafen verspätet am Unfallort ein, weil sie in einem Stau feststeckten, der durch Klimaaktivisten verursacht worden war.» Diese Schilderung erweckt fraglos den Eindruck, die Blockade sei ursächlich dafür gewesen, dass der Frau nicht rechtzeitig habe beigestanden werden, ihr Leben nicht mehr habe gerettet werden können.

Der Beschwerdeführer zitiert zudem Quellen, laut denen eine Notärztin am Unfallort gegenwärtig war, das bedeutet, dass auch die Formulierung, wonach «die Rettungskräfte» (Plural) verspätet eingetroffen seien, so nicht richtig war. Es war zum fraglichen Zeitpunkt bereits eine Rettungskraft, eine Notärztin vor Ort. Laut der vom Beschwerdeführer zitierten Quelle («Tages-Anzeiger» vom 4. November 2022) sei diese Notärztin zudem zum Schluss gekommen, auch bei der sofortigen Verfügbarkeit von technischen Möglichkeiten wäre dem Opfer nicht mehr zu helfen gewesen. Auch das würde bedeuten, dass die Schilderung im Kommentar den Sachverhalt nicht richtig wiedergegeben, gegen die Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung» verstossen hätte.

2. Die NZZ verweist in ihrer Beschwerdeantwort umgekehrt auf einen Artikel der Berliner «Tageszeitung» vom 9. November 2022, welche ihrerseits auf den «Abschlussbericht» der Feuerwehr Bezug nahm. Dieser Text, vier Tage nach dem Kommentar erschienen, fünf Tage nach dem Bericht des «Tages-Anzeiger» und der «Süddeutschen», spricht davon, dass der «Rüstwagen» aufgrund des Staus mit acht Minuten Verspätung am Unfallort eingetroffen sei, wäre er ohne Behinderungen durchgekommen, hätte er nur eine Minute nach der Notärztin eintreffen können. Weiter wird in diesem Dokument gemäss TAZ festgehalten: «Die Entscheidung sei unter Zugrundelegung taktischer und medizinischer Gesichtspunkte und mangels von Alternativen zu diesem Zeitpunkt gefallen. Das (von der Notärztin gewählte, der Presserat) Verfahren sei grundsätzlich keine empfohlene Rettungstaktik, denn eine Gefährdung der verletzten Person ließe sich dabei nicht ausschließen, heißt es in dem Bericht.»

Der Presserat entnimmt diesen später bekannt gewordenen Schilderungen des Sachverhalts
– dass die Verzögerung des Eintreffens des Rettungswagens durch den Stau offenbar gering (acht Minuten), aber vielleicht doch entscheidend gewesen sein könnte
– dass die Rettungshandlungen am Unfallort offenbar ausgesprochen zeitkritisch gewesen sein müssen («Entscheidung mangels Alternativen zu diesem Zeitpunkt»)
– und dass laut dem Dokument, welches die TAZ zitiert, offenbar eine Rettungsmassnahme getroffen werden musste (wegrollen, statt Betonmischer hochheben), die aufgrund der Gefährdung der verletzten Person grundsätzlich nicht empfohlen wäre.

Insgesamt erscheint der Sachverhalt für den Presserat nicht genügend geklärt, um darüber zu entscheiden, ob die Darstellung «wahr» oder «falsch» war. Es trifft zwar nicht zu, dass die Rettungskräfte aufgrund des Staus nicht rechtzeitig am Unfallort gewesen seien. Eine Rettungskraft war unabhängig vom Stau schon vor dem Rettungswagen dort. Auch soll diese Ärztin zum Schluss gekommen sein, dass der Patientin unabhängig von den verfügbaren Mitteln nur noch mit einem Wegrollen des Betonmischers habe geholfen werden können. Auch dies widerspräche implizit der Darstellung im Kommentar, also der Kausalität Stau–Tod. Aber umgekehrt soll ein abschliessender Bericht der Feuerwehr der Grundannahme – Stau war nicht entscheidend – dennoch widersprechen. Mit dem acht Minuten früheren Eintreffen des Rettungswagens hätten weitere Handlungsmöglichkeiten bestanden. Das wiederum widerlegt zwar nicht gänzlich die vorhergehende Darstellung, aber es lässt Fragen offen.

Insgesamt sieht der Presserat eine falsche Darstellung im Sinne der Ziffer 1 der «Erklärung» nicht als belegt. Sehr wohl aber sieht er eine journalistische Ungenauigkeit in der Schilderung des Sachverhaltes aufgrund der Formulierung, die Einsatzkräfte (Plural) seien durch die Demonstrierenden blockiert worden.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. Die «Neue Zürcher Zeitung» hat mit dem Kommentar «Klimakleber gefährden ihre eigenen Ziele» vom 5. November 2022 die Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.