Nr. 27/2020
Wahrheit / Ansehen des Berufs / Quellenbearbeitung / Berichtigen

(X. c. «tagesanzeiger.ch»)

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I. Sachverhalt

A. Am 15. Juni 2019 veröffentlichte die Onlineseite des «Tages Anzeiger» (TA) einen von Denis von Burg und Mischa Aebi verfassten kurzen Artikel unter dem Titel «SVP-Ständerat soll Frauen mit obszönen Gesten beleidigt haben». Darin wird Bezug genommen auf ein Video, hergestellt von zwei Teilnehmerinnen des Frauenstreiks, welches diese auf Social Media verbreiteten. Die beiden Frauen machten darin geltend, so der Artikel, sie seien von SVP-Ständerat Roland Eberle vor dessen Wohnung aus dem ersten Stock mit Wasser übergossen und mit obszönen Gesten bedacht worden, nachdem sie dort vier Blättchen aus einem grossen Strauch gezupft hätten. Sie fänden ein solches Verhalten «jenseits von Gut und Böse» für einen Ständerat, es zeige einmal mehr, dass etwas geschehen müsse gegen den Sexismus. Für sie bestehe kein Zweifel, dass es sich um Ständerat Eberle gehandelt habe, eine Verwechslung sei ausgeschlossen, eine der beiden Frauen sei Thurgauerin und kenne Eberle. Dieser habe trotz mehrerer Versuche nicht für eine Stellungnahme erreicht werden können.

B. Am 26. Juni 2019 erhob X. Beschwerde gegen diese Publikation beim Schweizer Presserat und macht Verletzungen der Ziffern 1 (Wahrheit), 2 (Ansehen des Berufes), 3 (Fairness) und 5 (Berichtigungspflicht) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») geltend. Der Beschwerdeführer (BF) hält fest, die Geschichte sei eine «blanke Lüge» gewesen [inzwischen hatte sich herausgestellt, dass die Geschichte so nicht gestimmt hat]. Der BF rügt, die Autoren hätten merken müssen, dass die Geschichte unglaubhaft sei und hätten sie nachrecherchieren müssen. Es habe ja nicht geeilt mit dieser «abstrusen Meldung». Er stellt dann noch verschiedene Fragen an die Adresse der Chefredaktion des TA, die den Presserat nicht betreffen.

Der BF kritisiert im Einzelnen, dass der TA mit diesem Artikel eine Unwahrheit verbreitet und damit gegen Ziffer 1 der «Erklärung», die Verpflichtung zur Wahrheit, verstossen habe. Weiter füge das Verbreiten einer derartig unsinnigen, ungenügend recherchierten Geschichte dem Ansehen des Journalistenberufs Schaden zu (Ziffer 2 der «Erklärung»). Die Autoren hätten mit dem Bericht gegenüber dem betroffenen Ständerat Eberle das Prinzip der Fairness missachtet (vermeintlich Ziffer 3) und eine Berichtigung (Ziffer 5) sei nach seinem Wissen nie erfolgt.

C. Am 4. September 2019 beantragte die Rechtsabteilung der Tamedia die Abweisung der Beschwerde. Sie stellte einleitend klar, dass der Artikel von Autoren der «SonntagsZeitung» verfasst worden sei, der BF habe ihn aber sehr wohl schon am Samstagabend auf «www.tagesanzeiger.ch» sehen können. Im Namen beider Publikationen nimmt die Beschwerdegegnerin (BG) folgendermassen Stellung:

Zur Wahrheitspflicht: Sie räumt ein, dass sich die Vorwürfe gegen Roland Eberle als falsch herausgestellt hätten. Dass der Artikel dennoch publiziert worden sei, könne man aber nicht der ungenügenden Arbeit der Journalisten zuschreiben. Relevant für die Publikation sei allein, dass die Angelegenheit von öffentlichem Interesse sei und dass die Quellen glaubwürdig gewesen und sorgfältig überprüft worden seien. Fehler könnten auch bei sorgfältiger Arbeit passieren, das sei dann aber nicht mit einer Verletzung der Berufspflichten gleichzusetzen, das habe der Presserat schon in Stellungnahme 7/1993 festgehalten. Im Übrigen bringe es die erhöhte Schnelligkeit in der journalistischen Tätigkeit, insbesondere bedingt durch die Online-Auftritte, mit sich, dass Fehler nicht absolut vermeidbar seien. Die Quellen seien glaubwürdig gewesen, die eine Person sei überzeugt gewesen, den Ständerat klar erkannt zu haben, am Hauseingang habe auch Eberles Name gestanden, all dies sei geprüft worden. Hinzugekommen sei, dass Roland Eberle nicht erreichbar gewesen sei, von einem nationalen Politiker sei aber zu erwarten, dass er auch an einem Samstag erreichbar sei. Mit dieser Geschichte länger zuzuwarten sei keine Option gewesen, es habe pressiert, als Ereignis an sich und als Reaktion im Zusammenhang mit dem Frauenstreik habe es sich um eine dringliche Geschichte von öffentlichem Interesse gehandelt, um ein wichtiges und polarisierendes Ereignis.

Zum Vorwurf der Schädigung der Berufsehre macht die BG geltend, davon könne keine Rede sein; der Presserat habe im Zusammenhang mit Ziffer 2 der «Erklärung» verschiedentlich festgestellt, dass die Unabhängigkeit der Journalisten von grosser Bedeutung sei und dass sie ihre Meinung entsprechend äussern können müssten.

Zur Missachtung des Fairnessgebots gemäss der vom BF angeführten Ziffer 3 der «Erklärung» (Quellenbearbeitung): Die Journalisten hätten die Quellen sorgfältig beurteilt und bearbeitet. Da Ständerat Eberle keine Stellung bezog, habe kein Anlass bestanden, an ihnen zu zweifeln.

Und zur Berichtigungspflicht: Dieser seien der Verlag und die «SonntagsZeitung» ausführlich nachgekommen. Man habe sich bei der Person des Beschuldigten persönlich und bei der Leserschaft in der nächsten Ausgabe ausdrücklich und in roter auffälliger Aufmachung entschuldigt. Auch sei beim Auftauchen der Zweifel an der Geschichte sofort reagiert worden. Die Druckmaschinen seien gestoppt, der Artikel im Print entfernt, der Online-Artikel korrigiert worden, beides innert Minuten nach dem Dementi von Roland Eberle via sms.

D. Der Presserat teilte den Parteien am 17. September 2019 mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus Dominique von Burg, Präsident, Francesca Snider, Vizepräsidentin, und Max Trossmann, Vizepräsident.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 20. April 2020 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Die Beschwerde wurde fristgerecht eingereicht und erfüllt die formalen Anforderungen.

2. Bei der Frage, ob die Ziffer 1 (Wahrheitspflicht) der «Erklärung» verletzt wurde, kann kein Zweifel herrschen, dass die BG einen Text veröffentlicht hat, der klar nicht den Tatsachen entsprach. Die Frage stellt sich, ob genug unternommen wurde, um den Wahrheitsgehalt der Geschichte zu überprüfen (Wahrheitssuche, Richtlinie 1.1). Die BG macht geltend, die Quelle sei unter verschiedenen Gesichtspunkten überprüft worden, den Betroffenen selber zu den schweren Vorwürfen zu befragen sei nicht möglich gewesen, er sei an jenem Samstag nicht erreichbar gewesen, die Geschichte sei aber dringlich gewesen, ein wichtiges Thema, polarisierend, von öffentlichem Interesse, sie habe keinen weiteren Verzug ertragen.

Der Presserat kann dem nicht folgen: Ob ein Ständerat zwei Frauen mit Wasser begiesst und obszön beleidigt ist zwar in der Tat eine Geschichte von Relevanz, wenn sie denn stimmt. Aber OB sie stimmt, muss angesichts der Schwere des Vorwurfs von der Redaktion sichergestellt werden und dazu gehört – gerade in einem äusserst ungewöhnlichen Fall wie diesem und dem damit verbundenen schweren Vorwurf – die Konfrontation mit dem Betroffenen. Die Geschichte war dafür nicht zu dringend. Ob die Öffentlichkeit von einem derartigen Vorfall einen Tag früher oder später erfährt, ändert inhaltlich nichts. Die Redaktion hätte abwarten müssen, bis sie Roland Eberle mit dem Vorwurf hätte konfrontieren können. Dass die Redaktionen immer schneller arbeiten, um online sofort präsent zu sein, wie Tamedia das zu bedenken gibt, ist ihre eigene Politik; sie können sich nicht darauf berufen, wenn sie sich gerade deswegen zu wenig Zeit für gründliches Arbeiten nehmen.

3. Die Frage, ob mit diesem Bericht Ziffer 2 der «Erklärung» verletzt sei, die Berufsehre der Journalistinnen und Journalisten, stellt sich hier nicht, diese Ziffer der «Erklärung» bezieht sich auf die Verteidigung journalistischer Freiheiten gegenüber Druckversuchen. Ziffer 2 der «Erklärung» ist nicht verletzt.

Auch die Ziffer 3 der «Erklärung» ist nicht betroffen, die Redaktion macht glaubhaft, dass die Quellen geprüft, Anhaltspunkte wie etwa noch das Namensschild an der Tür und Ähnliches berücksichtigt worden sind.

Schliesslich ist auch eine Verletzung der Ziffer 5 (Berichtigungspflicht) nicht gegeben. Tamedia hat sofort reagiert, als sich herausstellte, dass die Geschichte nicht stimmt. Sie hat den Druck der «SonntagsZeitung» in kürzester Zeit gestoppt, den Artikel dort entfernt und online geändert; die überarbeitete Version mit Eberles Dementi wurde anderntags auch vom Netz genommen. Die Verantwortlichen haben sich im Weiteren sowohl persönlich gegenüber dem Beschuldigten als auch gegenüber dem Publikum deutlich entschuldigt und ihren Fehler damit natürlich auch hinlänglich thematisiert.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

2. «tagesanzeiger.ch» hat mit dem Artikel «SVP-Ständerat soll Frauen mit obszönen Gesten beleidigt haben» vom 15. Juni 2019 die Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Wahrheitspflicht) verletzt.

3. Die Ziffern 2 (Ansehen des Berufs), 3 (Quellenbearbeitung) und 5 (Berichtigung) der «Erklärung» wurden nicht verletzt.