Nr. 24/2019
Privatsphäre

(X. c. «Blick»)

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I. Sachverhalt

A. Am 13. November 2017 berichtete der «Blick» auf seiner Online-Seite «Blick.ch» unter dem Titel «Horror-Crash im Vollrausch» über einen tödlichen Verkehrsunfall auf der Autobahn A2 im Tessin. Ein «Raser» habe «sturzbetrunken» einen Roller gerammt, der Rollerfahrer sei noch auf der Unfallstelle gestorben. Der Unfallverursacher sei festgenommen worden, bei ihm sei ein Blutalkoholwert von über 2 Promille festgestellt worden. Ergänzt wird der erste Artikel mit einem – seinerzeit noch unverpixelten – Foto des Verstorbenen «Andrea T.» und mit verschiedenen Angaben über ihn: Er sei gebürtig aus Varese (I), wegen seiner Grösse hätten ihn seine Freunde «Giga» genannt, er sei eben erst Vater geworden, habe früher in einem Laboratorium in Zürich gearbeitet und sei erst kürzlich nach Morcote gezogen, von wo aus er täglich nach Locarno gependelt sei, dort habe er in einer Klinik einen Job gefunden.

Am folgenden Tag erschien ein zweiter Artikel». Unter der Spitzmarke «Besoffener Italiener (36) tötet bei Horror-Crash auf A2 Scooter-Fahrer (36)» folgt der Titel «Jetzt muss der Raser in U-Haft». Zuoberst im Artikel unter den drei anzuwählenden Bildern in der Bildergalerie befand sich eines, welches das Opfer mit seinem Baby im Arm zeigt, damals ebenfalls noch ganz unverpixelt. Die Bildlegende dazu: «Opfer Andrea T. war frischgebackener Papa.» Im Artikel wird wiederholt, was sich abgespielt habe: Der 36-jährige Täter, «Strassenrowdy», sei «mit erhöhter Geschwindigkeit über die A2 (…) geprescht» und habe schliesslich einen Scooter gerammt, dessen Fahrer sei dabei ums Leben gekommen. Der Täter müsse in Untersuchungshaft bleiben, ihm werde vorsätzliche Tötung vorgeworfen. Dass Andrea T. sterben musste, sei «ganz und gar die Schuld des Rasers».

Opfer «Andrea T. (36)», sei «ebenfalls gebürtiger Italiener», er sei erst vor einer Woche Vater geworden, Söhnchen Nicolas werde seinen Vater jetzt nie erleben, dieser sei Biologe, wohne in Morcote und arbeite in einem Spital in Locarno.

Ergänzt wird der Artikel mit Reaktionen aus der Öffentlichkeit («Zutiefst schockiert zeigt sich Staatsrat Norman Gobbi»).

B. X. reichte am 5. Februar 2018 Beschwerde beim Schweizer Presserat ein und machte eine Verletzung von Ziffer 7 (Privatsphäre) und Ziffer 4 (unlautere Beschaffung von Information) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») geltend.

Im ersten der beiden Artikel sei das Bild des Opfers unverpixelt zu sehen gewesen. Dies verstosse neben der Ziffer 7 der «Erklärung» insbesondere auch gegen die zur «Erklärung» gehörende Richtlinie 7.1 (Schutz der Privatsphäre). Weiter sei auch Richtlinie 7.8 (Notsituationen) verletzt, welche verbietet, Bilder von Verstorbenen zu zeigen, es sei denn, es liege ein überwiegendes öffentliches Interesse vor. Die Veröffentlichung des Bildes verstosse im Übrigen auch gegen Ziffer 4 der «Erklärung» (keine unlauteren Methoden beim Beschaffen von Bildern). Das Bild stamme laut Google-Suche aus dem Internet, entsprechend habe keine Zustimmung der Angehörigen vorgelegen.

Im Weiteren verletze neben dem Bild auch der Inhalt des Artikels die Ziffern 4 und 7 der «Erklärung», insbesondere seien Richtlinie 7.1 und 7.2 (Schutz der Privatsphäre und Identifizierungsverbot) missachtet und zwar indem der Artikel das Opfer mit unnötig vielen Details beschreibe, welche dieses identifizierbar machten.

Am zweiten Artikel beanstandet der Beschwerdeführer Verstösse gegen Ziffer 7 der «Erklärung» und gegen die Richtlinien 7.1 sowie 7.2, weil auch hier wieder unnötig viele Details über das Opfer dieses identifizierbar machten und zwar auch ausserhalb seines persönlichen Umfelds und seiner Arbeitskollegen. So werde neben Wohn- und Arbeitsort hier auch der Name des Sohnes genannt und der Beruf des Opfers.

C. Der Beschwerdegegner «Blick.ch» nahm mit Schreiben vom 20. März 2018 Stellung zur Beschwerde. Zunächst wird eingewandt, dass der Beschwerdeführer kein eigenes Interesse an der Angelegenheit geltend mache. «Blick» konzediert dann aber gleich, dies sei auch nicht nötig. Weiter konzediert die Redaktion, dass beim ersten Artikel ein Bild nicht unkenntlich gemacht worden sei. Dies sei ein Versehen gewesen, was schon dadurch belegt sei, dass dies bei allen anderen Bildern geschehen sei. Und der Fehler sei behoben, die internen Abläufe überprüft worden, als das Versehen – noch vor Einreichung der Beschwerde – bemerkt worden sei. Richtlinie 7.8 sei nicht anwendbar, weil auf keinem Bild ein Verstorbener herausgehoben worden sei. Was im Weiteren die unlauteren Methoden zur Beschaffung von Informationen angehe (Ziffer 4 der «Erklärung»), so sei nicht einzusehen, worin diese bestanden haben sollen.

Die Angaben über die Berufstätigkeit und sonstigen Verhältnisse des Verstorbenen seien sachlich zutreffend und verletzten die Privatsphäre des Verstorbenen nicht, zumal sich weder die Witwe noch andere Verwandte über die Berichte beschwert hätten. Es gehöre «zur Tragik des Falles, konkret zu schildern, wen es mitten aus dem Leben herausreissen kann, wenn Betrunkene auf der Autobahn fahren». Beschwerdeführer X. erläutere nicht, weshalb das Schutzinteresse des Betroffenen überwiegen soll. Ein mitfühlender Bericht, den die nächsten Angehörigen nicht angreifen, habe jedenfalls nicht die Vermutung der Persönlichkeitsverletzung gegen sich. Insbesondere sei die Behauptung, der Arbeitsort sei erkennbar, unbegründet.
Unbegründet sei auch die Kritik am zweiten Artikel: Die Nennung des Namens des Sohnes verletze die Vorgaben des Berufsstandes so wenig wie die Angabe des Berufs oder des Wohn- und Arbeitsortes des Opfers.

D. Am 5. April 2018 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 22. Juli 2019 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Zunächst zu den Bildern: Der Beschwerdeführer macht geltend, es seien unverpixelte Bilder des Opfers gezeigt worden, das verstosse gegen Ziffer 7 der «Erklärung» und insbesondere auch gegen Richtlinie 7.1. Weiter sei auch Richtlinie 7.8 (Notsituationen) verletzt, welche verbietet, Bilder von Verstorbenen zu zeigen, es sei denn, es liege ein überwiegendes öffentliches Interesse vor. Die Veröffentlichung des Bildes verstosse im Übrigen auch gegen Ziffer 4 der «Erklärung» (keine unlauteren Methoden bei der Beschaffung von Bildern). Das Bild stamme laut Google-Suche aus dem Internet, entsprechend habe keine Zustimmung der Angehörigen vorgelegen. Der Beschwerdegegner bestreitet den Sachverhalt des fehlenden Unkenntlichmachens nicht, macht aber geltend, es habe sich um ein Versehen gehandelt, man habe auch die ganzen Abläufe, die zum Fehler geführt hätten, überarbeitet. Wann «Blick» die Bilder schliesslich verpixelt hat, wird nicht angeführt.

Wer Bilder von Privatpersonen ohne deren Zustimmung veröffentlicht – oder im Fall von Todesopfern ohne die Zustimmung der Angehörigen – der verstösst gegen die Ziffer 7 der «Erklärung» und Richtlinie 7.1. Der Beschwerdeführer schliesst aus den Umständen, dass eine solche Zustimmung nicht vorgelegen habe, die Redaktion bestreitet das nicht, sie stellt für ihre Position nur fest, von den Angehörigen habe niemand reklamiert. Das ändert aber nichts an der behaupteten fehlenden Zustimmung der Angehörigen.

Dass «Blick.ch» den Fehler – wie von Richtlinie 5.1 gefordert – von sich aus korrigiert und auch die relevanten Abläufe überarbeitet hat, und dass alle anderen Bilder der «Galerie» verpixelt gewesen waren, lässt den Verstoss insgesamt als wenig gravierend erscheinen. Aber das Bild wurde unverpixelt publiziert und das ist per se ein Verstoss gegen Richtlinie 7.1.

2. Wenn der Beschwerdeführer sagt, auch Richtlinie 7.8 (Notsituationen, Abs. 3: Bilder, auf denen Verstorbene zu sehen sind …) sei verletzt, dann trifft das nicht zu. Dieser Passus bezieht sich auf die Abbildung einer Leiche, nicht auf Bilder aus der (lebendigen) Vergangenheit.

3. Der Beschwerdeführer macht weiter geltend, Ziffer 4 der «Erklärung» sei verletzt, weil «Blick.ch» die Bilder auf unlauterem Weg beschafft habe. Es seien Fotos, welche die Redaktion vom Internet heruntergeladen habe. Der Beschwerdegegner bestreitet das nicht ausdrücklich, sondern bemerkt pauschal, es sei nicht ersichtlich, worin die unlautere Beschaffung bestehen soll. Diese Diskussion erübrigt sich: Selbst wenn man aufgrund der Aktenlage davon ausgehen könnte, dass eine unlautere Beschaffung und Veröffentlichung von Bildern – ohne die Zustimmung der Angehörigen – vorgelegen habe, wäre dieser Sachverhalt schon in der bereits festgestellten Verletzung von Richtlinie 7.1 (Recht am eigenen Bild und Wort) enthalten.

4. Was den Text, den Inhalt der beiden Artikel angeht, so macht der Beschwerdeführer geltend, es würden so viele Details über das Opfer bekanntgegeben, dass es für eine breitere Öffentlichkeit identifizierbar werde. Das verstosse gegen die Ziffern 4 und 7 der «Erklärung» und insbesondere gegen Richtlinie 7.1 und 7.2 (Schutz der Privatsphäre, Unzulässige Identifikation).

Was die Ziffer 4 der «Erklärung» betrifft, so wird nicht erwähnt, worin die «unlautere Methode» in der Beschaffung der Informationen bestanden haben soll. Ziffer 4 wird mit dem Text nicht verletzt.

Was die Richtlinien 7.1 und 7.2 betrifft, so bestreitet «Blick.ch» einen Verstoss und macht geltend, die Angaben zur Person des Verstorbenen seien sachlich zutreffend. Darum geht es hier aber nicht, es geht darum, ob die Angaben hätten publiziert werden dürfen. Weiter wird seitens des «Blick.ch» angeführt, weder die Witwe noch Verwandte hätten sich beschwert. Auch das kann nicht ausschlaggebend sein. Es ist nicht alles zulässig, wogegen sich niemand beschwert. Das dritte Argument des Beschwerdegegners lautet, es sei wichtig, konkret darzustellen, wen es mitten aus dem Leben reissen könne, wenn Betrunkene auf der Autobahn unterwegs seien. Auch dieses Argument würde eine allfällige Identifizierung nicht rechtfertigen, diese Problematik lässt sich auch darstellen, ohne dass man das Opfer identifizierbar macht. Schliesslich wird geltend gemacht, es sei unersichtlich, warum das Schutzinteresse des Opfers überwiegen solle. Die kurze Antwort darauf lautet: Weil die «Erklärung» dies so regelt: Der Schutz der Privatsphäre hat Vorrang, es sei denn, eine Ausnahme sei durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt (Ziffer 7 der «Erklärung»). Nicht das Opfer muss ein Schutzinteresse geltend machen, wie der «Blick» impliziert, sondern die Redaktion muss das öffentliche Interesse am Nennen der identifizierenden Fakten nachweisen.

Damit bleibt die Frage, ob die von «Blick» angeführten Details das Opfer des Verkehrsunfalls identifizierbar gemacht haben für Dritte, «die nicht zur Familie oder zum beruflichen Umfeld des Betroffenen gehören, also ausschliesslich durch die Medien informiert wurden», wie Richtlinie 7.2 dies umschreibt.

«Blick.ch» hat im ersten Artikel genannt: Vornamen und Anfangsbuchstabe des Nachnamens (Andrea T.), Geburtsort (Varese [I]), Aussehen (auffallend gross), Übername deswegen (Giga), Alter (36), Vater eines Neugeborenen, früherer Arbeitsort (Labor in Zürich), Wohnort (Morcote), Arbeitsort (Locarno), Art des Arbeitgebers (Klinik). In Artikel zwei kommen noch hinzu: Vorname des Kindes (Nicolas), ursprünglicher Beruf des Getöteten (Biologe).

Mit diesen sehr detaillierten Angaben wurde das Opfer über den von Richtlinie 7.2 definierten Kreis hinaus identifizierbar, etwa für die Nachbarn am Wohnort, für entfernte oder frühere Bekannte. Diesen und anderen gegenüber hätte das Opfer nur mit Zustimmung der Angehörigen in dieser ausführlichen Weise kenntlich gemacht werden dürfen. Richtlinie 7.2 ist damit verletzt.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

2. «Blick.ch» hat mit den Artikeln «Horror-Crash im Vollrausch» vom 13. November 2017 und «Jetzt muss der Raser in U-Haft» vom 14. November 2017 durch die Veröffentlichung von unverpixelten Bildern ohne Zustimmung der Angehörigen die Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.

3. «Blick.ch» hat in den genannten Artikeln die Ziffer 7 der «Erklärung» auch deshalb verletzt, weil das Unfallopfer mit der Angabe zu vieler Details identifizierbar gemacht wurde.

4. In den übrigen Punkten wird die Beschwerde abgewiesen. «Blick.ch» hat weder gegen Ziffer 4 der «Erklärung» (Unlautere Methoden beim Beschaffen von Information) verstossen noch gegen Ziffer 7 unter dem Aspekt «Veröffentlichung der Bilder von Verstorbenen».