Nr. 23/2022
Wahrheit

(X. c. «Luzerner Zeitung»)

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I. Sachverhalt

A. Am 4. November 2021 erschien in der «Luzerner Zeitung» ein Text unter dem Titel «Dieser Mann soll jetzt das Klima retten: Nach dem Abzug von Biden, Merkel & Co. ist in Glasgow jetzt Alok Sharma am Zug». Der Untertitel beziehungsweise der Lead zum Artikel lautete «Alok Sharma war mal Flüchtlingskind und Investmentbanker. Jetzt präsidiert er den Klimagipfel in seinem ganz eigenen Stil.» Im folgenden Text wird die Person des Vorsitzenden der Uno-Konferenz über den Klimawandel 2021 («COP26», 26. Konferenz der Parteien, 26th Conference of the Parties») vorgestellt. Seine Eltern seien mit ihm als Fünfjährigem aus dem indischen Agra nach England ausgewandert, er habe später dort Karriere gemacht, zunächst als Investmentbanker, später als konservativer Politiker. Sein Migrationshintergrund habe ihm geholfen, in der Tory-Partei Karriere zu machen, er sei Wirtschaftsminister geworden, seit einem Jahr habe er sich als Minister ohne Portefeuille auf die Klimapolitik und damit auf seine Aufgabe als Vorsitzender der Klimakonferenz vorbereiten können. Im Folgenden wird er dann weiter charakterisiert.

B. Am 2. Februar 2022 reichte X. Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Er macht geltend, der Lead verletze die Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»), respektive die zugehörige Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche). Die Feststellung, Sharma sei ein Flüchtlingskind, sei falsch, ohne jede Faktengrundlage «phantasiert». Der Politiker sei als Kind mit seinen Eltern nach England emigriert, ihn als Flüchtlingskind zu bezeichnen sei ein «eklatanter Blackout» und nicht nur eine «journalistische Ungenauigkeit». Der Vater des Porträtierten sei ein «distinguiertes und ehrenwertes Mitglied der britischen Gesellschaft», ausgezeichnet als O.B.E., als «Officer of the British Empire», ihn als Flüchtling zu bezeichnen liege an der Grenze zur Ehrenrührigkeit sowohl Sharmas Vater als auch dessen Herkunftsland Indien gegenüber. Dieser Bezeichnung liege ein «verschrobenes und latent rassistisches Weltbild» zugrunde.

C. Mit Beschwerdeantwort vom 18. März 2022 konzedierte der Chefredaktor der Zentralredaktion von CH Media, Patrik Müller, im Namen der «Luzerner Zeitung», dass die Bezeichnung «Flüchtlingskind» in der Tat nicht zutreffe, dass man deswegen den Lead online angepasst und eine entsprechende Fussnote angebracht habe, welche den Sachverhalt richtiggestellt habe, mit dem Wortlaut: «In einer ersten Fassung hiess es im Vorspann, Alok Sharma sei mal Flüchtlingskind gewesen. Er übersiedelte aber, wie es im Haupttext korrekt heisst, als Fünfjähriger mit seinen Eltern von Indien nach England.» Den Vorwurf des «verschrobenen Weltbildes» weist der Chefredaktor zurück, aus dem Text gehe korrekt hervor, welchen Weg Alok Sharma gemacht habe und wie er zum Präsidenten des Klimagipfels geworden sei.

D. Am 29. April 2022 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Präsidium behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Max Trossmann, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin.

E. Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 20. Juni 2022 verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Fest steht, dass der Lead zum Artikel hinsichtlich der Art der Übersiedelung der Familie Sharma aus Indien nach England mit «Flüchtlingskind» eine unrichtige Behauptung enthielt. Jedenfalls gibt es keinen Hinweis darauf, dass es sich um eine Flucht gehandelt hat. Im Text des Artikels selber wird der Sachverhalt hingegen korrekt dargestellt. Bezogen auf den Lead ist eine falsche Tatsachendarstellung festzustellen, was CH Media auch konzediert. Für den übrigen Inhalt des Artikels gilt das nicht.

2. Es stellt sich die Frage, ob es sich hier um einen vollwertigen Verstoss gegen die journalistische Wahrheitspflicht handelt oder allenfalls eher um eine Ungenauigkeit im Sinne der bisherigen Praxis des Presserates. Der Beschwerdeführer geht davon aus, dass es sich nicht nur um eine Ungenauigkeit handle und begründet dies zum einen mit der Vita des Vaters des Porträtierten, der sich grosse Verdienste erworben habe und mit «Flüchtling» schlecht umschrieben wäre. Zum anderen begründet er das mit der Bemerkung, dass eine solche falsche Bezeichnung auf ein «verschrobenes, um nicht zu sagen latent rassistisches» Weltbild schliessen lasse.

Dass der Vater des Porträtierten ein ehrenwertes Mitglied der britischen Gesellschaft gewesen sein mag, würde nicht ausschliessen, dass er zunächst Flüchtling war, wie der Beschwerdeführer letztlich selber auch feststellt. Und dass die Bezeichnung «Flüchtlingskind» einem «verschrobenen» oder «latent rassistischen Weltbild» entspringe, ist als Argument für einen Verstoss schon deswegen nicht von Belang, weil im Artikel selber der Sachverhalt exakt und richtig beschrieben ist, was nicht der Fall wäre, wenn dem Beitrag insgesamt das behauptete verwerfliche Weltbild zugrunde gelegen hätte.

Weiter ist festzustellen, dass es beim Ausdruck «Flüchtlingskind» nicht um einen wesentlichen Inhalt des Artikels geht. Ob die Eltern des in seinem eigenen Leben sehr erfolgreichen Alok Sharma als Flüchtlinge oder als sonstige Emigranten nach Grossbritannien gekommen sind, ist kein zentraler Punkt des Artikels, allenfalls ein Randaspekt. Und, wie erwähnt, dieser Sachverhalt wird anschliessend im Artikel korrekt beschrieben. Analog zum Entscheid 81/2021 und weiteren geht der Presserat deswegen insgesamt von einer journalistischen Ungenauigkeit aus.

Gleichzeitig weist er die Redaktionen aber einmal mehr darauf hin, dass Schlagzeilen zwar «zugespitzt» sein, aber inhaltlich keine falschen Angaben enthalten dürfen.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. Die «Luzerner Zeitung» hat mit dem Artikel «Dieser Mann soll jetzt das Klima retten: Nach dem Abzug von Biden, Merkel & Co. ist in Glasgow jetzt Alok Sharma am Zug» vom 4. November 2021 die Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.