Nr. 23/2018
Wahrheitspflicht / Meinungspluralismus / Berichtigung / Leserbriefe

(X. c. «Südostschweiz»)

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I. Sachverhalt

A. Am 22. April 2017 veröffentlichte die «Südostschweiz» unter dem Titel «Warum sollte sich die Minderheit der Mehrheit fügen?» ein Interview mit «Philosophie-Professor Georg Kohler (71) über die Türkei, knappe Entscheidungen und rote Linien der Demokratie». Darin stellt Pascal Ritter Georg Kohler u.a. die Frage, ob es etwas gebe, über das man nicht abstimmen dürfen sollte. Kohler antwortet: «Ja, zum Beispiel über die Todesstrafe. Das Verbot der Todesstrafe gehört zum Kern des europäischen Völkerrechts und damit zum Sockel der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie, auf den man sich historisch geeinigt hat.» Auf den Hinweis des Journalisten, in den USA werde sie in einigen Bundesstaaten vollstreckt, antwortet Kohler: «Aber im europäischen Kontext ist die Todesstrafe ausgeschlossen. Das ist ein kategorisches Verbot im Rechtsverständnis unseres Kontinents. Grundsätzlich sollte man Prinzipien sicher nur sparsam einsetzen. Die Menschenrechte sind nicht verhandelbar.»

B. Am 22. Mai 2017 reichte X. beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen die «Südostschweiz» ein wegen der Weigerung, seinen Leserbrief zu publizieren. Er habe am 23. April 2017 einen Leserbrief an die Redaktion der «Südostschweiz» geschickt, in dem er auf eine Falschaussage des Professors in Bezug auf eine mögliche Volksabstimmung über die Todesstrafe hingewiesen habe. Eine Woche später habe er sich per E-Mail direkt an Chefredaktorin Martina Fehr gewandt mit dem Hinweis, die Angelegenheit dem Schweizer Presserat zur Kenntnis zu bringen. Mit der Weigerung, seinen Leserbrief mit der Richtigstellung der Aussagen von Georg Kohler zu veröffentlichen, sei Richtlinie 2.2 (Meinungspluralismus) zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») verletzt worden. Unter Meinungspluralismus verstehe er die Pflicht des Journalismus, auch nicht genehme andere Ansichten der Öffentlichkeit bekanntzugeben. Die Richtigkeit der Aussage des Professors in Bezug auf die Todesstrafe sei nicht überprüft, sondern als Tatsache weitergegeben worden. Damit sei Richtlinie 3.1 (Quellenbearbeitung), erster Satz verletzt. Dass seine Richtigstellung zudem weder als Leserbrief noch als redaktionelle Mittteilung veröffentlicht worden sei, verletze die Richtlinien 5.1 (Berichtigungspflicht) und 5.2 (Leserbriefe und Online-Kommentare).

C. Chefredaktorin Martina Fehr nahm am 13. August 2017 für die «Südostschweiz» Stellung zur Beschwerde. X. habe sich bereits mehrmals bei der Redaktionsleitung und bei ihr direkt beschwert. Die «Südostschweiz» habe einige seiner Leserbriefe, welche die Wiedereinführung der Todesstrafe forderten, nicht abgedruckt. X. berufe sich auf das Recht der freien Meinungsäusserung. Frei äussern könne er sich, die «Südostschweiz» drucke jedoch keine Leserbriefe ab, die ihren berufsethischen Normen widersprächen. Richtlinie 5.2 zur «Erklärung» halte fest, dass diese Norm auch für die Veröffentlichung von Leserbriefen und Online-Kommentaren gälten. Die Forderung nach einer Wiedereinführung der Todesstrafe sei mit den ethischen Normen, wie sie die «Südostschweiz» vertrete, nicht kompatibel. Es sei Usus, dass die Redaktion entscheide, ob sie einen Leserbrief publiziere oder nicht. Der Ratgeber des Presserats halte dazu unmissverständlich fest: «Redaktionen sind in der Auswahl der Leserbriefe frei. Sie sind nicht verpflichtet, einen bestimmten Leserbrief abzudrucken.» Von diesem Recht habe die «Südostschweiz» Gebrauch gemacht. Sie halte die freie Meinungsäusserung hoch und sei dezidiert der Meinung, dass sie gerade in der heutigen Zeit nicht als Deckmantel für unethische Forderungen herhalten solle. Die Redaktion habe somit Richtlinie 5.2 nicht verletzt.

D. Am 6. November 2017 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 23. Juli 2018 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. In seinem Leserbrief führt der Beschwerdeführer aus, die Aussage Georg Kohlers, das Verbot der Todesstrafe gehöre zum Kern des europäischen Völkerrechts und dieses schliesse die Todesstrafe aus, sei falsch. Art. 2 Abs. 1 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) laute: «Das Recht jedes Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt. Niemand darf absichtlich getötet werden, ausser durch Vollstreckung eines Todesurteils, das ein Gericht wegen eines Verbrechens verhängt hat, für das die Todesstrafe gesetzlich vorgesehen ist.» Eine Abstimmung über die Wiedereinführung der Todesstrafe wäre daher seiner Ansicht nach menschenrechtskonform. Es wäre interessant zu erfahren, wie sich das Schweizervolk angesichts der in letzter Zeit verübten grauenhaften Verbrechen (z.B. Vierfachmord in Rupperswil) dazu äussern würde.

Indem der Beschwerdeführer geltend macht, die Aussagen von Georg Kohler seien falsch, macht er implizit eine Verletzung von Ziffer 1 der «Erklärung» geltend. Diese verlangt von Journalistinnen und Journalisten, dass sie sich an die Wahrheit halten und sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten lassen, die Wahrheit zu erfahren. Der Presserat hält fest, dass Georg Kohler im Interview nicht sagt, die EMRK schliesse die Todesstrafe formell aus. Kohler sagt, eine solche Abstimmung sollte nicht stattfinden, da sie im Widerspruch stünde zum grundsätzlichen Rechtsverständnis des europäischen Kontinents, oder genauer: «Das Verbot der Todesstrafe gehört zum Kern des europäischen Völkerrechts und damit zum Sockel der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie, auf den man sich historisch geeinigt hat.» Damit drückt er seine Meinung aus. Dies ist für die Leserin und den Leser erkennbar. Eine Verletzung von Ziffer 1 der «Erklärung» liegt somit nicht vor. Soweit sich der Beschwerdeführer zudem auf Richtlinie 3.1 (Quellenbearbeitung) beruft, so ist diese Bestimmung im vorliegenden Fall nicht anwendbar – die interviewte Person ist bekannt.

2. Richtlinie 2.2 (Meinungspluralismus) hält fest: «Der Meinungspluralismus trägt zur Verteidigung der Informationsfreiheit bei. Er ist notwendig, wenn sich ein Medium in einer Monopolsituation befindet.» Der Beschwerdeführer macht nicht geltend, dass sich die «Südostschweiz» in einer Monopolsituation befindet, weshalb diese Frage offenbleiben kann. Grundsätzlich lässt sich jedoch festhalten, dass die Nichtveröffentlichung eines Leserbriefes nicht zur Folge hat, dass damit automatisch ein Verstoss gegen den Meinungspluralismus einherginge. In Bezug auf Leserbriefe ist diese Bestimmung in Verbindung mit Richtlinie 5.2 (Leserbriefe und Online-Kommentare) zu lesen. Danach ist der Meinungsfreiheit gerade auf der Leserbriefseite ein grösstmöglicher Freiraum zuzugestehen, weshalb die Redaktion nur bei offensichtlichen Verletzungen der «Erklärung» einzugreifen hat. Gemäss ständiger Praxis des Presserats entscheiden Redaktionen nach eigenem Ermessen über die Veröffentlichung von Leserbriefen. Sie sind nicht verpflichtet, im Einzelfall einen bestimmten Leserbrief zu veröffentlichen. Chefredaktorin Fehr hält fest, die Redaktion habe einige von X.s Leserbriefen, in welcher er die Wiedereinführung der Todesstrafe fordere, nicht abgedruckt. E contrario wurden somit durchaus Leserbriefe von X. abgedruckt. Die Richtlinien 2.2 und 5.2 sind somit nicht verletzt.

3. Richtlinie 5.1 zur Berichtigungspflicht hält fest, dass Medienschaffende diese unverzüglich von sich aus wahrnehmen. Die materielle Unrichtigkeit betrifft die Fakten und nicht die sich auf erwiesene Fakten abstützenden Werturteile. Wie oben ausgeführt ist Georg Kohler keine materielle Unrichtigkeit vorzuwerfen. Richtlinie 5.1 ist damit nicht anwendbar.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. Die «Südostschweiz» hat mit der Nichtveröffentlichung eines Leserbriefes zum Interview mit Georg Kohler vom 22. April 2017 die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht), 2 (Meinungspluralismus) und 5 (Berichtigung, Leserbriefe) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.