Nr. 22/1999
Veröffentlichung rassistischer Leserbriefe, Stellungnahme des Presserates vom 13. Dezember 1999

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I. Sachverhalt

A. Nationalrätin Cécile Bühlmann, Vizepräsidentin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus und Elio Bollag, Lugano, machten den Presserat darauf aufmerksam, dass in Leser-briefen der Rassismus trotz der Rassismus-Strafnorm weiterhin seine Blüten treibt. Der Presse-rat beschloss darauf, das Thema aufzugreifen. Die erste Kammer, bestehend aus Roger Blum als Präsident und Sylvie Arsever, Sandra Baumeler, Enrico Morresi und Edy Salmina als Mit-glieder, nahm sich der Sache an. Ein Sitz war während der Behandlung vakant. B. Mit einer Umfrage erkundigte sich der Presserat bei schweizerischen Tageszeitungen, wel-che Regeln für die Behandlung von Leserbriefen bestehen und wie die Redaktionen mit (latent) rassistischen Leserbriefen umgehen. Aus der Suisse romande antworteten die Zeitungen „24 heures“, „Tribune de Genève“, „Le Matin“, „Le Temps“, „La Liberté“, „L’Express“ und „Le Quotidien Jurassien“, aus der deutschen Schweiz die „Basler Zeitung“, die „Berner Zeitung“, der „Bund“ und das „Thuner Tagblatt“ und aus der italienischen Schweiz der „Corriere del Ti-cino“. Aus den Antworten ging hervor, dass die Redaktionen Regeln und Richtlinien für den Umgang mit Leserbriefen kennen, die allerdings nicht überall schriftlich fixiert sind, und dass sie nach ihrer eigenen Einschätzung bei rassistischen und sonstwie diskriminierenden Leserbrie-fen äusserst restriktiv sind und keine abdrucken. „24 heures“ beispielsweise erhielt 1997 zum Thema nachrichtenlose Vermögen / Schweiz im Zweiten Weltkrieg 400-500 Leserbriefe, dar-unter latent rassistische. Bei der „SonntagsZeitung“ trafen anfangs 1997 im Zusammenhang mit dem vertraulichen Strategiepapier Botschafter Carlo Jagmettis und dem Interview Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz‘ Hunderte von ziemlich rassistischen Briefen ein. Die schlimmen Briefe wurden nicht gedruckt. C. In einem Hearing befragte die erste Kammer des Presserates Mitglieder der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus, nämlich Vizepräsidentin Boël Sambuc, Thomas Lyssy sowie die Sekretäre Doris Angst Yilmaz und Michele Galizi; den Präsidenten des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes, Dr. Rolf Bloch; den Zentralpräsidenten der Vereinigung für kritische Mediennutzung ARBUS, Rechtsanwalt Dr. Fredi Hänni; den auf Rassismus speziali-sierten Journalisten Hans Stutz; sowie Felix Thurner als Leserbriefredaktor des „Tages-Anzeigers“. Die Hearings machten deutlich, dass nicht nur sehr viele rassistische Leserbriefe auf den Redaktionen eingehen, sondern dass entgegen der Einschätzung der Redaktionen ein Teil davon auch abgedruckt wird. Einige Hearings-Teilnehmer legten dem Presserat Beispiele vor.

II. Erwägungen

1. Die Medien erfüllen neben vielen anderen Funktionen auch eine Artikulationsfunktion: Sie geben den Menschen die Möglichkeit, sich über ihre Kanäle öffentlich zu äussern. Sie dienen als Resonanzboden für die Sorgen, Klagen, den Ärger und den Frust, aber auch die Freuden der Leute. Auf Leserbriefseiten, bei Strassenumfragen, vor offenen Mikrofonen und in Diskus-sionssendungen können auch Nicht-Prominente Dampf ablassen. Da die Versammlungskom-munikation an Bedeutung verloren hat, bieten die Medien Ersatz-Plattformen und Foren an, damit die Menschen von ihrer Meinungsäusserungsfreiheit Gebrauch machen können. 2. Ein wichtiges Forum bilden die Leserbriefseiten der Zeitungen und Zeitschriften. Hier kön-nen sich Autorinnen und Autoren tummeln, die nicht Medienschaffende sind und die sich den-noch über das Medium an die Öffentlichkeit wenden. Für Personen, die Leserbriefe schreiben, gelten nicht die gleich strengen Massstäbe der Verständlichkeit, Sachrichtigkeit, Überprüfbarkeit wie für Journalistinnen und Journalisten; ihr Spielraum ist grösser. Doch völlige Narrenfreiheit können Leserbriefredaktionen nicht zulassen. Auch bei Leserbriefen müssen sie Regeln beach-ten – Regeln von Gesetz und Rechtsprechung, aber auch Regeln der Ethik. 3. Die journalistische Ethik gilt für Journalistinnen und Journalisten, und zwar für formulieren-de, fotografierende, filmende, vertonende, produzierende, selektionierende, redigierende und gestaltende Medienschaffende. Leserbriefe werden genau so wie andere Beiträge einer Zeitung oder Zeitschrift nach journalistischen Gesichtspunkten selektioniert und redigiert. Ihre Bearbei-tung unterliegt den Regeln des Journalismus. Darum ist es nur logisch, dass auch die Regeln journalistischer Ethik sinngemäss auf sie angewandt werden. Denn auch der öffentliche Diskurs auf einer Leserbriefseite soll nach den Prinzipien der Fairness ablaufen. Wenn Leserbriefe rassi-stisch oder sonstwie diskriminierend sind, wenn sie also die Angehörigen einer Ethnie, einer Religion oder einer gesellschaftlichen Gruppe mit einem negativen Klischee behaften und brandmarken, dann enthalten sie „sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen“. Dann ist Ziffer 7 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ verletzt. Und wenn Medienschaffende zulassen, dass sich Leserbriefe nicht an die Wahrheit halten, dann ist Ziffer 1 der „Erklärung“ verletzt. Die Redaktionen können zwar nicht alles verifizieren. Aber sie können Leserbriefe zurückweisen, die offensichtlich falsche Aussagen enthalten. 4. Die Grundsätze der Fairness und der Achtung der Menschwürde, die der journalistischen Berufsethik zugrundeliegen, verlangen nach einer Beschränkung der Meinungsäusserungsfrei-heit, wenn die Medien als Plattform für rassistische Äusserungen missbraucht werden sollen. Leserbriefe stellen Öffentlichkeit her, sie gehen über das private Gespräch oder den Stammtisch hinaus. Die meisten Zeitungen kennen bei ihren Regeln zwar keine expliziten Richtlinien für den Umgang mit rassistischen Leserbriefen. Dennoch herrscht unter den Redaktionen der unabge-sprochene Konsens, dass unwahre, diffamierende, menschenverachtende, beleidigende, frem-denfeindliche und rassistische Leserbriefe nicht veröffentlicht werden sollen und dass ethnische oder religiöse Gruppen den gleichen Schutz geniessen wie Individuen. Tatsache ist aber, dass immer wieder zahllose rassistische Leserbriefe auf den Redaktionen ein-treffen und dass immer wieder problematische, weil latent rassistische Leserbriefe durchschlüpfen. Eindeutig rassistische Äusserungen sind solche, die Personen und Gruppen wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Ethnie oder ihrer Religion diffamieren, und dies ist besonders stossend, weil Menschen in ethnische Gruppen hineingeboren werden und die Zugehörigkeit zu ihr so wenig abstreifen können wie die Zugehörigkeit zu einem durch die Tradition einer Religion geprägten Kulturkreis. Latent rassistisch sind Briefe, die Menschen oder Gruppen indirekt diffamieren oder dies bloss andeuten; sie bewegen sich in der Grauzone zwischen den eindeutig rassisti-schen und den unproblematischen. Im Einzelfall kann es zwar schwierig und umstritten sein, ob eine Aussage in einem Leserbrief als zulässige politische Kritik oder bereits als zumindest latent rassistisch, diskriminierend, herabsetzend usw. zu werten ist. Bei jeder Aussage ist deshalb kritisch zu fragen, ob damit eine angeborene oder kulturell erworbene Eigenschaft herabgesetzt oder ob herabsetzende Eigenschaften kollektiv zugeordnet werden, ob lediglich Handlungen der tatsächlich dafür Verantwortlichen kritisiert werden oder ob die berechtigte Kritik an Einzelnen in ungerechtfertigter Weise kollektiviert wird, selbst wenn dies nur unterschwellig zum Aus-druck kommt. Dementsprechend muss es zulässig sein, die ethnischen Säuberungen der serbi-schen Regierung anzuprangern. Unzulässig und diskriminierend wäre es hingegen, alle Serben kollektiv als Völkermörder zu bezeichnen oder zu unterstellen, alle Serben seien Kriegstreiber. „Le Matin“ veröffentlichte beispielsweise am 24. Mai 1997 total 49 Leserbriefe, von denen über
40 die Haltung der Schweiz im Zweiten Weltkrieg verteidigten, insbesondere auch gegenüber den jüdischen Flüchtlingen. Dies ist gravierend, weil die Leserbriefseite kein Stammtisch ist. Gravierend ist auch, wenn Redaktionen die Leserinnen und Leser explizit auffordern, zu Vor-fällen mit Ausländerinnen und Ausländern Leserbriefe zu schreiben, indirekt also den Rassis-mus anheizen. Unverständlich ist ferner, dass Leserbriefe gedruckt werden, in denen beispiels-weise unterstellt wird, dass „die Israeli (gemeint sind die Schweizer Juden) mit dem bisher Er-reichten sich noch lange nicht zufriedengeben“ („Basellandschaftliche Zeitung“ vom 4. Dezem-ber 1998), in denen gefragt wird: „Wo bitte schön, wären wohl die ‘Schweizer’ Juden und an-deren Flüchtlinge (Ungarn, Tschechen usw.) geblieben, wenn sie nicht in unserem Land aufge-nommen worden wären? (…) Wem es in der Schweiz nicht passt, soll gehen“ („Tages-Anzeiger“ vom 12. November 1998), oder in denen bedauert wird, dass nie eine Karikatur „des viel beschworenen hässlichen, geldgierigen Juden“ erscheint („Tages-Anzeiger“ vom 18. Fe-bruar 1999). Die Diskussion über die Schweiz im Zweiten Weltkrieg hat antisemitischen Leser-briefen Auftrieb gegeben. Je nach Aktualität (Kosovo-Konflikt, Kurden-Proteste usw.) sind die Briefe jedoch plötzlich auch antialbanisch, antikurdisch, antitürkisch usw. Für solche gilt die gleiche Sorgfaltspflicht. 5. Der Journalismus steckt allerdings in einem echten Dilemma: Wenn eine rassistische Strö-mung aufkommt, die sich in Leserbriefen Luft verschafft, dann ist dies journalistisch ein The-ma, das an die Öffentlichkeit gehört. Müsste das Publikum nicht darüber informiert werden, dass rassistische Tendenzen an Bedeutung gewinnen, nicht zuletzt darum, damit sich auch Ge-genkräfte mobilisieren können? Müssten also rassistische Leserbriefe nicht gerade deshalb pu-bliziert werden, damit die Öffentlichkeit aufgeschreckt wird? Umgekehrt gilt: Jede publizierte rassistische Äusserung, auch wenn sie nicht offensichtlich die Strafnorm verletzt, diskriminiert eine Gruppe und verstösst gegen ethische Regeln. Und jede publizierte rassistische Äusserung heizt auch zusätzlich den Rassismus an. Wie also können Journalistinnen und Journalisten dem Dilemma entrinnen? Es gibt ein einfaches Rezept: Wenn in den eingehenden Leserbriefen sicht-bar wird, dass eine rassistische, fremdenfeindliche oder sonstwie diskriminierende Bewegung anschwillt, dann müssen nicht die Leserbriefe veröffentlicht werden. Dann muss dies zum (journalistisch bearbeiteten) Thema werden in den normalen Spalten der Zeitung. Rassismus ist ein Thema. Aber rassistische Briefe gehören nicht ohne Analyse und Kommentar in die Zeitung. 6. Liberalität und Restriktivität der Redaktionen müssen nicht über alle Zeiten gleich sein. Wie Fredi Hänni im Hearing überzeugend darlegte, sollten die Redaktionen auch den Kontext mit-einbeziehen: Ist die Stimmung in der Bevölkerung entspannt und tolerant, dann hat auch einmal ein Brief Platz, der sich über eine gesellschaftliche Gruppe kritisch äussert. Ist die Stimmung aber angeheizt, wird die Lage für Minderheiten geradezu bedrohlich, dann müssen die Medien latent rassistische Leserbriefe strikt zurückweisen. Dann sollten die Printmedien restriktiver redigieren und die elektronischen Medien bei Direktsendungen einen Filter einbauen. Und im Zweifelsfall sollten sie Briefe, die gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen Intoleranz zeigen, nicht publizieren. 7. Ein besonderes Problem ergibt sich daraus, dass viele fremdenfeindliche und latent rassisti-sche Leserbriefe organisiert werden. Die meisten Zeitungen lehnen Leserbriefe ab, die gleich-lautend an eine ganze Gruppe von Medien gehen. Doch oft ist es nicht möglich, individuelle Leserbriefe von gesteuerten zu unterscheiden. Es empfiehlt sich, dass die Redaktionen auch die Leserbriefseiten anderer Blätter beobachten. Und es empfiehlt sich, dass die Redaktionen die Funktionen der Leserbrief-Verfasserinnen und -Verfasser mitteilen, also beispielsweise schrei-ben: „Markus Meier, Vorstandsmitglied der Schweizer Demokraten“, oder „Myrta Müller, Kantonsrätin der SP“. Dies rechtfertigt sich allerdings nur, wenn sich Personen zu Themen äussern, die im Zusammenhang mit ihren Funktionen stehen. Dann aber hilft der Zusatz, Trans-parenz herzustellen.

III. Feststellungen

1. Verfasserinnen und Verfasser von Leserbriefen haben Anspruch auf die grösstmögliche Meinungsäusserungsfreiheit.

2. Die ethischen Regeln der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Jour-nalisten“ gelten auch für die redaktionelle Bearbeitung von Leserbriefen.

3. Rassistische, diskriminierende und fremdenfeindliche Leserbriefe, auch wenn deren Ten-denz bloss latent ist, sind zurückzuweisen, denn ihre Veröffentlichung würde Ziff. 7 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ verletzen. Enthalten sie zudem offensichtliche Unwahrheiten, so verstösst ihre Veröffentlichung auch gegen Ziff. 1 der „Erklärung der Pflichten und Rechte“.

4. Treffen massenhaft rassistische und diskriminierende Leserbriefe ein, so sollte das Thema ausserhalb der Leserbriefseite journalistisch-analytisch behandelt werden. Zu diesem Zweck ist ein intensiver Informationsaustausch zwischen Leserbriefredaktion und übriger Redaktion wichtig.

5. Je aufgeheizter die Stimmung der Bevölkerung ist, umso strikter ist auf latent diskriminie-rende Leserbriefe zu verzichten und umso geringer ist der Spielraum der Meinungsäusserungs-freiheit.

6. Systematisch gesteuerte Leserbriefe, die latent rassistisch oder diskriminierend sind und die gleichzeitig an zahlreiche Medien gesandt werden, sind abzulehnen.

7. Die Redaktionen sollen nach Möglichkeit Transparenz darüber herstellen, wer einen Leser-brief verfasst hat, indem sie die Funktion der jeweiligen Person angeben.