Nr. 21/2022
Wahrheit

(X. c. «Tages-Anzeiger»)

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I. Sachverhalt

A. Am 3. November 2021 erschien im «Tages-Anzeiger» ein Interview mit Justizministerin Karin Keller-Sutter unter dem Titel «Das Vertrauen der Opfer lässt sich nicht über das Strafrecht herstellen» und dem Untertitel «In der Schweiz werden jährlich Dutzende Frauen von ihren Männern getötet».

B. Am 23. Dezember 2021 reichte X. Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Er macht geltend, der Untertitel verletze die Ziffer 1 (das Wahrheitsgebot) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»), wenn im Plural von Dutzenden von Frauen die Rede sei, die jährlich von ihren Männern umgebracht würden. Zur Begründung legt er Verbrechenszahlen des Bundesamtes für Statistik (BfS) vor, aus denen hervorgeht, dass zwischen 2009 und 2020 jeweils zwischen 14 und 24 Frauen im Rahmen von häuslicher Gewalt umgebracht worden seien. Der Beschwerdeführer fährt weiter, selbst wenn im laufenden Jahr 2021 – «wie von Aktivisten behauptet» – 26 solche Fälle zu verzeichnen sein sollten, rechtfertige sich noch immer nicht der Plural von «Dutzenden Frauen» die «jährlich» so zu Tode gekommen seien. Im Durchschnitt seien das knapp 19 Fälle. Ziehe man noch die vermutliche Anzahl von Kindestötungen, also von getöteten Mädchen ab, die in dieser Zahl wohl mitenthalten seien, dann komme man auf noch wesentlich geringere Zahlen, es blieben dann im Schnitt noch rund ein Dutzend Frauen pro Jahr, die von Partnern getötet werden. In jedem Fall aber sei die Formulierung, wonach jährlich «Dutzende» getötet würden, falsch.

C. Mit Beschwerdeantwort vom 31. März 2022 beantragte die Rechtsabteilung der TX Group im Namen des «Tages-Anzeiger», die Beschwerde sei abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei.

Den Antrag auf Abweisung begründet der «Tages-Anzeiger» damit, dass der Ausdruck «Dutzend» zweierlei Bedeutung habe: Zum einen bezeichne er die Zahl 12, respektive der Plural davon jeweils ein Vielfaches von 12. Zum anderen werde die Pluralform im allgemeinen Sprachgebrauch auch verwendet mit der Bedeutung «eine grosse Menge» oder «eine unbestimmte grosse Anzahl». Zum Beleg für die zweite Bedeutung wird auf Definitionen des Duden (grosse Anzahl), des Deutschen Wörterbuchs der Deutschen Sprache (unbestimmte grössere Anzahl) und des Wörterbuchs von Pons (sehr viele) verwiesen. Diese zweite Bedeutung von «Dutzende» sei heute die gebräuchlichere. Die Redaktion bestreitet im Einzelnen die Annahmen des Beschwerdeführers, was die allfällige Anzahl von Mädchen betrifft, die aus der Berechnung noch abgezogen werden müssten, kommt aber wie der Beschwerdeführer zum Schluss, dass im Durchschnitt der Fälle eine niedrigere Zahl als 24 pro Jahr, also als die zwei Dutzend im engeren Wortsinn, zu verzeichnen seien. Er geht aber davon aus, dass «Dutzende» im Sinne von «grosse Menge», «unbestimmte grosse Anzahl» heute gebräuchlicher sei und dass entsprechend von einem Verstoss gegen die Wahrheitspflicht bei dieser Formulierung nicht die Rede sein könne.

D. Am 21. August 2020 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Präsidium behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Max Trossmann, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin.

E. Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 30. Mai 2022 verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Es ist davon auszugehen, dass im heutigen Sprachgebrauch mit «Dutzende» nicht nur die exakten Multiplikationen von 12 gemeint sind. Es ist aber auch davon auszugehen, dass das «Dutzend» durchaus immer noch in seiner ursprünglichen engeren Form bekannt ist, als eine Anzahl von 12. In der Kombination dieser beiden Gegebenheiten geht der Presserat davon aus, dass mit Dutzende im Plural irgendeine grosse Anzahl gemeint ist, die jedenfalls über 24 liegen sollte, also über dem zweiten Dutzend. Dafür sprechen letztlich auch die vom «Tages-Anzeiger» genannten Umschreibungen von «eine grosse Menge» oder «eine unbestimmte grosse Anzahl».

2. Der Presserat hat die verschiedenen Statistiken zum Thema Femizide in der Schweiz konsultiert und dabei festgestellt, dass es unterschiedliche Kriterien sind, die zu den durchaus unterschiedlichen Zahlen geführt haben. Bei der einen Statistik sind beispielsweise auch Tötungen von Mädchen mitgerechnet und solche von Schweizer Frauen im Ausland, was zu höheren Zahlen führt.

Wenn man von durchschnittlich 19 Fällen im Jahr ausgeht, worin sich Beschwerdeführer und «Tages-Anzeiger» letztlich einig waren (letzterer spricht von einem Durchschnitt «niedriger als 24»), kann nach dem Dafürhalten des Presserates weder von «Dutzenden» nach der engen Definition gesprochen werden, also nicht von 24 oder mehr. Das gilt aber auch nach der weiteren Definition, auf die sich die Redaktion stützt: 19 sind nicht wirklich «eine grosse Menge» und auch nicht «eine unbestimmte grosse Anzahl». Bei durchschnittlich 19 Fällen pro Jahr von «jährlich Dutzenden» zu sprechen, erscheint entsprechend als irreführend.

Einen eigentlichen Verstoss gegen die Wahrheitspflicht kann der Presserat darin aber dennoch nicht erkennen, denn die Differenz ist letztlich gering. Am Problem ändert sich effektiv wenig, ob jährlich durchschnittlich 17, 19 oder 25 Frauen von ihren Partnern ermordet werden. Und diese Anzahl war im beanstandeten Text auch von untergeordneter Bedeutung. Der Presserat geht deswegen nur von einem handwerklichen Fehler aus und empfiehlt, den Ausdruck «Dutzende» nur zu verwenden, wenn eine Anzahl von mehr als 24 gemeint ist.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. Der «Tages-Anzeiger» hat mit dem Untertitel «In der Schweiz werden jährlich Dutzende Frauen von ihren Männern getötet» vom 3. November 2021 die Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Wahrheitsgebot) nicht verletzt.