Nr. 20/2019
Wahrheitspflicht / Umgang mit Quellen / Berichtigungspflicht

(X. c. «20 Minuten / Tilllate»)

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I. Sachverhalt

A. Am 10. Januar 2018 veröffentlichte «20 Minuten» in seiner Online-Jugend-Rubrik «Tilllate» einen Artikel gezeichnet vom «Team Tilllate» mit dem Titel «Google-Entwickler klagt wegen Männer-Diskriminierung». Der Lead lautet: «Der kontroverse Ex-Google-Mitarbeiter James Damore verklagt nach seinem Rauswurf den Tech-Riesen. Dieser soll weisse, konservative Männer angeblich diskriminieren.» Im Text wird erläutert, Damore habe seine Stelle verloren, weil er medienwirksam seine Meinung unter anderem über den geringen Anteil an Frauen in der Tech-Branche kundgetan habe. Wegen dieser Kündigung verklage er nun seinen ehemaligen Arbeitgeber. Hinter dem Passus «geringer Anteil an Frauen» wird in Klammern Damores angebliche Position skizziert: «Frauen seien biologisch einfach nicht so weit entwickelt wie Männer». Weiter wird ausgeführt, Damores Anwaltskanzlei teile mit, es werde ein Prozess wegen «Diskriminierung gegen weisse, konservative, heterosexuelle Männer» angestrebt. Google diskriminiere nämlich nicht nur ihren Mandanten, sondern auch andere Männer «kaukasischer Herkunft» mit «konservativen politischen Ansichten». Und später schreibt das Tilllate-Team «James Damore fühlt sich jedenfalls in seiner weissen, konservativen, Heteromann-Ehre verletzt und kämpft gegen dieses Unrecht mit einer Armada von Anwälten an».

B. Am 12. Januar 2018 reichte X. Beschwerde beim Schweizer Presserat gegen den Artikel ein mit der Begründung, dieser verstosse gegen Ziffer 1 (Wahrheitspflicht), Ziffer 3 (Umgang mit Quellen), Ziffer 5 (Berichtigungspflicht) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung» genannt). Insbesondere verstosse der Text auch gegen die zur «Erklärung» gehörenden Richtlinien 1.1 (Wahrheitssuche), 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) und 5.1 (Berichtigungspflicht).

Zur Begründung macht X. geltend, die zusammenfassende Charakterisierung von Damores Position in der Klammer «Frauen seien biologisch einfach nicht so weit entwickelt wie Männer» sei unwahr. In dessen online verfügbarem Manifest sage er das so nicht. Weiter: Die Textstelle, wonach sich Damore in seiner «weissen, konservativen Heteromann-Ehre verletzt» fühle, stimme auch nicht, denn aus der Klageschrift gehe hervor, dass Damore seinen Arbeitgeber nicht wegen Ehrverletzung verklage, sondern wegen Rassen- und Geschlechterdiskriminierung. Schliesslich wirft der Beschwerdeführer «Tilllate» vor, eine Textstelle falsch übersetzt zu haben. Damores Anwälte hätten nicht gesagt, Google diskriminiere «andere Männer kaukasischer Herkunft mit konservativen politischen Ansichten», sondern aus der Zusammenfassung der Klageschrift, die auch online zu finden sei, gehe der Wortlaut hervor «perceived conservative political views», also aufgrund der «so aufgefassten konservativen politischen Ansichten». Dieser Unterschied sei relevant, weil damit die beklagte Wahrnehmung des Arbeitgebers zur Wesensart des Klägers (Damore) umgedeutet werde. All diese Sachverhalte verletzten Ziffer 1 (Wahrheitspflicht) und Ziffer 3 (Umgang mit Quellen).

Richtlinie 2.3 ist laut dem Beschwerdeführer verletzt, weil mit zwei Formulierungen nicht Tatsachen, sondern Behauptungen oder Unterstellungen geäussert würden, das verletze die Trennung von Fakten und Kommentar. Die Formulierungen lauten: «James Damore fühlt sich jedenfalls in seiner weissen, konservativen Heteromann-Ehre verletzt und kämpft gegen dieses Unrecht an» und «Sexismus und Diskriminierung gibts eben auch andersrum, scheint seine Devise zu sein».

Richtlinie 5.1 schliesslich ist laut dem Beschwerdeführer verletzt, weil «Tilllate» online verschiedentlich aufgefordert worden sei, diese Fehler zu berichtigen, dies aber nicht getan habe.

C. Mit Schreiben vom 7. März 2018 antwortet die Tamedia als Herausgeberin von «20 Minuten/Tilllate» und beantragt Nichteintreten, eventualiter Ablehnung der Beschwerde. Zum Vorwurf, «Tilllate» habe die Position von Damore gegenüber den Frauen nicht korrekt wiedergegeben, räumt sie ein, Damore schreibe zwar nicht direkt, Frauen seien weniger entwickelt. Aber er spreche von biologischen Unterschieden, die sich unter anderem in geringerer Stresstoleranz äusserten. Er benenne damit eine angeblich biologisch begründete Schwäche von Frauen. Daraus zu schlussfolgern, Damore behaupte, Frauen seien biologisch weniger weit entwickelt, erscheine deshalb legitim und nicht unwahr.

Auch die Passage, wonach sich der Kläger Damore in seiner «weissen, konservativen Heteromann-Ehre» verletzt fühle, sei nicht zu beanstanden. Diese Aussage impliziere keineswegs, dass Damore vor Gericht wegen Ehrverletzung klagen werde. Aus dem Text werde klar, dass vielmehr wegen Diskriminierung gegen weisse, konservative, heterosexuelle Männer geklagt werde. Hier würden keine falschen Tatsachen wiedergegeben.

Schliesslich verneint die Beschwerdegegnerin, dass die Übersetzung des Passus über die Diskriminierung seitens von Google gegen «Männer mit konservativen politischen Ansichten» ein verfälschendes Bild entstehen lasse. Durch das Weglassen von «perceived» werde der Inhalt nicht wesentlich verändert. Das «perceived» signalisiere, dass letztlich Google darüber entscheide, wer diesem Bild eines konservativen Mannes entspreche. Die ursprüngliche Wahrnehmung des Arbeitgebers werde durch diese Verkürzung demnach auch nicht – wie behauptet – zur Wesensart von Damore erklärt. Es gehe hier vielmehr um eine journalistische Zusammenfassung wie sie üblich und legitim sei.

Zum Vorwurf, «Tilllate» habe Richtlinie 2.3, die Verpflichtung, Fakten und Kommentar zu trennen, verletzt, hält Tamedia fest, dies sei nicht der Fall. Richtlinie 2.3 schreibe nicht vor, dass jede kommentierende Einschätzung in einem Bericht speziell zu kennzeichnen sei. Dies gelte erst recht für eine Website wie «Tilllate», den «grössten progressiven Jugendkanal», welcher «nicht nur nüchternen News-Journalismus» produziere, sondern oft «zu bestimmten Themen auch persönliche, oft auch provokante Thesen».

Zum Vorwurf, Richtlinie 5.1 sei verletzt, schreibt die Beschwerdegegnerin, angesichts der Tatsache, dass man keine Fehler gemacht habe, habe auch keine Verpflichtung zu einer Berichtigung bestanden.

D. Am 13. März 2018 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 8. Juli 2019 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. a) Ziffer 1 der «Erklärung» verlangt von Journalistinnen und Journalisten, dass sie sich an die Wahrheit halten. Sie lassen sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten, die Wahrheit zu erfahren. Die im «Tilllate»-Artikel dem Kläger James Damore zugeschriebene Haltung, Frauen seien biologisch einfach nicht so weit entwickelt wie Männer, unterscheidet sich in einem inhaltlich erheblichen Punkt von der vom Beschwerdeführer nachgewiesenen und von der Beschwerdegegnerin anerkannten Formulierung. Dort ist davon die Rede, dass aufgrund biologischer Unterschiede Frauen mehr Angst und tiefere Stresstoleranzen hätten und dass dies zu einer kleineren Zahl von Frauen auf Stellen mit hoher Stressbelastung führe. Hier wird zwar in der Tat auf einen behaupteten biologischen Unterschied hingewiesen, aber nicht mit der zusätzlichen Bewertung, dass Frauen deswegen nicht so weit entwickelt seien wie Männer. Dieser Zusatz seitens der Redaktion ist durch keine Quelle gestützt, er verletzt die Wahrheitspflicht (Ziffer 1 der «Erklärung»).

b) Der Kritik des Beschwerdeführers, wonach die Wahrheitspflicht verletzt sei mit der Textpassage, wonach sich «Damore jedenfalls in seiner Ehre verletzt» fühle, ist hingegen nicht stattzugeben: Der Beschwerdeführer verweist darauf, dass das angebliche Gefühl des Verletztseins von Damore dadurch widerlegt werde, dass dieser gar nicht auf Ehrverletzung geklagt habe, sondern auf Diskriminierung. Der Presserat befindet: Dass Damore auf Diskriminierung klagt, schliesst eine verletzte Ehre nicht aus. Die verletzte Ehre ist die journalistische Einschätzung eines Motivs für eine Klage und damit nicht zu beanstanden.

c) Auch die dritte Passage, in welcher der Beschwerdeführer einen Verstoss gegen die Wahrheitspflicht sieht, ist nicht zu beanstanden: Dass das Wort «aufgefasst» in der fraglichen zusammenfassenden Übersetzung nicht vorkommt, ändert den Inhalt des Textes nicht erheblich. Jedenfalls ist es nicht so, wie der Beschwerdeführer meint, dass damit die beklagte Wahrnehmung des Arbeitgebers zur Wesensart Damores umgedeutet werde. Hierin ist der Beschwerdegegnerin zuzustimmen, eine Verletzung von Ziffer 1 der «Erklärung» liegt nicht vor.

2. Es stellt sich die Frage, ob mit der zu beanstandenden Passage (oben 1. a) auch Ziffer 3 der «Erklärung» (Umgang mit Quellen) verletzt wurde. Unabhängig davon, ob man im Zusatz «weniger weit entwickelt» einen falschen Umgang mit der Quelle oder eine journalistische Fehlinterpretation sieht: Der allfällige Verstoss gegen Ziffer 3 wäre ohnehin durch die Verletzung von Ziffer 1 erfasst.

3. Der Beschwerdeführer kritisiert, der Artikel enthalte wertende Formulierungen, sei aber nicht als Kommentar gekennzeichnet und verletze damit Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar). Dem ist nicht zuzustimmen: Journalistische Beiträge beinhalten häufig bestimmte Bewertungen, damit fallen sie noch nicht unter eine Kennzeichnungspflicht als Kommentar. Kommentare sind Texte, in denen die Meinung oder Einschätzung des Autors zu einem Sachverhalt das zentrale Element bildet. Das war hier nicht der Fall. Richtlinie 2.3 ist mit den beiden angeführten Bemerkungen nicht verletzt. Solange die Leserschaft solche Wertungen klar als jene des Autors beziehungsweise einer Redaktion erkennen kann, liegt keine Vermischung von Fakten und Kommentar vor.

4. Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung von Ziffer 5 (Berichtigungspflicht) geltend, weil «Tilllate» trotz mehrfacher Aufforderung keine Richtigstellung veröffentlicht habe. Die Herausgeberin geht davon aus, dass dies nicht nötig war, weil der Inhalt nicht zu beanstanden gewesen sei. Das trifft für 4 von 5 Punkten auch zu, im ersten Fall der falschen Wiedergabe der Position von Damore über den angeblich weniger weit entwickelten biologischen Zustand der Frauen jedoch nicht. In diesem Punkt wäre eine Richtigstellung erforderlich gewesen.

III. Feststellungen

1. Der Presserat heisst die Beschwerde teilweise gut.

2. «Tilllate / 20 Minuten» hat mit der unrichtigen Zusammenfassung eines Standpunkts die Ziffer 1 (Wahrheitspflicht) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt. Diese Passage hätte entsprechend auch berichtigt werden müssen, in diesem Punkt ist auch Ziffer 5 (Berichtigungspflicht) verletzt.

3. Bezüglich aller vier weiteren beanstandeten Punkte hat «Tilllate» weder Ziffer 1 noch Ziffer 2 (Trennung von Fakten und Kommentar) oder 5 (Berichtigung) verletzt. Eine allfällige Verletzung von Ziffer 3 (Umfang mit Quellen) wäre mit derjenigen von Ziffer 1 abgedeckt.