Nr. 1/2010
Respektieren der Privatsphäre von Personen des öffentlichen Lebens und ihrer Kinder

(Suter c. «Blick»)

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I. Sachverhalt

A. Am 2. September 2009 brachte der «Blick» als Frontaufmacher die Schlagzeilen «Drama um Star-Autor Suter: Sohn erstickt! Toni (3) verschluckte sich beim Essen». Ein Foto zeigte das Kind so gross, dass es den Zeitungskopf mit dem Schriftzug «Blick» zur Hälfte abdeckte. Daneben war ein kleineres Bild des Autors Martin Suter eingeklinkt. Die Artikel dazu füllten die Seiten 2 und 3 der Ausgabe. Hauptbild dieser Doppelseite war ein Foto des Kindergrabes mit Kreuz, Blumenschmuck und einem Porträt des Jungen, das die Eltern auf sein Grab gestellt hatten. Dieses Bild hatte der «Blick» auf seiner Titelseite reproduziert. Zwei Artikel beschäftigten sich mit dem Unfalltod des Kindes: Ein Bericht, in dem unter anderem eine Sprecherin von Schutz und Rettung Zürich zitiert wird, und ein Interview mit einem Arzt des Kinderspitals über die Nothilfe bei Erstickungsgefahr.

B. Am 4. September 2009 berichteten die deutsche Zeitung «Bild» und ihre Online-Ausgabe «Bild.de» vom Tod des Kindes, illustriert mit Bildern des Grabes und des Jungen, die sie vom «Blick» bekommen hatten.

C. Mit Eingabe vom 11. September 2009 reichte Martin Suter beim Presserat Beschwerde gegen den «Blick» ein. Er rügte, die Zeitung habe ohne Einwilligung das private Foto seines Kindes verwendet, als Titelbild benutzt und an andere Medien weiterverkauft. Dies sei eine Verletzung der Privatsphäre und des Rechts auf das eigene Bild seiner Kinder. Der Beschwerdeführer wies darauf hin, dass er sich bereits im Juni 2007 gegen die Publikation von privaten Fotos seiner Kinder durch den «Blick» gewehrt habe. Gemäss Richtlinie 7.4 zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend kurz «Erklärung» genannt) hätten auch Kinder von Prominenten Anrecht auf besonderen Schutz ihrer Privatsphäre. Ausserdem rügte der Beschwerdeführer die Aussagen von Mitarbeitern von Schutz und Rettung und des Kinderspitals und fragte, ob dies nicht die Richtlinien 4.6 (Recherchegespräche) und 7.2 (Personen in Notsituationen/Interviews in Spitälern) verletze.

D. Am 29. September 2009 schrieb der Beschwerdeführer an «Bild» und «Bild.de» und klärte sie über die Herkunft und die Hintergründe des Porträts seines verstorbenen Sohnes auf. Daraufhin gab die Rechtsvertreterin der beiden Medien am 6. Oktober je eine schriftliche Unterlassungserklärung ab, in der sich «Bild» bzw. «Bild.de» rechtsverbindlich verpflichteten, das betreffende Foto in ihren Archiven zu sperren und nicht erneut zu verbreiten – und sollte es schuldhaft dennoch geschehen, sei eine vom Beschwerdeführer festzusetzende Vertragsstrafe zu zahlen.

E. In seiner Beschwerdeantwort vom 2. Oktober 2009 beantragte der Anwalt des «Blick», die Beschwerde sei abzuweisen. Ein Foto auf einem Grab eines öffentliches Friedhofes sei so wenig privat wie das Grab selbst. Der «Status als Kind eines Prominenten» ändere daran nichts, «sondern im Gegenteil begründet dieser das Informationsinteresse an diesem Fall». Zwar bestätigte der Rechtsvertreter der Beschwerdegegnerin, dass der «Blick» sich 2007 für die unerlaubte Publikation eines Fotos der Kinder des Beschwerdeführers entschuldigt und das Bild in seinen Archiven gelöscht hatte. Doch habe sich der «Blick» damals nicht verpflichtet, nie mehr Bilder der Kinder des Beschwerdeführers zu publizieren. Und das aktuelle Bild vom Grab des Jungen sei nicht identisch mit dem von 2007. Die zitierten Aussagen von Mitarbeitern von Schutz und Rettung sowie des Kinderspitals Zürich verstiessen nicht gegen die medienethischen Grundsätze der «Erklärung». Die Zitierten hätten ihre Aussagen quittiert. Und das Interview mit dem Kinderarzt sei nicht im Spital geführt worden. Zudem schütze Richtlinie 7.2 die Privatsphäre von Patienten vor Interviews, nicht aber die Spitalmitarbeiter.

F. In seiner Replik vom 18. Oktober 2009 bekräftigte der Beschwerdeführer, die Beschwerde wende sich nur gegen die separate Publikation des Porträts seines Sohnes und nicht gegen das Foto des gesamten Grabes. Das Porträt – eine Auftragsarbeit, deren Rechte beim Diogenes-Verlag lägen – sei ein Teil des Grabschmucks, dessen Blumen einen Teil des Bildes verdeckt hätten. Um es als Titelfoto zu verwenden, habe der «Blick» es vergrössern und bearbeiten müssen. So sei ein verdecktes Stück Bein durch elektronische Retuschen ergänzt worden. Das Foto sei nicht nur separat reproduziert, sondern auch als separates Bild an andere Medien verkauft worden.

G. Die Beschwerdegegnerin bestritt in ihrer Duplik vom 24. Dezember 2009 sowohl jede elektronische Manipulation des Kinderporträts als auch die Urheberrechte des Diogenes-Verlages an diesem Bild. Zudem gehe es hier nicht um Urheberrechtsfragen, sondern um eine behauptete Verletzung der Privatsphäre. Das Personenbild auf dem Grab sei jedermann zugänglich und dürfe veröffentlicht werden. Der Beschwerdeführer selbst habe sich in einem Interview mit dem «Spiegel» (Nr. 48/2009) auch zum Tod seines Sohnes geäussert, «so dass sich die Frage stellt, wie glaubwürdig das von ihm vorgetragene Diskretionsargument ist». Aus diesen Gründen sei die Beschwerde abzuweisen.

H. Der Presserat wies die Beschwerde seiner 3. Kammer zu; ihr gehören Esther Diener-Morscher als Präsidentin an, sowie Thomas Bein, Andrea Fiedler, Peter Liatowitsch, Daniel Suter und Max Trossmann. Claudia Landolt Starck, ehemalige Mitarbeiterin des «Blick», trat von sich aus in den Ausstand.

I. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 7. Januar 2010 und auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Es geht in dieser Beschwerde zur Hauptsache um die Privatsphäre von Personen des öffentlichen Lebens und ihrer Familie. In zweiter Linie erhebt die Beschwerde den Vorwurf, die Zeitung «Blick» habe bei der Informationsbeschaffung im Kinderspital, bei Schutz und Rettung Zürich und auf einem Friedhof unlautere Methoden angewandt.

2. a) Ziffer 7 der «Erklärung» verpflichtet Medienschaffende, die Privatsphäre der einzelnen Person zu respektieren, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlange. Richtlinie 7.3 präzisiert diesen Grundsatz mit Blick auf prominente Personen: Fotografien und Fernsehbilder von Personen des öffentlichen Lebens haben dem Umstand Rechnung zu tragen, dass auch diese Personen ein Recht auf eine Privatsphäre und ihr eigenes Bild haben. Richtlinie 7.4 betont das besondere Schutzbedürfnis von Kindern; dies gelte auch für Kinder von Prominenten.

b) Der Presserat hat sich in mehreren Stellungnahmen mit dem Schutz und den Grenzen der Privatsphäre von Personen des öffentlichen Lebens befasst (unter anderen in den Stellungnahmen 20/1999, 42/2000, 62/2002 und 52/2006). Er anerkannte, dass bei dieser Personengruppe die Grenzen des geschützten Bereichs der Privatsphäre enger gezogen seien; dennoch bestimmten Politiker und Prominente durch ihr Verhalten in der Öffentlichkeit selbst, ob und wie sie ihr Privat- und Familienleben den Medien zugänglich machen wollten. Informationen aus der Privatsphäre Prominenter gegen den Willen der Betroffenen zu veröffentlichen, ist nach Auffassung des Presserats nur dann durch das öffentliche Interesse gedeckt, wenn ein genügend enger Zusammenhang zwischen der gemeldeten Tatsache und dem Amt oder dem Beruf dieser Person besteht.

3. a) Der Schriftsteller Martin Suter ist eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens; er ist bekannt durch seine Romane und Kolumnen, und er gibt hin und wieder Interviews zu kulturellen und politischen Fragen. Anders als ein Politiker, der vom Volk in sein Amt gewählt wird, tritt ein Künstler in der Regel eher mit seinem Werk als mit seiner Person an die Öffentlichkeit. Wie viel er von seinem Privat- und Familienleben mit seinem Publikum teilen will, bleibt seine eigene Entscheidung. Es existiert kein schützenswertes öffentliches Interesse, hinter die Kulissen ins Privatleben einer Künstlerin oder eines Künstlers zu blicken. Dagegen kann dies bei politischen Amtsträgern dann von öffentlichem Interesse sein, wenn sich zwischen ihrem öffentlichen und ihrem privaten Leben tiefere Widersprüche zeigen.

b) Martin Suter hat sein Familienleben stets als geschützten Teil seiner Privatsphäre angesehen und öffentlich nur wenig darüber mitgeteilt. Das wusste die «Blick»-Redaktion spätestens seit Juni 2007, als Suter bei ihr gegen die unbewilligte Veröffentlichung eines privaten Fotos seiner Kinder interveniert hatte und die Zeitung sich deswegen entschuldigen musste. Erst viele Wochen nach dem Tod seines Kindes beantwortete Suter in Interviews unter anderem auch einige Fragen zu dem Unglück; er tat dies mit der gleichen Zurückhaltung, mit der er auch früher über sein Privatleben Auskunft gab.

4. Der «Blick» hat die Hauptbilder für seine Titelgeschichte am Grab des verstorbenen Kindes fotografiert. Städtische Friedhöfe sind in Zürich wie Parks und Seeanlagen als Teil des öffentlichen Grunds allgemein zugänglich; und trotzdem sind die Grabstätten für viele Menschen ein sehr intimer Ort, an dem sie das Andenken an ihre verstorbenen Familienmitglieder pflegen. Es überlagern sich hier die öffentliche und die private Sphäre stärker als etwa in den Seeanlagen mit ihren ebenfalls durchaus privaten Sonntagsspaziergängern. Zwar ist auch auf Friedhöfen das Fotografieren erlaubt, doch ist die Privatsphäre von Trauernden und Angehörigen zu schützen, indem – ohne Einwilligung der Betroffenen – auf den Bildern weder Personen noch Gräber besonders hervorgehoben werden sollten. Auch die blosse Grossaufnahme eines Grabes in einer Zeitung kann die Privatsphäre der Angehörigen verletzen, wenn der Schmerz über den Verlust noch unvermindert gross ist. Die «Blick»-Redaktion wusste, dass die Familie des Beschwerdeführers ihre Trauer nicht über die Todesanzeige hinaus öffentlich machen wollte; auch die Tatsache, dass die Todesanzeige nach der Beerdigung erschien, war ein deutliches Zeichen. Eine Todesanzeige gehört zu den landesüblichen Bestattungsritualen. Ihre Publikation verleiht den Medien keine Lizenz zur publizistischen Plünderung einer Grabstätte. Nach der Richtlinie 7.1 ist das Fotografieren oder Filmen von Privatpersonen auch im öffentlichen Bereich nur dann ohne Einwilligung der Betroffenen zulässig, wenn sie auf dem Bild nicht herausgehoben werden. Unter diesen Voraussetzungen ist bereits das Foto auf Seite 2 der betreffenden Ausgabe des «Blicks» pietätlos und eine Verletzung der Privatsphäre im Sinne von Ziffer 7 der Erklärung.

5. Der «Blick» bildete nicht nur das Grab als Ganzes ab, sondern vergrösserte auch ein Foto des verstorbenen Kindes zum Hauptbild seiner Frontseite. Die Familie hatte das gerahmte Porträt auf das Grab gestellt. Auch wenn das Grab in einem öffentlichen Friedhof liegt, bleibt das Foto eine private Geste der Erinnerung der Angehörigen. Zwar können und dürfen auch andere Friedhofsbesucher das Bild ansehen, doch bleiben alle Verfügungsrechte über das Bild bei den Angehörigen (allenfalls noch beim Fotografen). Niemals legitimiert die kleine Öffentlichkeit eines privaten Bildes auf einem Grab die grosse Veröffentlichung dieses Bildes durch die Massenmedien. Die Publikation des privaten Kinderporträts stellt eine schwere Verletzung der Privatsphäre des Beschwerdeführers und seiner Familie dar. Der Verkauf der Pressekopie des Fotos an andere Medien macht diesen Übergriff noch schlimmer.

6. Der Beschwerdeführer beruft sich unter anderem auf den besonderen Schutz der Privatsphäre von Kindern im Sinne der Richtlinie 7.4 der «Erklärung», der auch für Kinder von Prominenten gilt. Selbstverständlich unterstützt diese Bestimmung die bisherigen und künftigen Bemühungen des Beschwerdeführers, seine Kinder vor der Neugier der Medien abzuschirmen. Doch zum Sachverhalt, den diese Beschwerde behandelt, kann Richtlinie 7.4 weniger beitragen. Denn die Berichterstattung über den Tod des Kindes verletzte die Gefühle und die Privatsphäre der Eltern. Die Privatsphäre des verstorbenen Kindes ist allenfalls in einer Art ideellen Verletzung seiner Totenruhe tangiert.

7. a) Die Beschwerde wendet sich nicht nur gegen die erwähnten Bilder, sondern auch gegen die Texte im «Blick». Zwar ist es befremdlich, dass eine offizielle Mediensprecherin von Schutz und Rettung Zürich dem «Blick» Auskunft gab über einen Sanitätseinsatz in der Privatsphäre des Beschwerdeführers. Doch die Verwendung solcher Auskünfte, die Medien von offiziellen Stellen auf regulärem Weg bekommen, verstossen nicht gegen medienethische Pflichten.

b) Auch das Interview mit dem leitenden Arzt der Notfallstation des Kinderspitals Zürich ist nicht zu beanstanden. Wohl war der Unfalltod des Kindes des Beschwerdeführers der aktuelle Anlass für das Interview. Doch die Fragen wie die Antworten gehen mit keinem Wort auf dieses konkrete Ereignis ein, sondern beschäftigen sich nur mit allgemeinen Nothilfe-Massnahmen bei Erstickungsgefahr. Dieses Thema kann ein breiteres Publikum, namentlich Eltern von Kleinkindern, interessieren. Wer das Interview liest, bekommt nicht den Eindruck, hier spreche der Arzt, der den Sohn des Beschwerdeführers behandelt hatte; darum stellt sich auch die Frage des Arztgeheimnisses nicht. Obschon das Interview beim Beschwerdeführer und seiner Familie schmerzhafte Erinnerungen wecken kann, verletzt es keine Bestimmungen der «Erklärung». Die vom Beschwerdeführer erwähnte Richtlinie 7.2 zu Interviews in Spitälern ist als Schutz von Patienten oder anderen «Personen in Notsituationen» gedacht: Sie dürfen nicht ohne Einwilligung der Verantwortlichen dieser Institutionen von Medien «überfallen» und befragt werden.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird im Hauptpunkt gutgeheissen.

2. Die vom «Blick» am 2. September 2009 publizierten Fotos vom Grab des Sohnes des Beschwerdeführers verletzen die Privatsphäre des Beschwerdeführers und seiner Familie im Sinne von Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten». Der Schmuck auf einem Grab eines öffentlichen Friedhof gehört zur Privatsphäre der Angehörigen.

3. Einen besonders schweren Verstoss gegen Ziffer 7 der «Erklärung» beging der «Blick», indem er ein privates Porträt des verstorbenen Kindes vom Grab abfotografierte, zum Aufmacherbild seiner Titelseite vergrösserte und das Bild später anderen Medien weiterverkaufte.

4. So weit sich die Beschwerde gegen die beiden Texte im «Blick» richtet, wird sie abgewiesen. Obschon es stossend ist, dass eine offizielle Sprecherin von Schutz und Rettung Zürich Einzelheiten eines Notfalleinsatzes bekanntgibt, dürfen Medienschaffende solche regulär erhaltenen Informationen verwenden. Auch ein Interview zur Ersten Hilfe bei Erstickungsgefahr verstösst nicht gegen medienethische Grundsätze, wenn es bei allgemeinen Hinweisen bleibt und keine Details aus der Privatsphäre eines vom Unfall Betroffenen gibt. «Blick» hat deshalb in diesem Zusammenhang weder die Ziffer 4 (Recherchegespräche) noch die Ziffer 7 (Personen in Notsituationen) der «Erklärung» verletzt.