Nr. 17/2021
Unterschlagen wichtiger Informationen / Anhörung bei schweren Vorwürfen / Identifizierung

(X. und Y. c. «Blick.ch»)

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I. Sachverhalt

A. Am 22. Juli 2020 veröffentlichte «Blick.ch» einen Artikel mit dem Titel «Wegen Fake-News-Vorwürfen: Fünf Gemeinderäte von Sargans SG verurteilt». Der Teaser beim Öffnen der App enthielt diesen Titel, unterlegt mit einem Bild von sieben Personen, einer Frau und sechs Männern. Nach Anklicken dieses Elements erschien ein Artikel wieder mit dem Titel «Wegen Fake-News-Vorwürfen: Fünf Gemeinderäte von Sargans SG verurteilt» von Marco Latzer. Im Lead darunter stand zu lesen: «Sie wollten sich gegen Vorwürfe einer Bürgerin wehren, stattdessen droht fünf Sarganser Politiker [sic] nun ein Strafregistereintrag. Die Gemeindeführung soll einer Kritikerin unterstellt haben, Falschmeldungen zu verbreiten.» Der folgende Text vermeldet, dass fünf Gemeinderäte von Sargans, alle mit Namen aufgeführt, erstinstanzlich zu bedingten Geldstrafen verurteilt worden seien. Der Vorwurf: Sie hätten sich der üblen Nachrede schuldig gemacht. Eine Bürgerin habe sich zunächst in einem Leserbrief im «Sarganserländer» über die Weihnachtsbeleuchtung im Städtchen und vor allem gegen den Erwerb eines Schotterwerkes durch die Gemeinde beklagt, worauf der Gemeinderat – die fünf erwähnten «Verurteilten» – sich ebenfalls in einem Leserbrief in einer Art zur Wehr gesetzt hätte, die einer üblen Nachrede gegenüber der Bürgerin gleichgekommen sei. Die Fünf hätten der Frau vorgeworfen, «Falschmeldungen zu verbreiten» und «Fakten wider besseres Wissen zu verdrehen». Der Gemeinderat sei zwar «dankbar für alle kritisch-konstruktiven (…) Rückmeldungen. Schabernack gehört aber an die Fasnacht.» Die Bürgerin habe sich dadurch als Lügnerin hingestellt gefühlt und von «Rufmord» gesprochen. Die Gemeinderäte ihrerseits seien von den im Gefolge ausgestellten fünf Strafbefehlen überrascht worden, der Leserbrief sei eigentlich «humorvoll gemeint» gewesen, er sei schliesslich in der Fasnachtszeit geschrieben worden. Die für die Strafbefehle verantwortliche Staatsanwältin wird zitiert mit der Bemerkung, dass sich der Gemeinderat sehr wohl gegen Vorwürfe wehren dürfe, dies aber mit einer sachlichen Richtigstellung hätte tun müssen.

Am Schluss des Artikels wird auf die Unschuldsvermutung hingewiesen. Ergänzt wird der Artikel mit einer Bilderreihe, in welcher unter anderem alle fünf Gemeinderäte einzeln im Porträt zu sehen sind, immer mit dem gleichen Beginn der jeweiligen Bildlegende: «Verurteilt: …» Nach einer Reklamation des Beschwerdeführers 1 (siehe unten) wurde die Schlagzeile laut dessen Darstellung geändert in «Wegen Fake-News-Vorwürfen: Fünf Gemeinderäte von Sargans SG schuldig gesprochen» statt «…verurteilt». Die gleiche Änderung wurde bei den Bildlegenden vorgenommen.

B. Am 10. Oktober 2020 reichte der Sarganser Gemeinderat X. (Beschwerdeführer 1, BF 1) eine Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Er macht Verstösse gegen die zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung») gehörenden Richtlinien 3.4 (Illustrationen), 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) und 7.2 (Identifizierung) geltend.

Den Verstoss gegen Richtlinie 3.4 begründet der BF 1 damit, dass «Blick» Abbildungen der fünf betroffenen Gemeinderäte ohne deren Zustimmung publiziert habe. Hinzu komme beim Gruppenbild, dass auch noch zwei Personen (Gemeinderatsschreiberin und -schreiber) abgebildet gewesen seien, die mit dem Fall überhaupt nichts zu tun gehabt hätten.

Den Verstoss gegen Richtlinie 3.8 (Anhören bei schweren Vorwürfen) sieht der BF 1 darin, dass alle fünf Gemeinderäte zu den beschriebenen Vorwürfen hätten angehört werden müssen, es seien individuelle Strafbefehle gegen jeden einzelnen ausgestellt und im Artikel erwähnt worden.

Die Verletzung der Privatsphäre (Richtlinie 7.2) wird nicht explizit begründet. Es wird pauschal eine «Verletzung von Ehre, Persönlichkeit und Integrität» geltend gemacht.

Im Weiteren wird aber ohne einen Bezug auf eine verletzte Bestimmung darauf hingewiesen, dass die reisserische Aufmachung des Artikels suggeriere, dass es sich bei den Gemeinderäten um verurteilte Gesetzesbrecher handle. Der Hinweis auf die Unschuldsvermutung ganz zum Schluss des Artikels tauge eher als Feigenblatt, das den vorher verbreiteten Eindruck nicht entkräfte.

C. Am 14. Oktober 2020 wurde eine zweite Beschwerde mit gleichem Wortlaut zum gleichen Sachverhalt erhoben und zwar ebenfalls von einem der Beschuldigten, von Gemeinderat Y. (Beschwerdeführer 2, BF 2).

D. Am 19. Oktober 2020 nahm der von einem Anwalt vertretene «Blick.ch» (Beschwerdegegner, BG) zu den Vorwürfen Stellung. Er beantragt Ablehnung der Beschwerde.

Ein Verstoss gegen Richtlinie 3.4 liege nicht vor, es sei nicht einzusehen, was der vorliegende Fall mit Symbolbildern zu tun habe, mit welchen diese Richtlinie sich befasse. Dass auf dem Gruppenbild zwei Personen abgebildet seien, die keine Strafbefehle erhalten hätten, sei unproblematisch. Erstens hätten die sich nicht beschwert, und zweitens seien sie in der Bilderfolge der «Verurteilten» nicht aufgeführt.

Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) sei ebenfalls nicht tangiert, weil sich die Vorwürfe auf ein amtliches Dokument stützten, womit sich eine Anhörung erübrige [gemäss Richtlinie 3.9, der Presserat]. Zudem habe sich der Autor Marco Latzer ohnehin um eine Stellungnahme bemüht, seine Anfrage sei aber nicht rechtzeitig beantwortet worden. Hinzu komme, dass Latzer den BF schliesslich direkt vor Ort angesprochen habe und dieser dort – über die Andeutung hinaus, dass er den Strafbefehl wohl anfechten werde – nicht habe Stellung nehmen wollen

Was den Vorwurf einer Verletzung der Privatsphäre angeht, so sei auch dieser nicht berechtigt: Wenn eine Staatsanwaltschaft einer fünfköpfigen gewählten Gemeindebehörde eine gemeinschaftlich und amtlich begangene strafbare Handlung vorwerfe, dann habe das nichts mit Privatsphäre zu tun, sondern nur mit ihrer amtlichen, öffentlichen Funktion.

E. Am 8. Dezember 2020 teilte der Presserat den Parteien mit, dass die beiden Beschwerden zusammengelegt werden. Sie würden vom Präsidium des Presserats behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg sowie den Vizepräsidenten Casper Selg und Max Trossmann.

F. Das Präsidium hat die vorliegende Stellungnahme am 12. April 2021 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Die von den beiden Beschwerdeführern als verletzt bezeichnete Richtlinie 3.4 betrifft die Verwendung und Kenntlichmachung von sogenannten Symbolbildern. Dieses Thema steht hier nicht zur Diskussion, ausser allenfalls mit der Abbildung des Sarganser Rathauses, wenn es um Aktivitäten des Gemeinderates geht. Aber dies wird von den BF – zu Recht – nicht beanstandet.

2. Ob die beiden Beschwerdeführer vor der Publikation des Artikels hätten Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten sollen (Richtlinie 3.8) ist knapp zu verneinen. Der Vorwurf der mehrfachen üblen Nachrede stützt sich, wie der Beschwerdegegner «Blick» richtig ausführt, auf ein amtliches Dokument. Damit wäre Richtlinie 3.9 erfüllt, eine Anhörung wäre nicht nötig. Hier geht es allerdings um die weitergehende Verurteilung wegen übler Nachrede. Darauf wird unter Erwägung 4 zurückzukommen sein. Weiter ist festzustellen, dass der Autor sich wenigstens einmal um eine Stellungnahme bemüht hat und offenbar mindestens die Antwort erhielt, dass der BF 2 den Strafbefehl anfechten werde, sich selber also als nicht schuldig erklärt und insofern zum Vorwurf – wenn auch sehr knapp – Stellung genommen hat. Zudem hat er offenbar deutlich gemacht, dass er weiter nicht Stellung nehmen wolle. Die Pflicht zur Anhörung war damit bezüglich des Gemeindepräsidenten knapp erfüllt, und wenn er Stellung genommen hat, müssen nicht alle vier gleichlautend charakterisierten Gemeinderäte auch noch befragt werden. Es durfte angenommen werden, der Präsident spreche für den Gemeinderat. Richtlinie 3.8 ist knapp nicht verletzt.

3. Die Privatsphäre wird ebenfalls nicht verletzt (Richtlinie 7.2), wenn darüber berichtet wird, dass gegen Mitglieder einer Stadtregierung Strafbefehle ausgestellt werden wegen Aktivitäten, die sie zugegebenermassen als Behörde, kollektiv, begangen haben sollen. Dem «Blick» ist zuzustimmen, dass dieser Sachverhalt die Mitglieder in ihrer öffentlichen Funktion betrifft.

4. Nach Auffassung des Presserates ist zusätzlich noch die Frage zu klären, inwieweit die BF zu Unrecht als «verurteilte Gesetzesbrecher» dargestellt worden sind, wie sie dies am Ende ihrer Beschwerdeschrift unter «Wo Blick.ch gegen die Erklärung … verstösst» kritisieren. Der Redaktion ist zwar zuzustimmen, wenn sie – implizit – darauf hinweist, dass der damit verbundene mögliche Verstoss gegen die Ziffer 3 der «Erklärung» (Entstellen von Tatschen) nicht ausdrücklich unter den zu Beginn in der Beschwerde als verletzt genannten Bestimmungen figuriert und damit auch nicht geprüft werden müsste. Aber die Formulierung unter «Wo Blick.ch gegen die Erklärung verstösst» erscheint hinlänglich klar: Sie rügt das, was der BF 1 der Redaktion gegenüber bereits unmittelbar nach Erscheinen des Textes kritisiert hatte: Die Formulierung «Fünf Gemeinderäte verurteilt» sei unzutreffend, ein Strafbefehl sei noch keine Verurteilung.

In der Tat ist ein Strafbefehl keine Verurteilung, sondern erst der Vorschlag einer möglichen Verurteilung. Der Beschuldigte kann den Vorschlag ablehnen und eine Gerichtsverhandlung anstreben. Bei dieser besteht dann die Möglichkeit eines Freispruchs oder einer Einstellung des Verfahrens. Ob dann wirklich eine Verurteilung erfolgt, ist also noch offen. Dies gilt insbesondere im vorliegenden Fall, wo der Artikel (Bildlegende zu BF 2) selber ausdrücklich darauf hinweist, dass der BF 2 die Strafe voraussichtlich nicht akzeptieren werde und er entsprechend eben noch nicht verurteilt ist. Insofern enthielt die Schlagzeile «… verurteilt» die Entstellung einer Tatsache.

Dass der unter dem Titel stehende Lead (im Teaser nicht enthalten) dann davon spricht, dass den Gemeinderäten ein Strafregistereintrag lediglich «drohe», hebt den Fehler in der Schlagzeile nicht auf, er lässt nur einen Widerspruch entstehen. Dasselbe gilt für die Unschuldsvermutung ganz am Schluss des Textes: Wenn zuvor mehrfach von «verurteilt» die Rede war, schafft die Unschuldsvermutung bestenfalls einen Widerspruch, aber keine Klarheit bezüglich der mehrfach erwähnten Verurteilung. Und es war mehrfach von Verurteilung die Rede: Die Bildunterschrift zu jedem einzelnen Porträt der fünf Gemeinderäte in der Bildgalerie wiederholt fünfmal die Behauptung «verurteilt», respektive später: «schuldig gesprochen …». Die allfällige Relativierung im Lead wird im Artikel auf diese Weise mehrfach wieder aufgehoben. Die Änderung, welche die Redaktion später auf die Reklamation des BF 1 vorgenommen hat, änderte dabei nichts am Sachverhalt. Ob man von «verurteilt» spricht oder von «schuldig gesprochen» läuft auf das Gleiche hinaus. Ein Schuldspruch verurteilt. Der Artikel, insbesondere der Teaser, die Schlagzeile des Artikels selber und die Bildlegenden zu den fünf Gemeinderäten verletzen mit der behaupteten «Verurteilung», respektive dem «Schuldspruch» die Ziffer 3 der «Erklärung».

III. Feststellungen

1. Der Presserat heisst die Beschwerden teilweise gut.

2. «Blick.ch» hat mit dem Artikel «Wegen Fake-News-Vorwürfen: Fünf Gemeinderäte von Sargans SG verurteilt» vom 22. Juli 2020 die Ziffer 3 (Entstellen von Tatsachen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.

3. In allen übrigen Punkten werden die Beschwerden abgewiesen.