Nr. 16/2022
Wahrheit / Entstellen von Tatsachen / Anonymisierung

(X. c. «Tages-Anzeiger»)

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I. Sachverhalt

A. Am 12. November 2021 erschien im «Tages-Anzeiger» (TA) ein Text von Markus Häfliger mit dem Titel «An Schweizer Bahnhöfen hängen Kriegsparolen». Der Beitrag beschreibt, dass in Schweizer Bahnhöfen Plakate aufgehängt seien, welche unter anderem den Slogan «Karabach ist Aserbaidschan» enthielten. Mit diesem «Schlachtruf» sei Aserbaidschan in den Krieg um die Republik Arzach in Berg Karabach gezogen. Auf Anfrage hätten die SBB zunächst abweisend auf die Frage reagiert, ob derartige politische Propaganda in Bundes-Bahnhöfen nicht verboten sei. Sie habe auf die Meinungsäusserungsfreiheit und ein ihr auferlegtes Zensurverbot verwiesen. Auf politischen Druck hin seien die SBB aber über die Bücher gegangen und hätten die Plakate abhängen lassen, bis rechtliche Fragen geklärt seien. In Auftrag gegeben habe die Plakate ein Kulturverein der Aserbaidschaner, dessen Präsident heisse Gasim Nasirov, dieser wohne im Kanton Bern. Er mache geltend, die Schweizer Medien berichteten falsch, nämlich pro-armenisch, über den Konflikt. Dem habe man etwas entgegenhalten wollen. Er habe dafür weder Unterstützung seitens Aserbaidschans erhalten noch von dessen Erdölgesellschaft Socar. Schliesslich wird FDP-Nationalrätin Isabelle Moret zitiert, welche davon ausgeht, dass es das erste Mal sei, dass ein fremder Staat auf politischen Plakaten eine Propagandakampagne in der neutralen Schweiz lanciere. Und die grüne Ständerätin Lisa Mazzone lehne das Argument der Meinungsäusserungsfreiheit in diesem Fall ab. Es gehe hier nicht um eine besondere Meinung, sondern um einen bewaffneten Konflikt, in welchem Aserbaidschan gegen das Völkerrecht verstossen habe. Wenn eine solche Kampagne auf eidgenössischem Boden stattfinde, stelle sich die Frage der Neutralität. Schliesslich wird in einem Kasten der Konflikt um Berg Karabach kurz erläutert.

B. Am 12. November 2021 reichte X. Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Er macht geltend, der Artikel verletze die Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (Unterschlagen wichtiger Informationen), 5 (Berichtigungspflicht), 7 (Schutz der Privatsphäre) und 8 (Menschenwürde) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»).

Zur Begründung der Verletzung der Ziffern 1, 3 und 7 macht der Beschwerdeführer (BF) geltend: Wenn Autor Häfliger von «Kriegsparolen» spreche, verkenne er die Geschichte um Karabach. Das fragliche Gebiet «Tal Karabach» sei von Armenien annektiert worden, es sei gemäss Uno-Resolutionen von Militärkräften zu befreien. Die Uno verlange die Befreiung von Städten wie Agdam, welche in ihrer Zerstörtheit auf dem Plakat eigens abgebildet worden sei. Mit «Kriegsparole» würden die Leser bewusst von der «wichtigen Message» des Plakates abgelenkt.

Die Ziffer 5 (Berichtigung) der «Erklärung» sei verletzt, weil Nationalrätin Moret davon spreche, es werde Kriegspropaganda verbreitet. Das sei eine falsche Behauptung, die berichtigt werden müsse. Es werde nirgends auf dem Plakat zur Unterstützung eines fremden Konflikts aufgerufen. Es werde kein ausländischer Staat unterstützt, sein Verein äussere seine Meinung, ohne dass ein fremder Staat ihn unterstütze.

Zur Verletzung der Ziffer 7 der «Erklärung» macht er weiter geltend, sein Name hätte nicht genannt werden dürfen, er habe den Autor gebeten, keine Einzelheiten über seine Person zu erwähnen, er befürchte Repressalien.

Zur Ziffer 8 der «Erklärung» erwähnt der Beschwerdeführer, die Menschenwürde werde verletzt, weil das Leid der Betroffenen und die Gefühle der Angehörigen nicht respektiert würden, indem das Leid der auf dem Plakat abgebildeten Flüchtlingsfrau nicht beschrieben werde, es würden stattdessen Meinungen von Personen zitiert, welche seinen Verein zu Unrecht der Unterstützung eines Konflikts bezichtigten.

C. Mit Beschwerdeantwort vom 25. Januar 2022 beantragte die Rechtsabteilung der TX Group, zu welcher der «Tages-Anzeiger» gehört, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten. Eventualiter sei diese abzuweisen.

Die behauptete Verletzung der Ziffern 1, 3 und 7 der «Erklärung» durch die Verwendung des Ausdrucks «Kriegsparolen» in Titel und Text entspreche einer belegbaren Tatsachenbehauptung. «Karabach ist Aserbaidschan» sei der zentrale Slogan, welcher von der aserbaidschanischen Seite vor, während und nach dem zweiten Karabach-Krieg verwendet worden sei und immer noch verwendet werde. Als Beleg verweist der TA auf eine Reihe von Abbildungen, auf welchen seitens der aserbaidschanischen Armee und Staatsführung immer wieder mit diesem Slogan gearbeitet werde, nicht zuletzt brauche ihn Staatschef Heidar Aliev in seinen Reden. Und auf entsprechenden Plakaten werde deutlich, dass es um einen Kampfruf gehe (Abbildung von Soldaten, die eine Fahne hissen, Abbildung von vorrückenden Panzern). Weiter macht die Beschwerdegegnerin (BG) geltend, die Prämisse, von welcher der Beschwerdeführer ausgehe, sei falsch: Völkerrechtlich gehöre Karabach nicht zu Aserbaidschan, jedenfalls sei der Status umstritten, womit klar sei, dass der Slogan «Karabach ist Aserbaidschan» nicht eine richtige Tatsachenbehauptung sei, sondern eine rein politische Aussage. Verwendet in einem kriegerischen Kontext sei es entsprechend legitim, von einer Kriegsparole zu sprechen.

Ein Begehren um Berichtigung (Ziffer 5 der «Erklärung») habe der Beschwerdeführer nie gestellt, es wäre angesichts der korrekten Berichterstattung auch nicht angebracht gewesen.

Zum Vorwurf, Ziffer 7 der «Erklärung» sei verletzt, weil der TA unerlaubterweise seinen Namen veröffentlicht habe, verweist die BG auf den E-Mailverkehr zwischen dem Autor und dem Beschwerdeführer. Dort bitte der Beschwerdeführer nur darum, keine unnötigen Details betreffend seine Person zu beschreiben. Dem habe der Autor entsprochen, indem er nichts über die Tätigkeiten des Beschwerdeführers geschrieben habe. Zudem habe jemand, der eine öffentliche Plakataktion in den grössten Schweizer Bahnhöfen lanciere, ohnehin kein Recht auf Anonymität.

Der vom Beschwerdeführer mehrfach inkriminierte Satz «bewaffnete Konflikte unterstützen» komme im Text des Autors nie vor. Der Satz hingegen, wonach es inakzeptabel sei, «dass ein ausländischer Staat im Herzen unseres Landes solche Kriegspropaganda verbreiten darf» sei klar gekennzeichnet als Zitat von Nationalrätin Moret. Zu diesem Sachverhalt habe der Beschwerdeführer Stellung nehmen können und er werde selber explizit zitiert mit der Aussage, er habe keine Unterstützung des Staates Aserbaidschan erhalten.

D. Am 18. Februar 2022 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Präsidium behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Max Trossmann, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin.

E. Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 1. April 2022 verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Der Presserat tritt auf die Beschwerde ein, sie ist fristgerecht eingereicht worden. Zwar sind nicht alle formalen Anforderungen an eine Beschwerde vollständig erfüllt, dies schreibt der Presserat aber sprachlichen Bedingtheiten zu und verzichtet auf eine strenge Beurteilung.

2. Der Beschwerdeführer stellt die Verwendung des Begriffs «Kriegsparole» in Titel und Text des Artikels ins Zentrum seiner Beschwerde. Dies verletze die Ziffern 1, 3 und 7 der «Erklärung». Allein angesichts des Umstandes, dass das Gebiet von Berg (und Tal) Karabach zwischen den Ländern Aserbaidschan und Armenien seit vielen Jahrzehnten umstritten und umkämpft ist, muss die Parole «Karabach ist Aserbaidschan» als politischer Kampfruf verstanden werden. Hinzu kommen die Belege des TA, welche zeigen, dass die Parole seitens der aserbaidschanischen Regierung in sehr kriegerischem Kontext verwendet wird. Angesichts dessen von einer «Kriegsparole» zu sprechen, verstösst nicht gegen die Wahrheitspflicht (Ziffer 1), auch nicht gegen das Verbot, Tatsachen zu entstellen (Ziffer 3) und bedarf deswegen auch keiner Berichtigung (Ziffer 5), wobei dafür erst ein Gesuch auf Berichtigung hätte gestellt werden müssen. Das gilt auch für die Aussage von Nationalrätin Moret, deren Inhalt der Beschwerdeführer bestreitet. Diese spricht ohnehin nicht, wie vom Beschwerdeführer behauptet, von «Kriegspropaganda», sondern lediglich von einer «Propagandakampagne» seitens eines fremden Staates.

3. Diese Aussage wiederum («Ein fremder Staat, der in der Schweiz eine politische Propagandakampagne lanciert») ist unproblematisch. Sie ist zum einen klar als Zitat von Isabelle Moret deklariert und deswegen nicht unwahr, und zudem hat der BF dazu Stellung nehmen können.

4. Dass im Artikel nicht von der Flüchtlingsfrau gesprochen wird, die auf dem Plakat abgebildet ist, bildet keine Diskriminierung oder Verletzung der Menschenwürde (Ziffer 8 der «Erklärung»). Für den Autor steht die propagandistische Parole auf dem Plakat im Vordergrund, das entspricht einer nachvollziehbaren journalistischen Gewichtung. Nur von aserbaidschanischen Flüchtlingen zu sprechen wäre angesichts der vielen tausend armenischen Flüchtlinge im Nachgang zum letzten Krieg allenfalls eher problematisch erschienen.

5. Die Privatsphäre des BF wurde nach den vorliegenden Informationen nicht verletzt. Im Mailverkehr mit dem Autor hat der Beschwerdeführer darum gebeten, «nicht viele seiner Angaben zu verwenden», weil er sich vor einer negativen Haltung der armenischen Diaspora fürchte. Er hat nicht darum gebeten, überhaupt nicht erwähnt zu werden. Der Autor hat nur sehr wenig Informationen über den Namen hinaus offenbart. Unabhängig davon besteht durchaus ein überwiegendes öffentliches Interesse daran, zu erfahren, wer eine derart exponierte öffentliche Plakataktion zu verantworten hat. Entsprechend liegt auch keine Verletzung von Ziffer 7 der «Erklärung» vor.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. Der «Tages-Anzeiger» hat mit dem Artikel «An Schweizer Bahnhöfen hängen Kriegsparolen» vom 12. November 2021 die Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (Entstellen von Tatsachen), 5 (Berichtigung), 7 (Schutz der Privatsphäre) und 8 (Wahrung der Menschenwürde) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.