Nr. 14/2022
Wahrheit / Anhörung bei schweren Vorwürfen / Interessenkonflikt

(RTS c. «Weltwoche»)

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Zusammenfassung

Im März 2021 veröffentlichte «Die Weltwoche» eine Medienkritik, die sich mit einer Sendung von «Temps Présent» des Westschweizer Fernsehens beschäftigte. In der Fernsehreportage war es um die Hintergründe des Rücktritts von Pierre Krähenbühl gegangen, der das UNO-Hilfswerk für die Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) geleitet hatte. Der Autor des «Weltwoche»-Artikels warf der Fernsehjournalistin eine einseitige «antiisraelische» Haltung und eine einseitige Auswahl der Gesprächsparnter vor. Der Autor erwähnt auch, dass gegen diesen Fernsehbeitrag bereits Beschwerden beim Presserat und der SRG-Ombudsstelle hängig seien. Dass der Autor die Beschwerden selber eingereicht hat, erwähnt er nicht.

Das Westschweizer Fernsehen und die Fernsehjournalistin reichten beim Presserat Beschwerde gegen den «Weltwoche»-Artikel ein, weil er gegen die Wahrheitspflicht verstosse. Auch sei die Fernsehjournalistin vor der Veröffentlichung der schweren Vorwürfe nicht angehört worden.

Der Presserat sieht keinen Verstoss gegen die Wahrheitspflicht seitens der «Weltwoche», ebenso sieht er die Anhörungspflicht nicht verletzt, weil der Autor die Redaktion von «Temps Présent» vorgängig um eine Stellungnahme geben hatte. Der «Weltwoche»-Autor verstiess jedoch gegen den Berufskodex, weil er es unterlassen hatte, in seinem Text darauf hinzuweisen, dass nicht irgendjemand Beschwerde bei Presserat und SRG-Ombudsstelle eingereicht hatte, sondern er selber.

Résumé

TEXT F

Riassunto

Nel marzo del 2021 la «Weltwoche» ha pubblicato una critica relativa a un servizio di «Temps Présent», della Televisione svizzera romanda. Il reportage televisivo si occupava dei retroscena legati alle dimissioni di Pierre Krähenbühl, ex responsabile dell’Agenzia delle Nazioni Unite per i profughi palestinesi (UNRWA). L’autore dell’articolo della «Weltwoche» ha accusato la giornalista televisiva di aver mantenuto un atteggiamento parziale «anti-israeliano» e di aver selezionato unilateralmente gli interlocutori. L’autore rendeva inoltre noto come nei confronti di questo servizio televisivo fossero già stati inoltrati dei reclami presso il Consiglio della stampa e l’Organo di mediazione della SSR. Tuttavia, non riportava che detti reclami erano stati presentati dall’autore stesso.

La Televisione della svizzera romanda e la sua giornalista hanno presentato un reclamo nei confronti della «Weltwoche» presso il Consiglio della stampa, in quanto considerano che abbia violato il dovere di rispetto della verità. Inoltre, la giornalista televisiva non è stata ascoltata prima della pubblicazione delle gravi accuse.
Il Consiglio della stampa ritiene che la «Weltwoche» non abbia violato né il dovere di rispetto della verità né quello dell’obbligo di ascolto, in quanto l’autore aveva previamente chiesto una presa di posizione alla redazione di «Temps Présent».

Tuttavia, l’autore della «Weltwoche» ha violato il codice professionale omettendo di indicare nel suo testo che è stato lui stesso, e non una qualsivoglia persona, a inoltrare il reclamo presso il Consiglio della stampa e l’Ufficio del difensore civico della SSR.

I. Sachverhalt

A. Am 3. März 2021 veröffentlichte die «Weltwoche» einen Artikel von David Klein mit dem Titel «Schweizer Fernsehen nimmt Partei». Untertitel: «SRF-Journalistin und Presserats-Mitglied Anne-Frédérique Widmann dreht einen einseitigen Film über den Schweizer Nahost-Diplomaten Pierre Krähenbühl. Die Beteiligten wiegeln ab.»

Der Text wirft der «SRF-Journalistin» Widmann vor, versucht zu haben, Pierre Krähenbühl, den ehemaligen Schweizer Spitzendiplomaten, mit einem Film der Sendung «Temps Présent» zu entlasten. Krähenbühl habe 2019 unter Vorwürfen von Machtmissbrauch, Vetternwirtschaft und Diskriminierung als Direktor des Palästinenser-Hilfswerks UNRWA zurücktreten müssen. Widmann habe mit ihrem Film mutmasslich die publizistischen Leitlinien von SRF sowie die «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» des Presserats verletzt, indem sie zur Verteidigung Krähenbühls in ihrem Film drei Kronzeugen habe auftreten lassen, die allesamt eine «antiisraelische Agenda» verträten. Nämlich SP-Nationalrat Carlo Sommaruga (Präsident der parlamentarischen Gruppe Schweiz–Palästina), Professor Riccardo Bocco (Leiter Palestine Research Unit am Genfer IHEID) und Kenneth Roth (Geschäftsführer der NGO Human Rights Watch). Sommaruga und Roth seien Unterstützer der vom Deutschen Bundestag als «grösstenteils klar antisemitisch» qualifizierten BDS-Bewegung. Sommaruga habe auch schon eine palästinensische Terroristin als mutige Parlamentarierkollegin bezeichnet. Und Bocco setze Israel mit der terroristischen Hamas gleich, spreche vom «israelischen Staatsterror». Die «antiisraelische Haltung» der drei hätte Widmann – laut dem Artikel – dem Publikum kenntlich machen müssen. Der Produzent der Sendung, Jean-Philippe Ceppi, teile zu diesem Thema lapidar mit, es bleibe jedem selbst überlassen, ob er oder sie die Zeit habe, die für ihn oder sie passende Recherche durchzuführen.

Demgegenüber unterstelle Widmann dem Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis eine «proisraelische Tendenz». Diese Schlagseite komme nicht von ungefähr. Die «SRF-Journalistin» bezeichne den «ungerechtfertigten Vorwurf der Apartheid und ethnischen Säuberung in Israel als Tatsache», verteidige die international scharf kritisierte UNRWA und retweete eine als antisemitisch eingeordnete Karikatur von Benjamin Netanjahu.

Die SRF-«Rundschau» habe später eine gekürzte Version von Widmanns Film gezeigt, darin habe Sommaruga die Vorwürfe gegen Krähenbühl mit «Da ist nichts» qualifiziert. Demgegenüber zitiert die «Weltwoche» den ehemaligen Chef des UNRWA-Ethikbüros, Lex Takkenberg, welcher die Untersuchung gegen Krähenbühl geleitet habe. Dieser habe versucht einen Mitarbeiter zu bestechen, was Takkenberg als «eklatanten Verstoss gegen die Grundwerte der Vereinten Nationen» beurteilt habe. Der UNRWA-Offizielle kritisiere, dass die Film-Autorin Widmann dieses Urteil in ihrem Dokumentarfilm nicht erwähne, obwohl es ihr bekannt gewesen sei. Statt zu zeigen, dass Krähenbühl seine Macht missbraucht habe, stelle «Temps Présent» ihn als Opfer eines amerikanisch-israelischen Komplotts dar.

Abschliessend stellt der Autor Klein fest, dass gegen beide Filme, denjenigen von «Temps Présent» wie auch denjenigen der «Rundschau», Beschwerden sowohl bei der SRG-Ombudsstelle als auch beim Presserat hängig seien. Wer die eingereicht hat, erwähnt er nicht.

B. 1. Am 3. Juni 2021 reichten die Schweizerische Radio und Fernsehgesellschaft SRG (SRG-SSR) sowie der Produzent der Sendung, Jean-Philippe Ceppi, und die Autorin des Beitrags, Anne-Frédérique Widmann (Mitglied des Presserates), Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Sie machen Verletzungen der Ziffern 1, 2, 3 und 9 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» geltend, insbesondere der dazugehörigen Richtlinien (RL) 1.1 (Wahrheitssuche), 2.4 (Öffentliche Funktion, Interessenkonflikt), 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) und 9.2 (Interessenbindungen in der Wirtschaftsberichterstattung).

2. Die Wahrheitssuche sehen die BeschwerdeführerInnen (BF) verletzt, weil die «Weltwoche» der Autorin Voreingenommenheit, «Schlagseite», vorwerfe, ohne dies zu belegen. Die Zeitschrift werfe der Journalistin vor, Israel auf Twitter und Facebook wahrheitswidrig Apartheid und ethnische Säuberung zu unterstellen, sie verteidige die UNRWA und retweete eine antisemitische Karikatur Netanjahus. Insbesondere hätte die «Weltwoche» Widmann zu diesen Vorwürfen befragen, die Vorhaltungen so verifizieren müssen. Es stelle sich weiter «die Frage», ob der Autor des Artikels nicht einfach Vorwürfe aus einem Dokument von «UN Watch» entnommen habe (welches er zitiert) ohne diese zu überprüfen. Als Beispiel wird die dort erwähnte Karikatur Netanjahus genannt: Dieses habe sie erstens nicht über Twitter verbreitet, sondern über Facebook, zweitens sei sehr umstritten, ob diese Karikatur antisemitisch sei, was der Artikel nicht erwähne, und drittens habe sich Widmann mit dem Hinweis auf diese Karikatur für deren Zeichner einsetzen wollen, das Mitglied einer Vereinigung, die sich gegen jede Form von Rassismus, auch Antisemitismus einsetzt, welcher aufgrund dieses Bildes entlassen worden sei. Ihr sei es um diese Person gegangen, um nichts anderes.

Weiter sei Widmanns Porträt von der «Weltwoche» ein Zitat beigefügt worden, das nicht von ihr stamme. Und es sei laufend von ihr als SRF-Journalistin die Rede, also von einer Mitarbeiterin des Deutschschweizer Radio und Fernsehens. Auch das sei falsch.

3. Die Richtlinie 2.4 (öffentliche Funktion, Interessenkonflikt) wird in der Beschwerde zwar wörtlich zitiert, es wird aber unter diesem Titel nicht erläutert, inwiefern sie tangiert sein soll.

4. Unter Richtlinie 9.2 (Interessenbindungen) rügen die BeschwerdeführerInnen, dass Autor Klein gleichzeitig auch Beschwerden bei Ombudsmann/UBI und beim Presserat gegen den Film von Widmann erhoben habe und deswegen als Autor eines Artikels in gleicher Sache in unzulässigem Masse interessengebunden sei. Hinzu komme, dass er diese Interessenkollision im Artikel nicht erwähnt, also nicht wie von RL 9.2 und 2.4 gefordert, transparent gemacht habe. Hier beeinträchtige eine private Tätigkeit die journalistische Unabhängigkeit und das werde der Leserschaft vorenthalten.

5. Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) sei verletzt, weil gegen die Filmautorin Widmann im Artikel mehrere schwere Anschuldigungen vorgebracht worden seien, zu denen sie nie habe Stellung nehmen können. Diese wögen insofern schwer, als sie ihre Integrität und ihre Arbeit aufgrund blosser Annahmen in Frage stellten. Zwar habe Autor Klein die Sendung «Temps Présent» kontaktiert und dabei einen jahrelangen «antiisraelischen Trackrecord» der drei Interviewpartner erwähnt. Er habe in diesem Zusammenhang aber nur eine einzige Frage gestellt. Die Journalistin selber habe er nicht mit konkreten Vorwürfen konfrontiert. Zum Kontext ihrer Posts in Social Media habe sie nicht Stellung nehmen können. Zwar sei der Stiftungsratspräsident des Presserates, dessen Mitglied die Filmautorin ist, zu ihrer «israelischen Agenda» befragt worden, aber nicht sie selber. Sie habe keine Gelegenheit gehabt, ihre «besten Argumente» zu den Vorwürfen vorzubringen. Zudem sei die Stellungnahme von «Temps Présent» verkürzt wiedergegeben und eine falsche Bildunterschrift verwendet worden.

C. 1. Mit Schreiben vom 1. September 2021 nahm die von einem Anwalt vertretene «Weltwoche» Stellung zur Beschwerde und beantragte deren Ablehnung soweit darauf einzutreten sei.

2. Was die RL 1.1 angeht, stellt die Beschwerdegegnerin (BG) fest, es gebe diverse Indizien, die geeignet seien, die Unabhängigkeit der Journalistin hinsichtlich der Thematik des Films infrage zu stellen. Zum einen habe diese in den «öffentlichen Medien» mehrfach ihre Meinungen kundgetan und müsse sich diese entsprechend auch entgegenhalten lassen. Hinzu komme, dass die Organisation «United Nations Watch» ebenfalls von einer vorgefassten Meinung von Anne-Frédérique Widmann ausgehe, was belege, dass deren Unabhängigkeit zumindest umstritten sei.

Die «Weltwoche» sei berechtigt, pointiert über Themen zu berichten, ihre eigene Meinung, diejenige der Autoren in ihren Artikeln zu vertreten. Wenn hier die Auffassung vertreten werde, die Faktenlage lasse den Schluss zu, dass die Journalistin nicht unabhängig sei, dann sei das nicht zu beanstanden, zumal die Journalistin das Gegenteil nicht darzulegen vermöge. Zudem müsse die «Weltwoche» sowieso keinen Wahrheitsbeweis erbringen. Im Weiteren sei die Feststellung, dass die Autorin nicht unabhängig sei, keine Tatsachenbehauptung, sondern ein Werturteil, das einer Wahrheitsprüfung gar nicht zugänglich sei.

Dass das Zitat in der Bildlegende zum Porträt Widmanns falsch zugeordnet sei, treffe zu, dieses stamme von Produzent Ceppi. Das sei für den durchschnittlichen Leser aber ohne Weiteres erkennbar und ohnehin nur ein untergeordneter redaktioneller Fehler.

Auch die Bezeichnung der Arbeitgeberin der Journalistin mit «SRF» statt «SSR» sei ohne Relevanz, da es letztlich um die gleiche Organisation gehe.

3. Zu RL 2.4 (öffentliche Funktion, Interessenkonflikt) stellt die BG fest, dass Autor Klein keine öffentliche Funktion ausübe und damit nicht unter diese Richtlinie falle.

4. RL 9.2 (Interessenbindung) sei ebenfalls nicht verletzt, wenn ein Journalist in gleicher Sache, die er in einem Artikel beschreibt, noch eine Presserats- oder UBI-Beschwerde einreiche. Es liege kein Interessenkonflikt vor. Journalisten dürften, wie andere Personen auch, Artikel vom Presserat überprüfen lassen. Insbesondere gehe es hier ja nicht um einen finanziellen Nutzen, den die BG daraus erzielen könne. Die Integrität des Journalisten, welche RL 9.2 schütze, stehe im Falle von Autor Klein nicht zur Diskussion. Der Sachverhalt, dass Klein selber der Beschwerdeführer vor der UBI und dem Presserat sei, habe nicht erwähnt werden müssen. Seine Haltung zum Gebaren der BF sei klar, eigenen Nutzen daraus habe er nicht, insofern liege keine Vermischung von privaten und beruflichen Interessen vor. Das unterstreiche auch die von den BF selber angerufene Stellungnahme 41/2002, wo festgestellt werde, dass angesichts fehlender finanzieller oder anderer Eigeninteressen die «Erklärung» nicht verletzt werde, dass es lediglich «wünschbar» gewesen wäre, die persönlichen Interessen der Journalistin offenzulegen. Und dass der Journalist im vorliegenden Fall seine Tätigkeit nicht offengelegt habe, treffe ebenfalls nicht zu. In seiner Anfrage an «Temps Présent» habe er von einer «Recherche zu einem Artikel» gesprochen und dabei Thema und Stossrichtung klar deklariert.

5. Zum Vorwurf der BF, wonach Widmann hätte angehört werden müssen, RL 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen), entgegnet die «Weltwoche», es seien im Artikel keine schweren Vorwürfe im Sinne der RL 3.8 erhoben worden. Man kritisiere eine einzelne Publikation der BF, das beinhalte kein «illegales oder vergleichbares Verhalten», wie es der Presserat voraussetze. Medienkritik müsse im Sinne des demokratischen Diskurses möglich sein, insbesondere bei der SRG, welche auf Sachgerechtigkeit gesetzlich verpflichtet sei.

Ungeachtet dessen sei den BF die Möglichkeit der Stellungnahme gegeben worden. Die entsprechende – sehr knappe – Antwort sei genügend zitiert worden, man sei nicht zur ausführlichen Wiedergabe verpflichtet.

D. Am 19. Oktober 2021 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde von der 1. Kammer des Presserates behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Luca Allidi, Dennis Bühler, Ursin Cadisch, Michael Herzka, Francesca Luvini und Casper Selg.

E. Die 1. Kammer des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme an ihrer Sitzung vom 30. November 2021 und auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Die Richtlinie 1.1 verpflichtet JournalistInnen, nach der Wahrheit zu suchen: «Die Wahrheitssuche stellt den Ausgangspunkt der Informationstätigkeit dar. Sie setzt die Beachtung verfügbarer und zugänglicher Daten, die Achtung der Integrität von Dokumenten (Text, Ton und Bild), die Überprüfung und die allfällige Berichtigung voraus.»

Der Hauptvorwurf im Artikel lautet, die Autorin des fraglichen Films sei voreingenommen, ihre Berichterstattung sei einseitig und das wird begründet mit dem Hinweis, dass der Film zur Entlastung des wegen Vetternwirtschaft und Machtmissbrauchs entlassenen UNRWA-Chefs drei einseitige, antiisraelische Kronzeugen zu Wort kommen lasse. Diesen zentralen Vorwurf im Artikel, Einseitigkeit des Films aufgrund der Auswahl von Stimmen, spricht die Beschwerde allerdings nicht an, sondern sie fokussiert darauf, dass die im Artikel als Beleg für Anne-Frédérique Widmanns behauptete Einseitigkeit genannten Indizien den Anforderungen von RL 1.1 (Überprüfung der Quellen) nicht entsprächen und hier wiederum stellt sie in den Vordergrund, dass Widmann zu diesen Vorwürfen nicht befragt worden sei. Weiter führt sie das Beispiel der im Artikel angesprochenen Netanjahu-Karikatur an. Zu den übrigen im Artikel zur Begründung der Einseitigkeit Widmanns erwähnten Indizien (Apartheid auf Twitter und Facebook als «Tatsache» genannt, dort auch UNRWA unkritisch verteidigt) nimmt sie nicht Stellung. Die «Weltwoche» belegt in ihrer Antwort die Behauptung, wonach Widmann anti-israelische Tweets und Facebook-Posts verfasst habe, ebenfalls nicht explizit. Sie verweist nur allgemein auf die Stellungnahme von «UN Watch» (in welcher einzelne von Widmanns Posts dargestellt und kommentiert werden) und nimmt diese zum Beleg dafür, dass Widmanns «Unabhängigkeit» mindestens umstritten sei.

Angesichts der Tatsache, dass beide Seiten den Hauptvorwurf «Einseitige Berichterstattung aufgrund der Auswahl der drei Gesprächspartner» in ihren Eingaben gar nicht thematisieren, stellen sich noch drei Fragen, nämlich
– ob Anne-Frédérique Widmann vom Autor zu seinen Vorwürfen im Sinne der Wahrheitssuche hätte befragt werden müssen. Das wird unter 3.8 zu untersuchen sein (s. unten Erwägung 4).
– ob der Vorwurf, Widmann habe sich auf Facebook und Twitter anti-israelisch geäussert, zutrifft. Hierzu ist festzuhalten, dass in dem von den BF selber beigelegten Argumentarium von «UN Watch» mehrere Posts und (Re-)Tweets enthalten sind, die sich sehr kritisch mit der israelischen Politik in der Westbank und Gaza beschäftigen. Insofern ist der Hinweis, Widmann stelle sich mit ihren privaten Stellungnahmen auf die Seite der Palästinenser, aufgrund des dem Presserat vorgelegten Materials nicht falsch. Fraglich ist allerdings, ob diese Sicht der Dinge sie als Berichterstatterin zum vorliegenden Thema disqualifiziert: JournalistInnen schreiben häufig über Themen, zu denen sie eine bestimmte Meinung haben. Das ist kein Problem, solange die Berichterstattung faktentreu und fair erfolgt.
– Und es fragt sich schliesslich, ob gemäss RL 1.1 eine ausreichende «Überprüfung von Quellen» stattgefunden habe. Das wird von der «Weltwoche» gar nicht ausdrücklich bejaht, diese stellt lediglich fest, die Vorwürfe von «UN Watch» zeigten, dass Widmanns «Unabhängigkeit» zumindest umstritten sei. Die «Weltwoche» bezeichnet in diesem Zusammenhang die Position der BF Widmann abwechselnd als «nicht unabhängig» (was eine Abhängigkeit von einer Seite implizieren würde), oder nur als «voreingenommen», oder es wird sogar festgehalten, es könne offenbleiben, ob die BF überhaupt «vorbefasst» gewesen sei.

Umgekehrt erläutert die BF am Beispiel der Netanjahu-Karikatur, dass in diesem Beispiel die Quelle «UN Watch» nicht genügend kritisch überprüft und ihre Haltung entsprechend falsch wiedergegeben worden sei.

Angesichts des Umstandes, dass diese Karikatur in ihrer mindestens missverständlichen Symbolik seinerzeit offenbar sehr kontrovers beurteilt worden war, kann der Presserat in der entsprechenden Bewertung der «Weltwoche» keinen Verstoss gegen die Ziffer 1 der Erklärung erkennen, auch wenn die primäre Intention der BF mit ihrem Facebook-Post sich nicht direkt auf die Karikatur selber, sondern auf das Schicksal von deren Zeichner bezogen hatte.

Dass im Weiteren eine Bildlegende falsch zugeordnet war und dass der verantwortliche Sender viermal falsch mit «SRF» bezeichnet worden ist (womit auch ein Missverständnis darüber entstand, welche publizistischen Leitlinien überhaupt massgebend gewesen wären), wertet der Presserat nicht als vollwertige Verstösse gegen die Wahrheitspflicht, wohl aber als unsorgfältiges Handwerk.

Insgesamt sieht der Presserat die Richtlinie 1.1 zur «Erklärung» nicht verletzt.

2. Richtlinie 2.4: Die Richtlinie 2.4 zur «Erklärung» befasst sich mit dem Interessenkonflikt, der entsteht, wenn JournalistInnen gleichzeitig öffentliche Funktionen ausüben und fordert, dass dies vermieden werden soll, dass aber mindestens Transparenz hergestellt werden müsse, wenn der Fall doch einmal eintreten sollte. Die BF nennen zwar die RL 2.4 als verletzt, erläutern aber unter diesem Titel nicht explizit weshalb. Der BG ist zuzustimmen, wenn sie festhält, dass diese Bestimmung sich in erster Linie an JournalistInnen in öffentlichen Ämtern richtet, was hier nicht zur Diskussion steht. Die Formulierung, wonach Interessenkonflikte transparent gemacht werden sollen, hat aber durchaus auch allgemein Bedeutung. Darauf verweist schon die Formulierung in 2.4: «Dieselben Regeln gelten auch für private Tätigkeiten, die sich mit der Informationstätigkeit überschneiden können» und darauf wies etwa schon ein Entscheid zur Ziffer 2 vom 19. April 1990 hin, der festhielt: «Der Journalist ist kein Akteur. Medienschaffende sollen informieren und allenfalls in Notlagen Hilfe leisten (…). Wer sich als Partei in einen Konflikt einschaltet, kann nicht gleichzeitig unabhängig informieren.» Autor Klein bemerkt am Ende seines Artikels ganz allgemein: «Es sind sowohl bei der SRG-Ombudsstelle als auch beim Schweizer Presserat Beschwerden hängig. Auf die Stellungnahmen darf man gespannt sein.» Er verschweigt dabei, dass er selber die betreffenden Beschwerden eingereicht hat oder einzureichen gedenkt. Er berichtet trotz einem persönlichen Interesse an der Berichterstattung über das zur Diskussion stehende Thema und macht das nicht wenigstens transparent. Damit verletzt er die Richtlinie 2.4 zur «Erklärung».

3. Die Richtlinie 9.2: Diese regelt die Entgegennahme von Vorteilen in der Wirtschaftsberichterstattung. Sie ist darauf ausgelegt, die Unabhängigkeit der Berichterstattung zu erhalten, indem die Annahme oder das Erreichen von Vorteilen verhindert werden soll. Die Frage, ob sich auch dieser Passus ganz allgemein auf Interessenskonflikte und damit auch auf den vorliegenden Fall anwenden lässt, erübrigt sich angesichts der unter dem Titel «Interessenkonflikt» bereits festgestellten Verletzung von RL 2.4.

4. Die Richtlinie 3.8 verlangt, dass Betroffene bei «schweren Vorwürfen», also laut bisheriger Praxis des Presserates illegalem oder damit vergleichbarem Verhalten, anzuhören sind, dass deren Position in der Berichterstattung aufscheinen muss, wenn auch nicht unbedingt in gleicher Form und Länge wie die Vorwürfe.

Der Presserat geht davon aus, dass im vorliegenden Artikel keine Vorwürfe erhoben werden, die mit illegalem oder vergleichbarem Verhalten gleichgesetzt werden könnten. Es sind zwar fraglos sehr gravierende Vorwürfe an die Adresse einer Journalistin, aber sie betreffen nicht illegales oder vergleichbares Verhalten.

Hinzu kommt – selbst wenn man von «schweren Vorwürfen» ausginge – dass der «Weltwoche»-Autor der Redaktion von «Temps Présent» seine wichtigsten Vorwürfe effektiv vorgängig zum Artikel schriftlich unterbreitet hat. Zwar nur in Form einer einzigen Frage mit langem Vorlauf, zwar nicht auf dem eigentlich dafür vorgesehenen Weg, zwar ohne darauf hinzuweisen, dass er einen Artikel in der «Weltwoche» plane, zwar mit einer zu kurzen Antwortfrist und zwar mit einer entschieden vorgefassten Meinung («In ihrem Film verletzt Regisseurin Widmann mehrere Punkte der SRF- (sic) internen publizistischen Leitlinien sowie der Erklärung (…) des Schweizer Presserats»), aber er gab sich klar als Journalist zu erkennen, der einen Artikel plane. Wenn die BF kritisieren, dass er sich mit seinen Fragen nicht direkt an die Autorin des Films gewandt habe, dann ist dem entgegenzuhalten, dass er sich an eine richtige Instanz gewandt hat, nämlich an die Redaktion, die den Film verantwortet. Wen diese antworten lässt, die Autorin des Films oder ihren Chef, ist letztlich Sache der Redaktion. Dass die Redaktionsleitung wiederum Kleins sehr kämpferisch formulierte Frage eher knapp beantwortet hat, muss er sich nicht entgegenhalten lassen. Auch fällt nicht ins Gewicht, dass Klein die Antwort von Jean-Philippe Ceppi seinerseits mit erheblicher Häme beantwortet und damit auch seine eigene kämpferische Haltung unterstrichen hat («… darf ich Ihnen versichern, dass ich als Journalist von Ihrer Stellungnahme restlos begeistert bin. Sie illustriert exemplarisch die Arroganz und Überheblichkeit, mit der SRF- (sic) Mitarbeitende ihren Journalistenkollegen begegnen»). Dieser Ton erscheint im Rahmen einer journalistischen Recherche zwar als unprofessionell, aber nicht als eigentlicher Verstoss gegen die «Erklärung».

Zusammenfassend: Richtlinie 3.8 ist nicht verletzt.

III. Feststellungen

1. Der Presserat heisst die Beschwerde teilweise gut.

2. Die «Weltwoche» hat mit dem Artikel «Schweizer Fernsehen nimmt Partei» vom 3. März 2021 die Ziffer 2 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.

3. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde abgewiesen.