Nr. 14/2020
Wahrheit / Quellenbearbeitung / Anhören bei schweren Vorwürfen

(X. c. «Neue Zürcher Zeitung»)

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I. Sachverhalt

A. Am 28. März 2019 erschien in der «Neuen Zürcher Zeitung» (NZZ) ein Artikel gezeichnet von Joseph Croitoru unter dem Titel «Ein solches Geschichtsbild dulden wir nicht – eine polnische Kampagne gegen die Holocaust-Forschung». Darin schildert der Autor den Ablauf einer wissenschaftlichen Veranstaltung an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales EHESS in Paris. Diese hatte Aspekte des Holocaust in Polen zum Thema, insbesondere auch die Frage, welche Rolle polnische Bürger und Organisationen bei der Ermordung von Juden laut neuen historischen Erkenntnissen gespielt haben. Die Veranstaltung soll laut dem Artikel durch polnische Nationalisten im Vorfeld und während der Debatten massiv gestört worden sein.

B. X. reichte am 13. April 2019 eine Beschwerde beim Schweizer Presserat ein und machte eine Verletzung der Ziffern 1, 2, 3, 5 und 8 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») geltend. Die NZZ verstiess laut Beschwerdeführer (BF) X. insbesondere gegen die zur «Erklärung» gehörenden Richtlinien 1.1 (Wahrheitssuche), 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar), 3.1 (Quellenbearbeitung), 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen), 5.1 (Berichtigungspflicht), 8.1 (Achtung der Menschenwürde), 8.2 (Diskriminierungsverbot) und 8.3 (Opferschutz).

Der BF macht (in dieser unsystematischen Reihenfolge) geltend, die Veranstaltung sei nicht – wie im Artikel geschildert – wissenschaftlich gewesen, sondern die Versammlung einer «bizarren Gruppe von Ideologen», die dem Publikum ein verzerrtes Bild über Polen vermitteln wollten. Es sei nicht wahr, dass polnische Teilnehmer die Veranstaltung massiv gestört hätten, vielmehr hätten die Veranstalter die polnischen Teilnehmer massiv beleidigt. Im Weiteren wirft er dem Autor vor, eine falsche These über die Zahl von Juden zu verbreiten, welche aus den polnischen Ghettos geflohen und anschliessend von Polen umgebracht worden sein sollen. Hier habe er eine Quelle zitiert, die ihrerseits eine weitere Quelle völlig verfälscht habe. Weiter unterstelle die NZZ den an der Konferenz teilnehmenden Polen, Redner als «dreckige Juden» beschimpft zu haben, ohne das zu beweisen, gleich wie sie auch über Drohbriefe an die Veranstalter vor der Konferenz schreibe, dies ebenfalls ohne Beweis. Jedoch erwähne der Bericht nicht, worum es den Polen wirklich gehe, nämlich darum «die Geschichtsfälschung zum Nachteil von Polen» zu bekämpfen.

Weiter sei es falsch, zu behaupten, Vertreter des polnischen «Institutes für Nationales Gedenken» (IPN) hätten am Symposium den polnischen Staat vertreten und dieser scheine im Hintergrund auch über die Botschafter in Paris und Bern sowie über das polnische Fernsehen aktiv gewesen zu sein. Falsch sei auch die Behauptung, der IPN-Vertreter habe einen teilnehmenden Historiker disqualifizieren wollen, es sei jenem nur darum gegangen, des Historikers «Fälschungen» zu beweisen. Es sei auch eine «Lüge», zu behaupten, die Veranstaltung sei nicht aufgezeichnet worden, dies sei sehr wohl der Fall gewesen, was ihm von den Veranstaltern bestätigt werde. Auch sei es falsch, zu behaupten, die antijüdische Kollaboration in Polen sei weit verbreitet gewesen. Dafür gebe es Zahlen. Der Satz «Auch Mitglieder des polnischen Untergrunds töteten Juden» widerspreche der historischen Wahrheit. Der BF bittet abschliessend den Presserat, den verzerrten Bericht der NZZ auf die Übereinstimmung mit den Richtlinien des Presserates zu überprüfen.

C. Am 27. Juni 2019 nahm Peter Rásonyi, Ressortleiter Ausland, namens der NZZ zur Beschwerde Stellung. Er beantragt eine vollumfängliche Ablehnung, soweit auf die Beschwerde überhaupt einzutreten sei.

Die NZZ macht (in der Reihenfolge der erhobenen Vorwürfe) geltend, dass der Beschwerdeführer mehrfach Feststellungen treffe, die seine persönliche Sichtweise umschrieben, beispielsweise wenn er die Teilnehmer eines wissenschaftlichen Symposiums als «bizarre Gruppe» bezeichne, was aber mit dem Inhalt des Artikels nichts zu tun habe. Weiter treffe es nicht zu, dass der NZZ-Autor das Verhalten von polnischen Teilnehmern des Symposiums falsch darstelle, dieser zitiere in Wirklichkeit die Universität EHESS, welche sich kritisch über die Betreffenden geäussert habe. Dass polnische Teilnehmer die Veranstaltung gestört hätten, werde ebenfalls vom EHESS bestätigt, also von einer glaubwürdigen Quelle, im Übrigen bestätige dies auch ein auf Youtube zugängliches Video. Ob die Behauptung, Polen hätten 200’000 Juden umgebracht, richtig sei, spiele im vorliegenden Zusammenhang keine Rolle. Der Autor behaupte das nicht selber, sondern er gebe diese These eines Historikers korrekt wieder, welcher seinerseits wegen eben dieser These von polnischer Seite angefeindet werde. Dass ein Teilnehmer von polnischen Anwesenden als «dreckiger Jude» beschimpft worden sei, behaupte ebenfalls nicht der Autor, sondern das sei einer Stellungnahme der Veranstalter zu entnehmen. Aber es gebe Videos, die vor dem Veranstaltungsgebäude aufgenommen worden seien, die das belegten. Für die Annahme, dass der polnische Staat im Hintergrund mitgewirkt habe, legt die NZZ fünf Anhaltspunkte vor, welche eine solche Vermutung als plausibel erscheinen liessen. Dass die polnische Kollaboration mit den Nazis weit verbreitet gewesen sei, behaupte nicht der Autor, sondern das sei das Ergebnis eines Sammelbandes, der neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu diesem Thema zusammenfasse. Und dass der Satz «Auch Mitglieder des polnischen Untergrunds töteten Juden» nicht der persönlichen Überzeugung des BF entspreche, sei wohl wahr, tue aber nichts zur Sache.

Die NZZ habe gemäss alledem Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) nicht verletzt, sondern verfügbare Daten und Quellen geprüft und korrekt zitiert. Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) sei nicht betroffen, der Bericht über die Veranstaltung sei sachlich und nüchtern abgefasst. Zu Richtlinie 3.1 (Quellenbearbeitung): Die Quellen seien korrekt genannt und überprüft worden. Richtlinie 3.8, das Recht einer Person auf Anhörung bei schweren Vorwürfen, sei nicht tangiert, weil der BF im Artikel gar nicht erwähnt werde. Für eine Berichtigung (Richtlinie 5.1) gebe es keinen Anlass und es sei weder gegen die Menschenwürde (Richtlinie 8.1) verstossen, noch diskriminiert (Richtlinie 8.2) noch gegen den Opferschutz (Richtlinie 8.3) verstossen worden.

D. Am 12. Juli 2019 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 27. März 2020 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Die Beschwerde ist fristgemäss eingereicht worden. Die Anforderungen des Geschäftsreglements des Presserates wurden allerdings nicht zur Genüge eingehalten: Der Beschwerdeführer schildert zunächst auf drei Seiten, was die NZZ und die Veranstalter des Pariser Symposiums seines Erachtens falsch gemacht haben und zählt am Schluss auf, welche Richtlinien er insgesamt als verletzt betrachtet, aber er nennt nicht, welche Textstellen die verschiedenen Bestimmungen verletzen sollen, sondern er bittet den Presserat um eine «Überprüfung des Textes» auf seine Übereinstimmung mit der «Erklärung».

Der Beschwerdeführer muss aus seinen drei bisherigen Beschwerden allein im Laufe der letzten eineinhalb Jahre wissen, dass dies nicht genügt: Der Presserat nimmt keine Pauschalüberprüfungen vor. Wer sich über ein Medienerzeugnis beschwert, muss erläutern, welche Textstelle seines Erachtens gegen welche Bestimmung verstösst (Geschäftsreglement Art. 9). Dennoch tritt der Presserat ohne Präjudiz noch einmal auf die Beschwerde ein.

2. Der Text der NZZ beschreibt die Vorgänge um ein wissenschaftliches Symposium, das neue Erkenntnisse der historischen Forschung zum Holocaust in Polen zum Thema hatte und gegen welches protestiert worden sei. Es werden die Quellen angegeben, es werden Positionen zusammengefasst und es wird von unschönen Szenen berichtet, darüber, dass die vorgebrachten Thesen von polnischen Nationalisten heftig bestritten worden seien. Diese Thesen teilt der BF offensichtlich nicht, das ändert aber nichts an der journalistischen Machart des Textes. Diese ist korrekt und nachvollziehbar. Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche), 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) und 3.1 (Quellenbearbeitung) sind nicht verletzt.

3. Der Beschwerdegegnerin ist auch zuzustimmen, wenn sie festhält, dass kein Recht auf Anhörung bei schweren Vorwürfen (Richtlinie 3.8) besteht, weil der BF im Text gar nicht erwähnt wird. Für Berichtigungen (Richtlinie 5.1) bestünde dann Anlass, wenn der Autor Quellen falsch zitiert, die Vorgänge am fraglichen Anlass falsch geschildert hätte. In dieser Beziehung steht in einigen Fällen Aussage gegen Aussage, wobei die NZZ in einem Fall plausible Indizien anführt, welche eine Beteiligung staatlicher polnischer Stellen vermuten lassen können und in einem anderen (Beschimpfungen) Videos anführt, welche den Sachverhalt belegen. Der Presserat sieht keinen Verstoss gegen die Richtlinien 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) oder 5.1 (Berichtigungspflicht).

4. Wo im fraglichen Text gegen wessen Menschenwürde (Richtlinie 8.1) verstossen, wo diskriminiert (8.2) oder gegen den Opferschutz (8.3) verstossen worden sein soll, ist nicht ersichtlich.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. Die «Neue Zürcher Zeitung» hat mit dem Artikel «Ein solches Geschichtsbild dulden wir nicht …» vom 28. März 2019 die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht), 2 (Trennung von Fakten und Kommentar), 3 (Quellenbearbeitung/Anhörung bei schweren Vorwürfen), 5 (Berichtigung) und 8 (Menschenwürde/Diskriminierung/Opferschutz) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.