Nr. 9/2022
Wahrheit

(X. c. «NZZ am Sonntag»)

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I. Sachverhalt

A. Am 27. Juni 2021 erschien in der Rubrik «Meinungen» der «NZZ am Sonntag» (NZZaS) ein Text von Peter Hossli unter dem Titel «Wie stark der Regenbogen strahlt, zeigt sich 2022 in Katar». Darin setzt sich der Autor mit dem Verhältnis Sport – Politik auseinander, insbesondere mit der bevorstehenden Fussball-Weltmeisterschaft in Katar. Er nimmt den Umstand, dass der deutsche Fussball-Torhüter Manuel Neuer bei der Europameisterschaft mit einer Captain-Armbinde in den Regenbogenfarben gespielt hat, zum Anlass, darauf hinzuweisen, dass so ein Zeichen gegen die homophoben Gesetze in Ungarn bisher «gratis» gewesen sei. Wie ernst es den Fussballern mit dem Einstehen für Menschenrechte wirklich sei, werde sich erst an der Weltmeisterschaft in Katar zeigen. Dort würden genau die Menschenrechte missachtet, welche Neuer und andere verträten. Der Protest dagegen werde aber in Katar wesentlich schwieriger werden. Das Land finanziere nicht nur Neuers Verein Bayern München mit, sondern auch den Verein Paris St. Germain, bei dem Stars aus gleich sieben Nationalmannschaften spielten. Einer der katarischen Staatsfonds sei auch Grossaktionär von Volkswagen, dem Hauptsponsor der deutschen Nationalmannschaft. Jetzt ertöne der Ruf nach einem Boykott der WM. Fussballer müssten am Golf beweisen, wie viel ihnen ihr Mut wert sei. Der Autor stellt danach einige rhetorische Fragen – unter anderem: «Kann Neuer ohne Gesichtsverlust in Stadien spielen, bei deren Bau Tausende von Gastarbeitern starben?» Der Artikel endet mit dem Hinweis, dass Proteste in Katar unwahrscheinlich seien, denn Sportler, welche sich für politische Forderungen eingesetzten, hätten meist einen sehr hohen Preis bezahlt. Er nennt Beispiele von Muhammad Ali bis Colin Kapernick.

B. Am 13. September 2021 reichte X. Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Sie macht geltend, der Artikel verletze die Ziffer 1 (Verpflichtung zur Wahrheit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten». Zur Begründung führt sie an, der Satz «Kann Neuer ohne Gesichtsverlust in Stadien spielen, bei deren Bau Tausende von Gastarbeitern starben?» entspreche nicht den Tatsachen. Sie zitiert einen Artikel des britischen «Guardian», der von 6750 verstorbenen Arbeitsmigranten spreche, davon stünden aber nur 37 im Zusammenhang mit Arbeitsunfällen auf Bauplätzen von Fifa-Weltmeisterschaftsstadien. Allein ein Fünftel der insgesamt 6750 Todesfälle von ausländischen Arbeitern, also fast 1500, gehe auf Verkehrsunfälle oder Selbstmorde zurück. Auch ein Bericht von Amnesty International beschäftige sich nicht mit allfälligen Toten, sondern lediglich mit den schlechten Arbeitsbedingungen.

C. Mit Beschwerdeantwort vom 9. Januar 2022 beantragte der Rechtsdienst der NZZaS, die Beschwerde sei abzuweisen. Die sehr geringe Zahl toter ausländischer Arbeiter auf Stadion-Baustellen (37) im Vergleich zur Gesamtzahl (6750) ergebe sich aus einer Verlautbarung des katarischen WM-Organisationskomitees. Es sei eine Farce, behaupten zu wollen, diese Aussage entspreche der unumstrittenen Wahrheit. Insbesondere sei – mit dem «Guardian» – davon auszugehen, dass im Hinblick auf die WM nicht nur sieben Fussballstadien, sondern Dutzende Grossprojekte, unter anderem ein ganzer Flugplatz, Strassen, öffentliche Transportmittel, Hotels, eine ganze neue Stadt errichtet worden seien. Aufgrund der notorischen Intransparenz in Katar sei weder diese eine noch andere Zahlen belegbar, unumstritten unter den beiden hier auftretenden Parteien sei nur die Gesamtzahl von gegen 7000 Toten. Ob diese direkt dem Stadionbau oder allgemein der Fussball-WM insgesamt zugeschrieben würden, sei nicht von Relevanz. Man hätte genauso gut die Frage stellen können, ob Neuer ohne Gesichtsverlust in einem Land spielen könne, bei dessen Bauprojekten für die WM Tausende Arbeiter gestorben seien. Und falls man dennoch von einer unwahren Behauptung ausgehen wolle, könne allenfalls von einer journalistischen Ungenauigkeit gesprochen werden, aber nicht von einer Verletzung der Wahrheitspflicht. Es bei dieser Zahl «Tausende» nicht um eine zentrale Aussage des Kommentars gegangen, genaue Angaben seien in Katar gar nicht zu beschaffen.

D. Am 28. Januar 2022 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Präsidium behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Max Trossmann, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin.

E. Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 24. März 2022 verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Die Ziffer 1 der «Erklärung» verlangt von Journalisten und Journalistinnen, sich an die Wahrheit zu halten. Was die Wahrheit hinsichtlich der Zahl von verstorbenen ausländischen Arbeitern angeht, die in Katar auf Stadien oder anderen Bauprojekten gearbeitet haben, welche im Hinblick auf die WM 2022 errichtet werden, besteht in Teilen Einigkeit zwischen den Parteien: Beide berufen sich auf eine Recherche des «Guardian» vom 23. Februar 2021, dieser hatte von 6750 toten Arbeitern aus Südasien seit Bekanntgabe von Katar als Austragungsort der WM vor zehn Jahren geschrieben. Der «Guardian» erwähnt, dass die katarische Regierung nur von 37 Toten beim eigentlichen Stadionbau spreche, darauf beruft sich denn auch die Beschwerdeführerin. Der Artikel weist aber unmittelbar danach darauf hin, dass die Angaben der katarischen Behörden nicht glaubwürdig seien (1), weil ein wesentlicher Teil der über 6000 später Verstorbenen nach Katar gekommen sei, nachdem das Land 2010 die WM 2022 zugesprochen erhalten habe, weshalb sie also grossenteils mit Arbeiten im Zusammenhang mit der WM beschäftigt gewesen sein müssten (2). Weiter weist der «Guardian» darauf hin, dass seine Recherche nur Todesfälle von Arbeitern aus Südasien erfasst habe. Die effektive Zahl sei aber wesentlich höher als insgesamt 6750, da weder das grosse Kontingent aus den Philippinen noch jenes aus Kenia mit untersucht worden sei.

2. Offen bleibt, wie viele südasiatische Arbeiter aufgrund sehr schlechter Arbeitsbedingungen gestorben sind und wie viele aufgrund von Krankheiten oder bei Verkehrsunfällen umkamen. Dazu gibt es keine brauchbaren offiziellen Angaben, die zitierten Experten gehen aber davon aus, dass ein erheblicher Teil unter die erste Kategorie (Tod infolge unmenschlicher Arbeitsbedingungen) falle. Die katarische Regierung bestreite dies, so der «Guardian».

3. Angesichts der verschiedenen Stimmen, welche die einzige hier zur Diskussion gestellte Quelle – der «Guardian» vom 23. Februar 2021 – anführt, ist es nicht wahrheitswidrig festzustellen, dass «Tausende von Gastarbeitern» im Zusammenhang mit den Arbeitsbedingungen bei den Vorbereitungen zur WM 2022 gestorben sind. Der Kommentar der NZZaS sprach allerdings davon, sie seien «beim Bau von Stadien» gestorben. Diese Beschreibung lässt sich in dieser Form nicht halten, jedenfalls nicht, wenn man auf den exakten Wortsinn abstellt. Der «Guardian» erwähnt vielmehr eine Menge von weiteren grossen WM-bezogenen Bauprojekten als Schauplätze von Misshandlungen von Arbeitskräften, nicht nur die sieben Stadien. Die NZZaS spricht beim Verweis lediglich auf den Stadionbau von einer «Versinnbildlichung».

Weil laut verschiedenen Beobachtern die grosse Zahl misshandelter und verstorbener Arbeiter effektiv auf die Arbeitsbedingungen bei Projekten im Zusammenhang mit der WM zurückzuführen ist, kann bei der Formulierung «… in Stadien bei deren Bau …» nicht wirklich von einem Verstoss gegen die Wahrheitspflicht gesprochen werden, sondern vielmehr von mangelnder Genauigkeit. Auf keinen Fall aber kann auf die Zahl von 37 Toten abgestellt werden, wie die Beschwerdeführerin dies tut, insbesondere nicht, weil die dafür genannte Quelle, der katarische Organisator, von diesen 37 Toten sagt, 34 von ihnen seien gar nicht «work-related» gestorben (3). Was bedeuten würde, dass nur drei der Arbeiter beim Bau der sieben Stadien arbeitsbedingt gestorben seien. Angesichts der unter den Parteien unbestrittenen Gesamtzahl von 6750 toten Arbeitern allein aus Südasien erscheint dies als ausgesprochen unplausibel.

4. Hinzu kommt, dass diese sehr zugespitzte («versinnbildlichende») Formulierung Teil eines Kommentars war und dass die Zahl in diesem Kontext kein zentraler Punkt war. Es ging um die Rolle der Politik im Sport, aber auch um die Rolle Katars als Geldgeber vieler Sportmannschaften und als autoritärer, repressiver Staat, der als Gastgeber einer WM auftritt.

Angesichts all dessen geht der Presserat davon aus, dass die fragliche Formulierung «Kann Neuer ohne Gesichtsverlust in Stadien spielen, bei deren Bau Tausende von Gastarbeitern starben?» in dieser Form zwar so nicht korrekt war. Kann Neuer «… in WM-Anlagen auftreten, bei deren Bau Tausende …» wäre genauer gewesen. Die Formulierung bildet aber nicht einen vollwertigen Verstoss gegen die Wahrheitspflicht im Sinne der «Erklärung» und der diesbezüglichen Praxis des Presserates, sondern einen Mangel an Genauigkeit, einen handwerklichen Fehler.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. Die «NZZ am Sonntag» hat mit dem Artikel «Wie stark der Regenbogen strahlt, zeigt sich 2022 in Katar» die Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.

(1) The Guardian has previously reported that such classifications, which are usually made without an autopsy, often fail to provide a legitimate medical explanation for the underlying cause of these deaths. (Guardian 21. 2. 2021)

(2) A very significant proportion of the migrant workers who have died since 2011 were only in the country because Qatar won the right to host the World Cup. (do.)

(3) There have been 37 deaths among workers directly linked to construction of World Cup stadiums, of which 34 are classified as «non-work related» by the event’s organising committee. (do.)