Nr. 9/2021
Wahrheit / Quellenbearbeitung / Berichtigung

(X. c. «Tages-Anzeiger», «Bund», «Berner Zeitung», «Basler Zeitung»)

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I. Sachverhalt

A. Am 24. August 2020 erschien in vier Blättern der Tamedia («Tages-Anzeiger», «Der Bund», «Berner Zeitung», Basler Zeitung») ein Artikel von Kurt Pelda unter dem Titel «Bund wäscht umstrittene islamische Hilfsorganisation rein». Darin wird über neu entdeckte «antisemitische Entgleisungen» seitens einer Organisation namens «Islamic Relief» berichtet, welche von den Schweizer Behörden eben erst als unproblematisch beurteilt worden sei. Im Einzelnen wird dargelegt, dass das Schweizer Aussenministerium EDA die zuvor in den Medien kritisierte Unterstützung von «Islamic Relief» mit drei Millionen Franken als durchaus gerechtfertigt einstufe. Eine Untersuchung habe ergeben, dass die kritisierten antisemitischen Äusserungen seitens der Organisation fünf Jahre zurücklägen und auf ein einzelnes Kadermitglied, Direktor Heshmat Khalifa, zurückgegangen seien. Seither habe die Organisation sich von rassistischen und antisemitischen Äusserungen glaubwürdig distanziert. Khalifa sei durch Almoutaz Tayara ersetzt worden. Nur einen Tag nach dieser Mitteilung des EDA – so der Tamedia-Artikel wörtlich weiter – «berichtete die britische ‹Times›, dass der angesehene italienische Islamismus- und Terrorismusforscher Lorenzo Vidino auch bei Tayara auf antisemitische Facebook-Posts gestossen sei»: auf eine Karikatur von US-Präsident Obama mit Davidsstern, welche eine jüdische Weltverschwörung thematisiere, und auf eine Verherrlichung der bewaffneten Qassam-Brigaden der Hamas in Gaza. Als Reaktion auf den «Times»-Artikel – so der Text von Pelda weiter – habe «Islamic Relief» angekündigt, den ganzen Stiftungsrat auszuwechseln, womit auch Almoutaz Tayara aus dem Führungsgremium bereits wieder entfernt werde. Es gehe – so Pelda – eben doch nicht, wie das EDA behauptet habe, nur um einen einzelnen Mitarbeiter. Die rund drei Millionen Franken Entwicklungsgelder seien inzwischen aber schon ausgegeben, derzeit liefen keine weiteren Projekte mit «Islamic Relief».

Auf den Online-Versionen des Artikels ist nach dem Hinweis auf die antisemitischen Karikaturen ein Verweis-Stern eingefügt, am Ende des Textes ist nach einem Stern in kursiver Schrift hinzugefügt: «Ursprünglich wurden die Facebook-Posts von der auf Islamismus spezialisierten deutschen Bloggerin X. entdeckt und 2017 auf ihrem Blog veröffentlicht.»

B. Am 2. September 2020 reichte X. Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Sie macht geltend, der Artikel von Kurt Pelda verletze die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht), 3 (Quellenbearbeitung) und 5 (Berichtigungspflicht) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung«).

Die Beschwerdeführerin (BF) macht geltend, dass es nicht der Islamismusforscher Lorenzo Vidino gewesen sei, der die antisemitischen Posts von Tayara entdeckt habe, sondern sie selber. Das habe die «Times» in ihrem Artikel auch durchaus richtig beschrieben, indem sie nicht nur auf die «Entdeckung» von Vidino hingewiesen habe, sondern – später im Artikel – auch darauf, dass die Entdeckung ursprünglich von ihr stamme, sie habe nämlich die 2014 und 2015 geschriebenen Posts von Tayara 2017 auf ihrem Blog publiziert. Damit, dass der Artikel von Pelda diesen Aspekt, ihre Urheberschaft, unterschlagen habe, sei die Wahrheitspflicht und das Gebot zum sorgfältigen Umgang mit Quellen verletzt, ebenso sei gegen die Berichtigungspflicht verstossen worden, weil die von ihr angeschriebenen Redaktionen es nicht für nötig gehalten hätten, auf ihre Reklamationen auch nur zu reagieren.

C. Mit Beschwerdeantwort vom 30. September 2020 beantragte die Rechtsabteilung der TX Group, welcher die vier Titel der Tamedia gehören, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten. Eventualiter sei diese abzuweisen. Nichteintreten begründet die Beschwerdegegnerin (BG) damit, dass unter den jeweiligen Online-Artikeln der vier Zeitungen die Ergänzung angefügt worden sei, welche auf die ursprüngliche Urheberschaft der BF hinweise. Diese Korrekturmassnahme reiche gemäss Art. 11 Abs. 1 des Geschäftsreglements bei Angelegenheiten von geringer Relevanz aus, damit auf eine Beschwerde gar nicht erst eingetreten werde.

Falls der Presserat dennoch auf die Beschwerde eintrete, hält Tamedia zum Vorwurf der Verletzung der Wahrheitspflicht (Ziffer 1 der «Erklärung») fest, dass der Artikel nirgends behaupte, Vidino sei der Urheber der ursprünglichen Recherche, es werde nur gesagt, er sei auf die Facebook-Posts von Tayara gestossen. Vidino habe effektiv im August 2020 die damaligen Posts von Tayara in den Zusammenhang mit den jüngsten Ereignissen bei «Islamic Relief» gesetzt, das sei seine Leistung, deswegen entspreche es auch der Wahrheit, wenn man in diesem Zusammenhang auf Vidino verweise.

Hinzu komme, dass Verkürzungen zulässig seien. In diesem Fall sei es um die aktuellen Umwälzungen bei «Islamic Relief» gegangen, dass Tayara schon wieder abgelöst werden müsse. Die Recherchearbeiten zum Islamismus seien nicht Gegenstand des Artikels gewesen, entsprechend habe dieser Aspekt weggelassen werden dürfen.

Was die Quellenbearbeitung (Ziffer 3 der «Erklärung») angehe, so sei der BG die Quelle ihrer Information («The Times») sehr wohl bekannt gewesen und sie sei auch korrekt mit dem Quellenmaterial umgegangen.

Und gegen die Berichtigungspflicht (Ziffer 5 der «Erklärung») habe Tamedia ebenfalls nicht verstossen, im Gegenteil, es sei nichts Unwahres publiziert worden und der Artikel sei dennoch mit dem Hinweis auf die Rolle der BF ergänzt worden.

D. Am 13. Oktober 2020 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg sowie den Vizepräsidenten Casper Selg und Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 3. März 2021 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Der Presserat tritt auf die Beschwerde ein. Der BG ist zwar zuzustimmen, dass bei einer Angelegenheit von geringer Bedeutung nicht eingetreten wird, wenn eine Berichtigung oder Entschuldigung stattgefunden hat. Das war bei den Online-Versionen mit der nachgestellten Ergänzung der Fall. Nur weiss der Presserat nicht, wann dies geschehen ist, Richtlinie 5.1 zur Ziffer 5 verlangt eine «unverzügliche» Berichtigung.

2. Es ist nicht ganz richtig, wenn der Artikel der BG auf den Islamismus-Forscher Vidino verwiesen hat, der auf die antisemitischen Posts von Tayara «gestossen» sei. Diese Ungenauigkeit wiederum ist zurückzuführen auf einen in dieser Hinsicht widersprüchlichen Text in der «Times», welche zuerst davon spricht, Vidino habe die Posts von Tayara «uncovered», um drei Spalten später zu ergänzen, die BF habe die Posts «initially discovered». Das ergibt streng genommen keinen Sinn. Wenn ein Sachverhalt schon entdeckt ist, wird er üblicherweise nicht nachher noch aufgedeckt.

Dass der Text von Pelda auf diesen Umstand nicht näher eingeht, führt zur erwähnten Ungenauigkeit im Artikel («… Vidino … auch bei Tayara auf antisemitische Facebook- Posts gestossen …»). Dass von der entscheidenden Rolle von X. nicht die Rede war, ist für diese selber wohl ärgerlich angesichts ihrer Forschungsarbeit auf diesem Gebiet und ihrer Erkenntnisse über Tayara. Von einem Fehler im Sinne eines eigentlichen Verstosses gegen die medienethische Wahrheitspflicht geht der Presserat aber nicht aus. Denn es trifft zu, dass Vidino im Zusammenhang mit den neuesten Ereignissen bei «Islamic Relief» auf die Rolle von Tayara zu sprechen gekommen ist. Die Ungenauigkeit lag in einem für den Artikel nebensächlichen Bereich: Das eigentliche Thema des Textes war die Problematik, wonach die Schweizer Behörden diese sich antisemitisch gebärdende Organisation eben erst als «unproblematisch» eingestuft hatten und sie zuvor mit drei Millionen Franken versorgt worden war.
Das heisst: Der Artikel war in einem nebensächlichen Punkt ungenau, es entspricht in der Praxis des Presserates aber keinem eigentlichen Verstoss gegen die Ziffer 1 der «Erklärung», gegen die Wahrheitspflicht.

3. Ein Verstoss im Umgang mit Quellenmaterial ist ebenfalls knapp zu verneinen. Die verwendete Quelle ist bekannt, gilt als professionell und glaubwürdig und wurde direkt und wörtlich zitiert. Der Autor Pelda ist nicht darauf eingegangen, dass der Text der «Times» in sich widersprüchlich war, dies bildet aber keinen Verstoss gegen die Ziffer 3 der «Erklärung», da es – gemessen am Thema seines Artikels – um eine Nebensächlichkeit ging.

4. Tamedia hat eine Berichtigung (Ziffer 5 der «Erklärung») in Form einer Ergänzung vorgenommen, wonach ursprünglich die Beschwerdeführerin die antisemitischen Äusserungen entdeckt und publiziert hat. Eine Pflicht zur Berichtigung entfällt damit.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. «Tages-Anzeiger», «Bund», «Berner Zeitung» und «Basler Zeitung» haben mit dem Artikel «Bund wäscht umstrittene islamische Hilfsorganisation rein» vom 24. August 2020 die Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (Umgang mit Quellen) und 5 (Berichtigungspflicht) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.