Nr. 9/2020
Wahrheit / Trennung von Fakten und Kommentar / Interview / Notsituation

(B. c. «Blick Online» und «Blick am Abend»)

Drucken

I. Sachverhalt

A. Am 12. Oktober 2018 publizierten «Blick Online» und «Blick am Abend» den Artikel «Sie will eine Million für ihre kranke Tochter». Im «Blick am Abend» erschien dieser Titel auf der Frontseite, der Haupttext auf den Seiten 2 und 3 ist mit dem Zitat «Hätte ich es gewusst, hätte ich abgetrieben» betitelt. Auf der Blick-Onlineseite lautete der Lead: «Die Tochter (11) von Atifete B. (44) hat Cystische Fibrose. Die Gefahr einer Erkrankung stand schon während der Schwangerschaft im Raum. Der schwere Vorwurf der Mutter: Die Frauenärztin habe einen Test verweigert.» Im «Blick am Abend» lautet der Lead auf der Frontseite: «Ihre Tochter kam mit der Stoffwechselkrankheit Cystische Fibrose zur Welt. Jetzt, elf Jahre später, verklagt Atifete B. ihre damalige Frauenärztin. Die habe nicht alle möglichen Tests gemacht, um zu sehen, ob das Baby gesund ist.» Und der Lead zum Artikel innen: «Atifete B. (44) fordert von ihrer Frauenärztin Schadenersatz, weil sie einen pränatalen Test verweigert haben soll.» Die Artikel sind mit je einem grossen Foto einer Frau bebildert, die besorgt in die Kamera blickt. Auf der Frontseite des «Blick am Abend» ist ausserdem ein Hinweis auf einen weiteren Text zum Thema plat-ziert: Er zeigt das Foto des Blick-Redaktors Peter Padrutt. Die Bildunterschrift lautet: «Kann Atifete B. nicht verstehen: BLICK-Redaktor Peter Padrutt leidet an der Erbkrank-heit.»

Im Artikel von Gabriela Battaglia geht es um einen laufenden Gerichtsprozess, in dem B. die Klägerin ist. Sie, eine Schweizerin mit kosovarischer Herkunft, klage gegen ihre Frauenärztin. Ihre beiden Kinder leiden an Cystischer Fibrose. Bevor B.’s heute elfjähri-ge Tochter zur Welt kam, habe sie von der Frauenärztin eine Untersuchung verlangt. Bereits der sechs Jahre ältere Sohn leide an der Krankheit. B. habe kein zweites krankes Kind gewollt. Die Frauenärztin habe ihr versichert, das Baby sei gesund, und verzichtete auf einen Test.

Nach der Geburt sei das Mädchen bei schlechter Gesundheit gewesen. Ein Test im Spi-tal habe ihr dann trotzdem Cystische Fibrose diagnostiziert. Daraufhin habe B. die Ärz-tin angezeigt und eine Genugtuung von 30’000 Franken erhalten. Dies habe der Mutter aber nicht genügt. «Ich will Schadenersatz für mein Kind. (…) Die Krankheit kostet Geld (…)», wird sie zitiert. Im Gerichtsverfahren gehe es nun um einen Betrag zwischen einer halben und einer ganzen Million Franken.

Die Journalistin zitiert wie folgt aus dem Gerichtsprozess: Die Ärztin habe ausgesagt, die Patientin habe sich das Kind ausdrücklich gewünscht. Deswegen habe sie auf einen Test verzichtet. Der Anwalt der Ärztin habe aufgrund des laufenden Verfahrens keine Stellung nehmen wollen. Angehängt an den Artikel findet sich ein Textkasten, in dem die Erbkrankheit Cystische Fibrose mit ihren Symptomen und Folgen erklärt wird.

Neben dem Haupttext ist im «Blick am Abend» ein Kommentar des «Blick»-Reporters Peter Padrutt erschienen. Er trägt den Titel: «Kinder mit Cystischer Fibrose sind kein Schaden». Im Lead heisst es: «BLICK-Reporter Peter Padrutt leidet selbst an der Erb-krankheit – er kann Atifete B. nicht verstehen.» Im Kommentar erzählt Peter Padrutt die Geschichte, wie bei ihm und seinem Bruder die Krankheit diagnostiziert wurde und wie seine Mutter weinte, als sie es erfuhr. Allerdings habe das Schicksal die Familie näher zusammengebracht. Heute sei er 55 Jahre alt, von Organtransplantationen abhängig, aber glücklich, weiterhin zu leben. Vorwürfe von Eltern gegen Ärzte könne er nicht verstehen.

B. Am 16. Oktober 2018 reichten die Anwälte von B. beim Schweizer Presserat Be-schwerde gegen den Artikel vom 12. Oktober 2018 ein. Sie machen Verletzungen der zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nach-folgend «Erklärung») gehörenden Richtlinien 1.1 (Wahrheitssuche), 2.3 (Trennung zwi-schen Bericht und Kommentar), 4.5 (Interview) und 7.8 (Notsituation) geltend.

Die Pflicht zur Wahrheitssuche sei aufgrund der genannten Höhe des Schadenersatzes von einer Million Franken verletzt. Frau B. habe nicht selbst gesagt, sie wolle eine Million Franken Schadenersatz für ihr krankes Kind. Die Höhe der Summe gehe vielmehr aus einem Gutachten hervor, das ein Spezialist der Universität Zürich erstellt habe. Dieses Gutachten habe die Journalistin zudem nicht erwähnt und damit ein wichtiges Informationselement unterschlagen (geregelt in Ziffer 3 der «Erklärung»). Daran ändere auch der Verweis auf die Kosten der Medikamente und der Lungentransplantation nichts: Es gehe nicht um derartige Kosten, sondern um den Aufwand für Pflege und Betreuung.

Weiter rügt die Beschwerdeführerin, der Text unterscheide nicht klar zwischen Fakten und Kommentar, damit sei Richtlinie 2.3 verletzt. Beim unvoreingenommenen Leser entstehe insbesondere mit der Frontseite des «Blick am Abend» der Eindruck, die Ansprüche von B. seien unbegründet. Die Berichte liessen gar den Verdacht aufkommen, sie sei eine «Abzockerin aus dem früheren Jugoslawien». Ihr Vorname Atifete sei im Text vollständig zu lesen und weise auf den ethnischen Hintergrund hin. Der Standpunkt des «Blick»-Redaktors Peter Padrutt («Kinder mit Cystischer Fibrose sind kein Schaden»), der selbst an Cystischer Fibrose erkrankt ist, diskreditiere die Position der Beschwerdeführerin zusätzlich. Ausserdem seien die Bilder von Frau B. «offensichtlich bewusst unvorteilhaft».

Die Beschwerdeführerin beklagt ausserdem, Richtlinie 4.5 (Interview) sei verletzt. Laut dieser basiert ein Interview auf einer Vereinbarung zwischen zwei Partnerinnen oder Partnern. Interviews müssen zudem autorisiert werden. Im vorliegenden Fall sei das In-terview, obwohl es sich um ein laufendes Verfahren handelt, ohne vorherige Kontaktaufnahme mit dem prozessführenden Anwalt zustande gekommen. Zudem habe die Journalistin Frau B. «unter der Haustüre überrascht» und sich dabei nicht eindeutig als «Blick»-Journalistin erkennbar gemacht. Schliesslich beanstandet die Beschwerdeführerin einen Verstoss gegen Richtlinie 7.8 (Notsituationen, Krankheit, Krieg und Konflikte). Demnach sind Journalistinnen und Journalisten verpflichtet, gegenüber Personen in Notlage besonders zurückhaltend aufzutreten. Die Beschwerdeschrift resümiert, im Artikel gehe es nicht um Sachlichkeit, sondern darum, «die schwer geschädigte Mutter eines CF-Kindes in der Öffentlichkeit herabzusetzen».

C. Am 29. November 2018 nahm die anwaltlich vertretene Redaktion von «Blick Online» und «Blick am Abend» zur Beschwerde Stellung. Sie beantragt deren Abweisung und hält zudem fest, in der Beschwerdeschrift seien «manifeste Unwahrheiten» betreffend den Ablauf des Gesprächs zwischen der Journalistin und der Beschwerdeführerin festgehalten. Die Vorwürfe in der Beschwerdeschrift seien allesamt unbegründet.

Die Wahrheitspflicht habe die Journalistin nicht verletzt. Während des Gesprächs habe die Journalistin Gabriela Battaglia dreimal gefragt, ob die Klägerin einen Schadenersatz von einer Million wolle. Die Beschwerdeführerin habe jedes Mal unmissverständlich be-jaht. Die Journalistin sei zudem nicht verpflichtet gewesen, den genannten Betrag näher zu erklären oder zu sagen, wer die Berechnung vorgenommen hatte. Relevant sei in dem konkreten Punkt einzig, dass keine falschen Informationen über die Klage bzw. die Beschwerdeführerin verbreitet wurden.

Die Beschwerdegegner sind weiter der Ansicht, Fakten und Kommentar klar getrennt zu haben. Es sei den Redaktionen freigestellt, den Prozess «zu bewerten», also auch kommentierend einzuordnen. Die Beschwerdeführerin stehe weder als Abzockerin noch sonst negativ da. Der Kommentar sei durch die Kennzeichnung eindeutig als solcher erkennbar sowie durch den optischen Unterschied auch von den anderen Textformen unterscheidbar. Bezüglich der Namensnennung habe sich Frau B. bereits während des Gesprächs mit der Journalistin einverstanden erklärt, im Artikel «Atifete B.» genannt zu werden. Gegen die Fotos habe sie und auch ihr Partner nichts einzuwenden gehabt.

Auch ein unlauteres Vorgehen beim Interview (Richtlinie 4.5) weisen die Beschwerdegegner zurück. Die Beschwerdeführerin habe der Journalistin Gabriela Battaglia erst die Tür geöffnet, nachdem sich diese als «Blick»-Reporterin zu erkennen gegeben und ihre Absichten geäussert hatte. Die Zitate habe sie durch die Anwälte von B. autorisieren lassen und den Anpassungswunsch berücksichtigt. Den Besuch im Vornherein anzumelden oder die Anwälte darüber zu informieren, wäre zudem höchst unüblich gewesen. Zum Vorwurf des Verstosses gegen Richtlinie 7.8 schliesslich schreiben die Be-schwerdegegner, es habe sich bei der Interviewpartnerin keineswegs um eine Person in einer Notlage gehandelt. Die Beschwerdeführerin sei «uneingeschränkt urteils-, handlungs- und arbeitsfähig» gewesen und habe freiwillig über ihren Prozess gesprochen.

D. Am 7. Dezember 2018 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 27. März 2020 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Die Beschwerdeführerin macht geltend, der Artikel in «Blick Online» und «Blick am Abend» verletze die Wahrheitspflicht, die Trennung zwischen Fakten und Kommentar und verstosse gegen die gebotene Rücksichtnahme in Notsituationen. Zudem wirft sie der Redaktion unlautere Recherchemethoden vor.

Ziffer 1 der «Erklärung» verlangt von Journalistinnen und Journalisten, dass sie sich an die Wahrheit halten. Sie lassen sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten, die Wahrheit zu erfahren. Die Beschwerdeführerin moniert erstens eine Verletzung der Wahrheitspflicht, weil die Journalistin die Höhe der geforderten Schadenersatzsumme ihr zuschreibe. Tatsächlich geht die Summe von einer Million Franken aus einem extern erstellten Gutachten hervor. Dieses Gutachten kommt im Artikel nicht vor, für die Beschwerdeführerin kommt dies einem Unterschlagen wichtiger Informationselemente gleich. Die Redaktion hält fest, die Beschwerdeführerin habe die Zahl gegenüber der Journalistin mehrfach bestätigt. Es habe weiter keine Pflicht bestanden, den Hintergrund der Berechnung auszuführen.

Die Wahrheitspflicht wäre aus Sicht des Presserats dann verletzt, wenn einzelne Elemente im Artikel nicht stimmen würden. Dies macht die Beschwerdeführerin jedoch nicht geltend. Vielmehr bestätigen ihre Anwälte, dass die Höhe der genannten Schadenersatzsumme korrekt sei. Ob die Beschwerdeführerin im Gespräch mit der Journalistin die Zahl selbst genannt hat, lässt sich nicht nachprüfen, es steht Aussage gegen Aussage. Daraus kann keine Verletzung der Wahrheitspflicht abgeleitet werden. In sämt-lichen publizierten Versionen des Artikels sorgen bereits Titel, Dachzeilen, Leads und Bildlegenden für faktische Klarheit: Dass Mutter B. ihre frühere Frauenärztin auf Schadenersatz von maximal einer Million Franken verklagt hat. Richtlinie 1.1 zur «Erklärung» ist somit nicht verletzt.

2. Zu fragen ist als Zweites, ob die Journalistin oder die Redaktion Tatsachen mit ihrer persönlichen Meinung vermischt und damit Richtlinie 2.3 verletzt hat. Richtlinie 2.3 verpflichtet Journalistinnen und Journalisten, darauf zu achten, dass das Publikum zwischen Fakten und kommentierenden, kritischen Einschätzungen unterscheiden kann. Die Beschwerdeführerin ist der Ansicht, ihre Meinung werde im Bericht unrecht-mässig diskreditiert. Der Artikel lasse gar den Verdacht der Abzockerei aufkommen.

Dem entgegnen die Beschwerdegegner, der Unterschied zwischen dem Hauptartikel und dem Kommentar sei für die Leserschaft optisch deutlich erkennbar. Frau B. sei dadurch nicht besonders negativ dargestellt.

Der Kommentar auf Seite 3 im «Blick am Abend» ist eindeutig als solcher erkennbar. Im Haupttext und der gesamten Aufmachung inklusive der Frontseite sind abgesehen davon keine Anzeichen von persönlichen Meinungen zu erkennen. Richtlinie 2.3 wäre dann verletzt, wenn der Haupttext eindeutig tendenziös geschrieben oder Peter Padrutts Kommentar nicht als solcher erkennbar wäre. Da dies nicht zutrifft, sieht der Pres-serat Richtlinie 2.3 nicht verletzt.

3. Drittens moniert die Beschwerdeführerin den Einsatz unlauterer Methoden bei der Informationsbeschaffung. Konkret geht es um die Pflichten, die die Journalistin rund um ein Interview wahrzunehmen hat. Richtlinie 4.5 besagt, das Interview basiere auf dem Einverständnis zweier Personen. Die Beschwerdeführerin macht geltend, die Journalistin habe sie an ihrem Wohnort überrascht und sich nicht eindeutig in ihrer Funktion zu erkennen gegeben. Dem widerspricht die Redaktion. B. habe Gabriela Battaglia erst in ihre Wohnung gelassen, nachdem sich Battaglia als «Blick»-Journalistin vorgestellt und ihre Absichten geäussert hatte. Zudem habe Battaglia gleich anfangs ihre «Blick»-Visitenkarte übergeben. Die Zitate habe sie zudem wie üblich autorisieren lassen.

Die beiden Parteien schildern den Ablauf des Besuchs der Journalistin bei der Beschwerdeführerin unterschiedlich. Es steht Aussage gegen Aussage. Für den Presserat lässt sich nicht eruieren, wie der Besuch von Gabriela Battaglia bei der Beschwerdeführerin genau abgelaufen ist. Er hält jedoch fest, dass es zulässig ist, eine Klägerin während eines laufenden Verfahrens zu kontaktieren, ohne deren Anwälte benachrichtigen zu müssen. Eine Verletzung von Richtlinie 4.5 liegt nicht vor.

4. Schliesslich ist die Beschwerdeführerin der Ansicht, die «Blick»-Journalistin habe auf ihre Notsituation nicht ausreichend Rücksicht genommen und damit Richtlinie 7.8 zur «Erklärung» verletzt. Richtlinie 7.8 verlangt von Journalisten besondere Zurückhaltung gegenüber Personen, die sich in einer Notlage befinden. Die Anwälte der Beschwerdeführerin sehen im Artikel eine Herabsetzung einer Frau, die sich in einer schwierigen Lage befindet. Die Redaktion argumentiert, die Beschwerdeführerin sei zum Zeitpunkt des Gesprächs vollkommen urteilsfähig gewesen, eine Notlage liege nicht vor.

Richtlinie 7.8 bezieht sich auf akute Notlagen, in denen Menschen unter Schock stehen oder sich anderweitig in einer physischen oder psychischen Extremsituation befinden. Die Krankheit ihrer Kinder, die schon mehrere Jahre bekannt ist, kann aus Sicht des Presserats nicht als Notsituation angeführt werden. Was die Journalistin interessierte, war ein Gerichtsprozess. Darüber hat die Beschwerdeführerin freiwillig Auskunft gegeben. Richtlinie 7.8 (Notsituationen, Krankheit, Krieg und Konflikte) wurde nicht verletzt.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. «Blick Online» und «Blick am Abend» haben mit den Artikeln «Sie will eine Million für ihre kranke Tochter» respektive «Hätte ich es gewusst, hätte ich abgetrieben» vom 12. Oktober 2018 die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht), 2 (Trennung zwischen Bericht und Kommentar), 4 (Verwenden unlauterer Methoden) und 7 (Notsituation) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.