Nr. 7/2023
Wahrheit / Unterschlagung von Informationselementen / Anhörung

(ORS c. «Unter-Emmentaler»)

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I. Sachverhalt

A. Am 19. Juli 2022 veröffentlichte der «Unter-Emmentaler» einen Artikel gezeichnet von Marianne Ruch mit dem Titel «Wir wollen zurück, aber wir können nicht». Der Text beschreibt den Alltag von ukrainischen Geflüchteten in Melchnau. Die Journalistin hat im Vorfeld mit rund zehn Ukrainerinnen und einem Ukrainer gesprochen, ausserdem mit einem Ehepaar, welches die Freiwilligenarbeit in der Gemeinde koordinieren hilft, sowie mit der Gemeinderätin, die für «das Soziale» zuständig ist. Im allergrössten Teil des Textes geht es um den Zustand in der Ukraine, um die Familien der Geflüchteten sowie um ihren Alltag in der Schweiz. Der allerletzte Abschnitt thematisiert ihre Unterkunft, das Gjuch. Dort fühlten sich die Geflüchteten gut aufgenommen und glücklich. Der Koordinator wird allerdings zitiert, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer von der zuständigen Betreuungsorganisation ORS momentan im Stich gelassen würden: «E-Mails werden nicht beantwortet, sie bekommen keine Antworten auf ihre Fragen.»

B. Am 4. August 2022 und mit einer angepassten Eingabe am 2. September 2022 reichte Lutz Hahn im Namen der ORS AG Beschwerde gegen den Artikel im «Unter-Emmentaler» beim Schweizer Presserat ein. Er macht einen Verstoss gegen die Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung») geltend. Der Artikel habe zudem die Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) sowie Punkt 3.0.2 (keine Unterschlagung von Informationselementen) verletzt.

Den Verstoss gegen die Wahrheitspflicht begründet die Beschwerdeführerin (BF) damit, dass der «Unter-Emmentaler» die Behauptung des Koordinators ohne Prüfung auf den Wahrheitsgehalt übernommen habe. Es entspreche in keiner Weise der Wahrheit, dass die Geflüchteten von der ORS im Stich gelassen würden. Es handle sich dabei um eine wahrheitswidrige Verkürzung, die nicht alle verfügbaren Angaben berücksichtige. Da es sich bei obiger Aussage um eine «heftige Kritik» handle, müsse diese begründet werden. Laut der BF rechtfertige der Verweis auf unbeantwortete Mails und das Nicht-Beantworten von Fragen die Aussage nicht, dass die Geflüchteten im Stich gelassen würden. Die ORS erfülle sämtliche Vorgaben des Kantons Bern: Aufnahme, Lebensmittel, Unterbringung, Betreuung und vieles mehr. Bei der Aussage des Koordinators handle es sich zweifellos um einen schweren, gar einen sehr schweren Vorwurf. Der «Unter-Emmentaler» hätte die ORS AG mit den Vorwürfen konfrontieren müssen. Dies sei aber nicht passiert.

C. Am 9. November 2022 nahm der «Unter-Emmentaler» zur Beschwerde Stellung und beantragte deren Ablehnung. Ein Angebot zur Einigung ohne Einbezug des Presserates mit der ORS sei von dieser zuvor abgelehnt worden. Laut «Unter-Emmentaler» lag der Fokus des Artikels auf der aktuellen Situation der Geflüchteten in Melchnau und deren teilweisen Rückkehr in die Ukraine. Die ORS sei von der Journalistin selbst nicht thematisiert worden, von den Geflüchteten und ihren Betreuenden hingegen sehr wohl. Der «Unter-Emmentaler» habe aber die deutlich weiter gehende Kritik an der Firma gar nicht erwähnt, obwohl sowohl die Ukrainerinnen und Ukrainer als auch deren Betreuende dies wollten. Das einzige im Text aufgeführte Zitat habe die Zeitung als unverfänglich eingestuft, da es auf belegten Erfahrungsberichten von Betreuenden und Geflüchteten beruhe. Es sei zudem schwierig, mit der ORS in Kontakt zu treten: Wiederholt würden Anrufe auf offizielle Nummern sowie auf Direktwahlnummern nicht entgegengenommen, Nachrichten auf der Combox sowie E-Mails nicht beantwortet. Das mache es auch ausserordentlich schwierig, von der ORS eine Stellungnahme einzuholen.

D. Am 3. Februar 2023 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde gemäss Artikel 13 Abs. 1 seines Geschäftsreglements vom Präsidium behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Jan Grüebler, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin.

E. Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 15. Februar 2023 verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Die Ziffer 1 der «Erklärung» und die zugehörige Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) verpflichten Journalistinnen und Journalisten, nach der Wahrheit zu suchen und sich an diese zu halten. Die Beschwerdeführerin macht geltend, das Zitat «Aber von ORS, der zuständigen Betreuungsorganisation, werden sie im Moment im Stich gelassen» sei ein Verstoss gegen die Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung». Die Journalistin habe diese Aussage ohne Prüfung übernommen. Eine wahrheitswidrige Verkürzung, wie sie von der BF geltend gemacht wird, führt diese allerdings weder aus noch bringt sie einen Nachweis, was am Zitat falsch sei. Die Redaktion des «Unter-Emmentaler» hingegen gibt an, für die Richtigkeit dieses Zitates gebe es mehrere Quellen, nämlich die belegten Erfahrungsberichte der Betreuerinnen und Betreuer sowie diejenigen der Geflüchteten. Es gibt für den Schweizer Presserat keinen Grund, am Wahrheitsgehalt der Aussage zu zweifeln.

2. Den Vorwurf von ORS, Punkt 3.0.2 (keine Unterschlagung von Informationselementen) sei verletzt, prüft der Presserat unter Ziffer 3 der «Erklärung». Die BF rügt, ihre Organisation erfülle sämtliche Vorgaben des Kantons Bern, namentlich «Aufnahme, Lebensmittel, Unterbringung, Betreuung und vieles mehr».

Der Artikel stellt dies nicht in Frage, die Journalistin zitiert einen freiwilligen Betreuer, welcher der ORS einen anderen, spezifischen Vorwurf macht: «E-Mails werden nicht beantwortet, sie bekommen keine Antwort auf ihre Fragen.» Aus dem Text wird klar, dass sich das «im Stich lassen» auf diesen Zusammenhang bezieht. Die BF macht in ihrer Beschwerde geltend, diese Kritik sei nicht begründet, macht aber selber keine Angaben zum Wahrheitsgehalt der Aussage. Im Ergebnis ist somit ein Unterschlagen von Informationen für den Presserat nicht erkennbar.

3. Für die BF habe der Artikel weiter die Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) verletzt. Nach der Praxis des Presserats ist von einem schweren Vorwurf auszugehen, wenn jemandem ein illegales oder damit vergleichbares Verhalten vorgeworfen wird. Dies ist hier nicht der Fall, Richtlinie 3.8 ist somit nicht verletzt.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. Der «Unter-Emmentaler» hat mit dem Beitrag «Wir wollen zurück, aber wir können nicht» vom 19. Juli 2022 die Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (Unterschlagen wichtiger Informationen / Anhörung bei schweren Vorwürfen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.