Nr. 6/2021
Unterschlagen wichtiger Informationen

(Sicherheitskommission des Grossen Rates Kanton Bern c. «Der Bund» und «Berner Zeitung»)

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I. Sachverhalt

A. Am 17. Juni 2020 berichtete «Der Bund» in einem Artikel, gezeichnet von Andres Marti, über den Vorwurf von Demonstrierenden an die Berner Polizei, sie diskriminiere Schwarze. Personen würden ausschliesslich aufgrund ihrer Hautfarbe angehalten, «Racial Profiling» sei im Kanton eine Realität. Es wird weiter erklärt, dass dieses Thema seit längerem im Stadtparlament diskutiert werde, so werde gefordert, dass die Polizei bei Personenkontrollen «Quittungen» ausstelle, welche Angehaltene vorzeigen könnten, wenn sie wiederholt angehalten würden. In diesem Zusammenhang wird im Artikel der Polizeidirektor des Kantons, Regierungsrat Philippe Müller, zitiert, der sich dagegen wehrt, dass die Polizei mit solchen Zusatzaufgaben belastet werde. Zum grundsätzlichen Problem fasst «Der Bund» die Position des Polizeidirektors folgendermassen zusammen: «Für Müller ist hingegen klar: ‹Die Kantonspolizei Bern betreibt kein Racial Profiling›. Wenn ein dunkelhäutiger Mann im Perimeter der Reitschule kontrolliert werde, dann tue die Polizei das auf einen konkreten Verdacht hin. «Der illegale Drogenhandel dort ist nun mal in der Hand von Farbigen aus Afrika. Als dunkelhäutiger Mann muss man bei der Reitschule deshalb damit rechnen, allenfalls von der Polizei kontrolliert zu werden.» Im Folgenden geht der «Bund» noch auf mögliche Massnahmen in diesem Zusammenhang eingegangen.

Am folgenden 18. Juni 2020 brachte «Der Bund» eine kurze Notiz unter der Überschrift «Juso fordern Rücktritt von Polizeidirektor» mit folgendem Inhalt: «Nach den Aussagen von Philippe Müller (FDP) zum Thema Racial Profiling fordern die Juso dessen Rücktritt. Müller hatte sich im ‹Bund› gegen den Vorwurf gewehrt, die Polizei praktiziere ‹Racial Profiling›. Der Drogenhandel bei der Reitschule sei ‹nun mal in der Hand von Farbigen›, als Dunkelhäutiger müsse man ‹damit rechnen›, kontrolliert zu werden. Die Juso wertet dies als ‹rassistisch› und fordert Müllers ‹sofortigen Rücktritt›. (awb)»

Wiederum am nächsten Tag, dem 19. Juni 2020, erschien in der «Berner Zeitung» ein langes Interview mit Marianne Schild, Kandidatin der GLP für die Stadtregierung, unter dem Titel «Ich erwarte von Regierungsrat Müller, dass er seine Aussage zurücknimmt». Die Politikerin wird als «persönlich Betroffene» vorgestellt (ihre Mutter stammt aus dem Kongo) und unter anderem gefragt «Der kantonale Sicherheitsdirektor Philippe Müller sagte im ‹Bund›, die Kapo betreibe kein Racial Profiling – um dann festzuhalten, dass ein Dunkelhäutiger auf der Schützenmatte damit rechnen müsse, wegen Drogenhandels kontrolliert zu werden. Verstehen Sie die Empörung, die er in gewissen Kreisen ausgelöst hat?». Marianne Schild antwortet mit detaillierter Kritik an der Haltung des Magistraten, ohne die Forderung nach dessen Rücktritt zu unterstützen.

B. Am 10. August 2020 reichte die Sicherheitskommission des Berner Grossen Rates Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Die Beschwerdeführerin (BF) macht geltend, die Notiz im «Bund» vom 18. Juni 2020 und die Fragestellung in der «Berner Zeitung» vom 19. Juni verletzten die Ziffer 3 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»), indem sie wichtige Elemente einer Information unterschlagen hätten.

Konkret wird der Mailverkehr zwischen der Polizeidirektion und dem Verfasser des ersten «Bund»-Artikels ediert, aus welchem nicht nur hervorgehe, dass Polizeidirektor Müller «Racial Profiling» bestritten und darauf hingewiesen habe, dass der Drogenhandel in den Händen von Schwarzafrikanern sei und Schwarze deswegen damit rechnen müssten, im Bereich der «Reitschule» kontrolliert zu werden. Vielmehr habe er auch gesagt, dass nur auf konkreten Verdacht hin kontrolliert werde («z.B. bestimmte Farbe des T-Shirts») und dass ein Motiv für das Vorgehen der Polizei darin bestehe, dass in jenem Gebiet auch 14-jährige Kinder sich aufhielten, die dort mit Drogen «angefüttert» würden. Diese müsse man beschützen.

Durch das Weglassen insbesondere des Hinweises, dass jemand nur bei konkretem Tatverdacht angehalten werde, sei in der Notiz vom 18. und im Interview der «Berner Zeitung» vom 19. Juni ein falsches Bild der Haltung des Polizeidirektors vermittelt worden, mit den entsprechenden heftigen Diskussionen in der Öffentlichkeit als Folge. Die BF erwarte von den Medien, Aussagen in einem so heiklen, emotionsgeladenen Bereich präzise wiederzugeben. Der Eindruck, der in der Verkürzung entstanden sei, wonach die Polizei lediglich aufgrund der Hautfarbe oder des Geschlechts kontrolliere, sei falsch, es brauche einen konkreten Verdacht.

C. Mit Beschwerdeantwort vom 28. September 2020 beantragte die Rechtsabteilung der TX Group, welcher die beiden Zeitungen gehören (Beschwerdegegnerin, BG), auf die Beschwerde sei nicht einzutreten, allenfalls sei sie abzuweisen.

Den Antrag auf Nichteintreten begründet sie damit, dass der Polizeidirektor am 20. Juni 2020 in einem Interview im «Bund» ausführlich Gelegenheit erhalten habe, seine Position in dieser Angelegenheit darzulegen. Auch wenn dies nicht eine Korrekturmassnahme im eigentlichen Sinn gewesen sei, erfülle dieser Sachverhalt dennoch die Anforderung von Art. 11 Abs. 1 des Geschäftsreglements, welcher aufführt, wann auf Beschwerden nicht einzutreten sei.

Falls doch eingetreten werden sollte, macht die BG materiell geltend, dass der erste Artikel im «Bund» die Position des Polizeidirektors ausführlich und korrekt zusammengefasst habe. Die BF habe denn auch an diesem Text nichts auszusetzen. Das Problem bei der ausführlich und richtig dargestellten Position des Polizeidirektors sei, dass sie in sich inhaltlich widersprüchlich sei. Im ersten Teil der entscheidenden Passage in der ihm unterbreiteten und von ihm autorisierten Antwort bestreite er «Racial Profiling» und stelle klar, dass ein konkreter Verdacht vorliegen müsse, im zweiten aber sage er, dass – generell – ein dunkelhäutiger Mann im Perimeter der Reitschule damit rechnen müsse, kontrolliert zu werden. Dass diese in sich widersprüchliche Aussage in der kontroversen Thematik für Gesprächsstoff und Empörung gesorgt habe, sei nicht der BG zuzuschreiben.

Die Beschwerdegegnerin bestreitet in diesem Sinne, dass die Ziffer 3 der «Erklärung» (Unterschlagen von wichtigen Elementen einer Information) verletzt worden sei. Zunächst sei Müllers Position im ersten Artikel unbestrittenermassen vollständig wiedergegeben worden. In der kurzen Notiz, am Folgetag, also sehr kurz danach, sei auch wieder ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass Müller «Racial Profiling» bestreite. Nur sei es dort, auf sehr engem Platz, vor allem um die Reaktion der Jusos und um deren Forderung nach einem Rücktritt Müllers gegangen. Da die Jusos ihre Rücktrittsforderung und den damit verbundenen Vorwurf «rassistisch» auf den Passus gestützt hätten, wonach Dunkelhäutige mit Kontrollen in diesem Gebiet rechnen müssten, habe dieser logischerweise angeführt werden müssen. Für mehr sei gar kein Platz gewesen. Auf der Online-Seite, wo mehr Platz zur Verfügung stehe, werde Müllers Position denn auch ausführlicher wiedergegeben, insbesondere werde dort der «konkrete Tatverdacht», der gegeben sein müsse, angesprochen.

Was den Artikel in der «Berner Zeitung» vom 19. Juni 2020 betreffe, so gelte auch dort, dass der grundlegende Widerspruch in der Position des Polizeidirektors das Problem sei. Seine Position werde in der Frage des Interviewers klar und explizit wiedergegeben. Klar sei aber auch, dass bei einem derartigen Interview nicht sämtliche Aussagen des Regierungsrats in extenso wiedergegeben werden können oder sollen. Man beschränke sich auf die wesentlichen, das sei hier der Fall gewesen. Es sei medienethisch vertretbar, in der Fragestellung eines Interviews die zitierten Aussagen verkürzt wiederzugeben, dabei sei Müller in keiner Weise je unterstellt worden, «Racial Profiling» zu betreiben. Man habe lediglich einen Widerspruch aufgegriffen.

Zusammenfassend seien die gegengelesenen und bewilligten Zitate korrekt wiedergegeben worden und Müller habe sich am 20. Juni 2020 auch noch einmal ausführlich zum ganzen Thema äussern können. Davon, dass der Leserschaft wichtige Elemente von Informationen unterschlagen worden seien, könne entsprechend insgesamt keine Rede sein.

D. Am 21. August 2020 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg sowie den Vizepräsidenten Casper Selg und Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 3. März 2021 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Der Presserat tritt auf die Beschwerde ein. Die BG irrt, wenn sie einwendet, die Position des BF sei mit dem Artikel vom 17. Juni 2020 vor und dem Interview vom 20. Juni 2020 nach den beiden beanstandeten Artikeln ausführlicher dargestellt worden, das führe – in Analogie zur Korrekturmassnahme des Art. 11 des Geschäftsreglements – zu einer Heilung eines allfälligen (aber bestrittenen) Mangels. Art. 11 spricht ausdrücklich von einem Nichteintreten, wenn in einer «Angelegenheit von geringer Relevanz» bereits Korrekturmassnahmen ergriffen worden seien. Was die Beschwerdeführerin kritisiert, ist aber ein gravierender Mangel, nämlich dass eine zentrale Information unterschlagen worden sei und damit ein gänzlich falscher Eindruck entstand. Um zu prüfen, ob dem so ist, muss entsprechend auf den Fall eingetreten werden.

2. Der BG ist aber recht zu geben, wenn sie festhält, dass die mit dem Mailverkehr belegte Positionierung von Regierungsrat Müller im ersten der drei Artikel korrekt und sehr weitgehend wiedergegeben wurde. Insbesondere ist die zweite Hälfte der Aussage zum «Racial Profiling», dass nämlich Personen nur auf konkreten Verdacht hin kontrolliert würden, in indirekter Rede vollständig enthalten. Das wird denn auch von der BF nicht in Frage gestellt.

3. Der zweite Text (der erste beanstandete) ist eigentlich kein Artikel, sondern eine kurze Notiz. «Der Bund» gibt kurz zur Kenntnis, dass es eine Reaktion auf den Artikel vom Tag zuvor gegeben hat: Die Jusos halten Müllers Aussage für untragbar und verlangen seinen sofortigen Rücktritt. In dieser kurzen Notiz wird nicht die ganze Aussage des Regierungsrates wiedergegeben, sondern nur diejenige, wonach Schwarze damit rechnen müssen, auf dem Gebiet der Reitschule kontrolliert zu werden. Es wird aber ausdrücklich gesagt, dass Müller sich gegen den Vorwurf des «Racial Profiling» wehre. Diese Zusammenfassung ist sicher nicht vollständig. Zusammenfassungen sind aber häufig nötig und auch erlaubt, sie können per se nicht vollständig sein, sie dürfen aber nicht falsch sein.

Dass die Redaktion den Satz zitiert, dessetwegen die Jusos überhaupt Müllers Rücktritt fordern, ist nachvollziehbar und kein Problem. Insbesondere weil ja bei aller Kürze noch hinzugefügt wurde, dass der Polizeidirektor den Sachverhalt des Racial Profiling, also der Kontrolle ausschliesslich nach Hautfarbe, bestreite. Dass weggelassen wurde, dass man nur auf konkreten Tatverdacht hin kontrolliere, ändert daran nichts: Das inhaltlich Entscheidende an seiner Aussage ist, dass Menschen, wenn sie schwarz sind und eine bestimmte Farbe T-Shirt tragen, allein deswegen angehalten werden können. Die Zusammenfassung ist inhaltlich nicht falsch, sie trifft den wesentlichen Punkt bei aller gebotenen Kürze.

Der BG ist darin recht zu geben, dass das inhaltliche Problem wohl bei einem anscheinenden Widerspruch, respektive bei einer Ungenauigkeit in der Antwort des Polizeidirektors liegt: Wenn Männer angehalten werden, allein weil sie schwarz sind und eine bestimmte Farbe T-Shirt tragen, dann belegt dies nach allgemeinem Verständnis nicht einen konkreten Tatverdacht des Drogenhandels, sondern es entspricht eher dem allgemeinen Verständnis der Kontrolle primär aufgrund der Hautfarbe, also von «Racial Profiling». Wenn er seiner Aussage deshalb voranstellt, es werde kein «Racial Profiling» betrieben, es werde nur bei Tatverdacht kontrolliert, dann entsteht, mindestens dem Anschein nach, ein Widerspruch. Hätte man also – wie von der BF verlangt – den Satz, dass nur auf konkreten Tatverdacht hin kontrolliert werde, in der Notiz doch noch hinzugefügt, wäre im Resultat nichts klarer geworden. Der Presserat sieht jedenfalls in der fraglichen Notiz keine Unterschlagung eines wichtigen Elements einer Information, also keine Verletzung von Ziffer 3 der «Erklärung».

4. Ähnlich liegt es beim Interview der «Berner Zeitung» vom 19. Juni 2020. Der Interviewer Christoph Hämmann stellt zum fraglichen Thema auch die offenbare Widersprüchlichkeit von Müllers Aussage zur Diskussion, auch er weist darauf hin, dass dieser einerseits sage, die Kapo betreibe kein «Racial Profiling», um nachher andererseits darauf hinzuweisen, dass Dunkelhäutige mit bestimmter T-Shirt-Farbe auf der Schützenmatte damit rechnen müssten, kontrolliert zu werden. Die entsprechende Frage ist aufgrund der Aussage des Polizeidirektors journalistisch berechtigt. Im Folgenden bleibt der Interviewer beim Thema und stellt den Antworten von Marianne Schild zwei Fragen entgegen, welche bewusst die Position der Polizei ins Spiel bringen. Auch hier wurde nichts weggelassen, was einen anderen Eindruck von der Problematik hätte vermitteln können oder müssen, die Ziffer 3 der «Erklärung» ist auch in diesem Fall nicht verletzt.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. «Der Bund» hat mit der Notiz «Juso fordern Rücktritt von Polizeidirektor» vom 18. Juni 2020 die Ziffer 3 (Unterschlagen wichtiger Informationen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» ebenso wenig verletzt wie die «Berner Zeitung» mit dem Interview vom 19. Juni 2020 unter dem Titel «Ich erwarte von Regierungsrat Müller, dass er seine Aussage zurücknimmt».