Nr. 4/2022
Privatsphäre / Identifizierung / Unschuldsvermutung

(X. c. «20Minuten.ch» und «Blick.ch»)

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I. Sachverhalt

A. a) Am 12. Juli 2021 veröffentlichte «Blick.ch» einen Artikel gezeichnet von Andrea Cattani, Marco Latzer, Ralph Donghi und Nicolas Lurati mit dem Titel «Leiche in Wohnung gefunden» und dem Untertitel: «Lehrer Julian P. (33) soll eine Frau (†29) getötet haben». Im Text wird gefragt: «Hat Julian P. das Leben einer Frau auf dem Gewissen?» Die Polizei habe in dessen Wohnung die Leiche einer 29-jährigen Frau gefunden, einer Tessinerin honduranischer Herkunft. Diese habe mehrere Verletzungen aufgewiesen, die vermutlich von einem Messer stammten. Der 33-jährige Lehrer sei in einem Nachbarkanton verhaftet worden, er sei in Emmenbrücke wohnhaft. Es gelte die Unschuldsvermutung. Nachbarn hätten gegenüber «Blick» den Polizeieinsatz geschildert (die Polizei habe Spuren gesichert und Menschen befragt). Von der Tat selber wolle niemand etwas mitbekommen haben.

b) Am gleichen 12. Juli berichteten Daniela Gigor und Cheyenne Wyss in «20Minuten.ch» über den gleichen Vorfall unter dem Titel «Femizid in Emmenbrücke: Sportlehrer (33) wird verdächtigt, 29-Jährige umgebracht zu haben». Untertitel: «In Emmenbrücke fand die Polizei die Leiche einer 29-jährigen Frau. Ein 33-Jähriger wird verdächtigt, die Frau mit einem Messer umgebracht zu haben.» Im Text wird erläutert, dass der «mutmassliche Täter» festgenommen worden sei. Für ihn gelte die Unschuldsvermutung. Recherchen von «20 Minuten» hätten ergeben, dass es sich bei ihm um einen Sportlehrer handle. Die Getötete sei eine Frau mit honduranischen Wurzeln, die im Tessin gewohnt habe. Ein SUV mit Tessiner Nummer sei in der Nähe des Tatortes laut Informationen eines «News-Scouts» mit einer Wegfahrsperre gesichert worden. Das bestätige die Polizei. Laut dem Polizeisprecher seien auch Spezialisten aus Zürich bei der Tatortanalyse beigezogen worden. Zu Tathergang und Motiv sei bisher noch nichts bekannt. Illustriert war der Artikel mit zwei Bildern, aufgenommen von besagtem «News-Scout»: vier zivile VW-Busse, offenbar Polizeifahrzeuge, auf einem Rasen stehend, sowie drei leere Parkplätze und ein leeres Strässchen, die mit rot-weissem Band abgesperrt sind, schliesslich eine Karte der Innerschweiz, die zeigt, wo Emmenbrücke liegt. In einer ersten Ausgabe verwies ein Link auf der Front auf den Artikel, dieser Link war mit einem verpixelten Bild des mutmasslichen Täters versehen. Das Bild wurde später wieder gelöscht.

Ein zweiter Artikel von «20Minuten.ch» zum gleichen Thema am darauffolgenden Tag, gezeichnet von Daniela Gigor und Michelle Muff, trug den Titel «Sportlehrer sitzt in Untersuchungshaft und Schule zeigt sich bestürzt». Untertitel: «Das Umfeld des 33-Jährigen, der in Verdacht steht, eine 29-Jährige in Emmenbrücke mit einem Messer umgebracht zu haben, schweigt. Der Arbeitgeber ist bestürzt.» Dort wird im Wesentlichen wiederholt, was am Vortag berichtet worden war. Zusätzlich wird berichtet, in welcher Schule der vermutete Täter gearbeitet hat und dass Untersuchungshaft gegen ihn verfügt worden sei. Diese Schule zeige sich bestürzt, sie habe die Eltern der Schüler informiert, dass der Lehrer in ein laufendes Verfahren verwickelt sei und dabei darauf hingewiesen, dass die Unschuldsvermutung gelte. Die Familie des mutmasslichen Täters wolle sich nicht äussern. Weiter wird erwähnt, der mutmassliche Täter sei auch Trainer von Junioren, der Klub wird explizit genannt. Illustriert ist der Artikel mit der gleichen Bildfolge wie am Vortag, zusätzlich ist ein Schulgebäude zu sehen und das Wohnhaus des mutmasslichen Täters in Emmenbrücke.

B. Am 14. Juli 2021 reichte X. beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen die drei Artikel ein. Er macht Verstösse gegen die zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung») gehörenden Richtlinien 7.1 (Schutz der Privatsphäre), 7.2 (Identifizierung) und 7.4 (Unschuldsvermutung) geltend. Zur Begründung führt der Beschwerdeführer (BF) aus, insbesondere die Berichte von «20 Minuten» hätten den mutmasslichen Täter so beschrieben, dass er eindeutig erkannt werden könne und zwar über das engere Umfeld hinaus. Dies sei erfolgt, obwohl für ihn immer noch die Unschuldsvermutung gelte. Es seien seine Initialen verwendet worden, sein Wohnort, seine genaue Berufsbezeichnung (Sportlehrer), sein Alter und besonders stossend sei, dass Material von seinem Whatsapp- oder Facebookprofil verwendet worden sei. Das habe dazu geführt, dass Schüler, Schülerinnen ihre Lehrpersonen mit Fragen zu diesem Sachverhalt «überhäuft» hätten, was wiederum zu der im letzten Artikel erwähnten Stellungnahme der Schule geführt habe. Stossend sei angesichts der Unschuldsvermutung auch die genaue Berufsbezeichnung und die Veröffentlichung aller Arbeitsstellen, die der mutmassliche Täter innehabe.

C. a) Am 22. Oktober 2021 nahm «Blick.ch» über seinen Anwalt zur Beschwerde Stellung. «Blick.ch» beantragt Nichteintreten zufolge fehlender Begründung, alternativ Abweisung der Beschwerde. Er weist zunächst darauf hin, dass der Artikel von «Blick.ch» in der Beschwerdebegründung überhaupt nicht angesprochen werde. Weiter macht die Redaktion geltend, mit dem Namen Julian P., dem Beruf (Lehrer), dem Alter, 33, und dem Wohnort (Emmenbrücke) habe «Blick.ch» nichts bekanntgegeben, was den Beschuldigten über einen engen Personenkreis hinaus hätte identifizierbar werden lassen. Insbesondere seien keine besonderen Merkmale genannt worden wie etwa eine genauere Berufsbezeichnung (also etwa welches Fach der Lehrer unterrichte), die Beziehung zum Opfer, allfällige Hobbies, frühere Wohnorte oder Geschehnisse. Zwar habe man ein Bild des Beschuldigten veröffentlicht, aber dieses sei mit einem grossen Rechteck abgedeckt gewesen. Und auf die Unschuldsvermutung habe «Blick» ausdrücklich hingewiesen.

b) Am 28. Oktober 2021 nahm der Rechtsdienst der TX Group namens der Redaktion «20 Minuten» Stellung und beantragte ebenfalls Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Die Redaktion weist allgemein darauf hin, dass der mutmassliche Täter durch die beiden Artikel von «20 Minuten» nicht identifizierbar sei und dass auch der Unschuldsvermutung Rechnung getragen worden sei. Die behauptete Verletzung von Richtlinie 7.1 (Verletzung der Privatsphäre insbesondere durch Veröffentlichung von Bildmaterial aus dem Privatbereich) habe nicht stattgefunden, alle Bilder seien von öffentlichem Grund aus aufgenommen worden. Auch Richtlinie 7.2 sei nicht verletzt. Zwar habe man ein Bild des Beschuldigten veröffentlicht, dieses aber so stark verpixelt, dass der Verdächtigte unkenntlich geblieben sei. Zudem sei das Bild auf Wunsch einer ihm nahestehenden Person wieder entfernt worden. Die behauptete Nennung der Initialen treffe nicht zu, diese seien in keinem der beiden Artikel erwähnt worden, Wohnort und Alter zu nennen sei hingegen auch nach der Praxis des Presserats zulässig. Was die Bezeichnung des Berufes angehe, so treffe es zu, dass «Sport»-Lehrer den Kreis möglicher Betroffener kleiner mache als das allgemeinere «Lehrer». Weitere Angaben seien im ersten Artikel aber nicht gemacht worden, womit eine Identifizierbarkeit weiterhin nicht gegeben gewesen sei. Im zweiten Artikel sei zusätzlich der Arbeitsort genannt worden. Dies aber erst nachdem die Schule sich entschlossen habe, die Eltern zu informieren. Richtlinie 7.2 schütze die Privatsphäre lediglich «gegenüber Dritten, die ausschliesslich durch die Medien informiert werden». Davon seien die Schüler und deren Angehörige durch die Publikation seitens der Schule ausgeschlossen worden. Und die Unschuldsvermutung (Richtlinie 7.4) sei nicht verletzt, auf diese sei in beiden Artikeln hingewiesen worden, auch habe man ausdrücklich nur von einem «Verdächtigen» und «mutmasslichen Täter» geschrieben.

D. Am 21. Dezember 2021 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Präsidium des Presserats behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Max Trossmann, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin.

E. Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 4. resp. 21. März 2022 verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Der Presserat tritt auf die Beschwerde ein, aus deren Begründung geht genügend hervor, welche Bestimmungen der Beschwerdeführer als verletzt erachtet.

2. Hinsichtlich des Artikels auf «Blick.ch» ist davon auszugehen, dass die Nennung des ganzen Vornamens und des Anfangsbuchstabens des Familiennamens zu weit gegangen wäre, weil diese beiden Elemente in Zusammenhang mit anderen Elementen wie dem Wohnort und dem Beruf leicht zu Identifizierungen über den von Richtlinie 7.2 eingeräumten Rahmen hinaus hätten führen können. Die Chefredaktion des «Blick» orientierte den Presserat aber nachträglich (Brief vom 17. März 2022), dass es sich bei dem Vornamen mit Initial um einen Fantasienamen gehandelt habe. Womit die Berichterstattung korrekt gewesen wäre. Allerdings ist nicht in allen Texten kenntlich gemacht worden, dass Vorname und Initial nicht dem richtigen Namen entsprechen, was unbedingt hätte gemacht werden sollen. Eine Verletzung der «Erklärung» sieht der Presserat in diesem Punkt aber nicht.

Der Beschwerdeführer spricht ein zweites Thema an: die Herkunft des Bildes des Täters. In seinem Entscheid 52/2021 hat sich der Presserat dazu geäussert, dass etwa Facebook-Inhalte zwar teilweise öffentlich zugänglich sind, dass sie aber nicht zwangsläufig «medienöffentlich» sind und Massenmedien sie damit auch nicht jederzeit verwenden können. Der Presserat hat in dieser Hinsicht unter anderem einen deutlichen Unterschied gemacht zwischen Beiträgen, die auf Twitter in eine sehr weite Öffentlichkeit gestellt werden und solchen auf Plattformen wie Facebook, die – je nachdem – für einen wesentlich beschränkteren Kreis gedacht sind. Die Publikation des vorliegenden Bildes des Verdächtigen könnte unter diesem Titel eine Verletzung von Richtlinie 7.2 darstellen. Der Presserat verzichtet aber auch hier auf eine Rüge, weil das Gesicht zum einen auf «Blick.ch» vollkommen abgedeckt wurde und weil zweitens nicht hinreichend klar ist, auf welcher Plattform das Bild ursprünglich für welchen Benutzerkreis sichtbar wurde.

Dass die Unschuldsvermutung (Richtlinie 7.4) gilt, hat «Blick.ch» im Artikel hinreichend deutlich gemacht.

Zusammenfassend: Die Berichterstattung von «Blick.ch» hat nicht gegen die Richtlinien 7.1 (Schutz der Privatsphäre), 7.2 (Identifizierung) oder 7.4 (Unschuldsvermutung) verstossen.

3. Hingegen verstösst die Berichterstattung von «20Minuten.ch» nach Auffassung des Presserates gegen die Richtlinie 7.2 (Identifizierung). Mag der erste Artikel vom 12. Juli 2021 mit seinen beschreibenden Elementen hinsichtlich des Verdächtigen (33-jährig, Schweizer, Sportlehrer, Emmenbrücke) noch knapp genügend anonymisiert gewesen sein, so haben die zusätzlichen Informationen im zweiten Artikel vom 13. Juli 2021 eine zu weitgehende Identifizierung enthalten. Mit der Nennung des Arbeitgebers, der Schule, an welcher der Sportlehrer unterrichtet, und mit dem Hinweis darauf, dass der Verdächtige auch Juniorentrainer in einem explizit erwähnten Klub sei, wurde er in Kombination mit den vom Vortag wiederholten Elementen über den von Richtlinie 7.2 beschriebenen Kreis hinaus erkennbar (Richtlinie 7.2: erkennbar über Personen hinaus, «die nicht zu Familie, sozialem oder beruflichem Umfeld des Betroffenen gehören, also ausschliesslich durch die Medien informiert werden»).

Hinsichtlich der Abbildung des Tatverdächtigen gilt das selbe wie oben unter 2. betreffend «Blick.ch» Gesagte: Die Herkunft des Bildes ist nicht genügend klar, deswegen wird dessen Verwendung auch nicht gerügt; der Presserat weist aber darauf hin, dass nicht alles was auf einer «Social Media»-Plattform veröffentlicht wird, von Massenmedien ohne Zustimmung der Betroffenen verbreitet werden darf.

Zusammenfassend: «20Minuten.ch» hat mit der zu detaillierten Beschreibung des Tatverdächtigen im zweiten Artikel vom 13. Juli 2021 gegen die Richtlinie 7.2 (Identifikation) verstossen.

«20 Minuten» hat jedoch die Richtlinien 7.1 (konsumiert durch die Rüge betreffend 7.2) und 7.4 (Unschuldsvermutung) nicht verletzt. Auf die Unschuldsvermutung wurde in beiden Artikeln ausdrücklich hingewiesen, auch mit der übrigen Terminologie wurde vermieden, schon von einem «Täter» zu sprechen.

III. Feststellungen

1. «Blick.ch» hat mit dem Artikel «Lehrer Julian P. (33) soll eine Frau († 29) getötet haben» vom 12. Juli 2021 nicht gegen die Ziffer 7 (Privatsphäre, Identifizierung, Unschuldsvermutung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verstossen.

2. «20Minuten.ch» hat mit dem Artikel «Sportlehrer sitzt in Untersuchungshaft und Schule zeigt sich bestürzt» vom 13. Juli 2021, insbesondere mit der darin zu detailliert beschriebenen Person des Verdächtigen, die Ziffer 7 (Identifizierung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.

3. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde gegen «20 Minuten» abgewiesen.