I. Sachverhalt
A. Unter dem Titel «Roggwil. Schweizer Kreuz weg» berichtete die Berner Zeitung am 19. Oktober 2006 auf der Frontseite, in der Berner Gemeinde Roggwil habe der Schulbetrieb nach den Herbstferien mit einem Eklat begonnen. Aus dem Fronttext: «Die Oberstufenschüler werden aufgefordert, künftig keine Kleider mit Schweizer Kreuzen mehr zu tragen. Denn, so die Begründung der Schulleitung, das Nationalsymbol könne ausländische Mitschüler ‹provozieren› und zu unnötiger Gewalt an der Schule führen. Roggwil ist für Spannungen zwischen Rechtsextremen und Ausländern bekannt. Seit ein Bürger das Verbot an der Gemeindeversammlung zur Diskussion stellte, ist Feuer im Dach.» Im Bericht «Schule verbietet Schweizer Kreuz» auf Seite 23 war weiter zu lesen, der zuständige Gemeinderat und Schulkommissionspräsident wiegle ab: «Ein generelles Verbot für Schweizer Kreuze haben wir nicht erlassen. Aber wir tolerieren keine provozierende Kleidung, und das gilt für alle.» Er stütze sich dabei auf die geltende Schulordnung. «Als ‹provozierende Kleidung›, so der Schulpräsident, würden allerdings auch Uniformen, Kampfanzüge oder, bei Mädchen, ein allzu freizügiges Outfit angesehen.»
B. Gleichentags versandte die Einwohnergemeinde Roggwil eine «Stellungnahme zu Medienberichten», wonach an der Oberstufe Roggwil «angeblich» ein Schweizerkreuz-Verbot erlassen worden sei. In der Mitteilung wurde ausgeführt, an den Roggwiler Schulen bestehe kein solches Verbot und nach bisherigen Erkenntnissen sei auch im Einzelfall von den Lehrpersonen nie ein solches Verbot ausgesprochen worden. Es handle sich offensichtlich um ein Missverständnis, das nach der Behandlung des Themas «Provozierende Kleidung» in zwei Schulklassen entstanden sei.
C. Am 20. Oktober 2007 veröffentlichte die «Berner Zeitung» ein Interview mit dem Roggwiler Schulpräsidenten. Darin bekräftigte dieser, ein generelles Verbot, Kleidungsstücke mit Schweizer Kreuz zu tragen, gebe es an den Roggwiler Schulen nicht. Die geltende Schulordnung erwähne lediglich, dass «provozierende Kleidung» abgelehnt werde. Schweizer Kreuze seien im Einzelfall nicht problematisch. «Wenn eine Gruppe Schüler demonstrativ mit Schweizer-Kreuz-Leibchen herumläuft, dann kann das auf andere unter Umständen provokativ wirken und so das soziale Klima negativ beeinflussen.» Seine Ausführungen an der Gemeindeversammlung seien leider teilweise missverständlich und zu wenig deutlich gewesen, was er sehr bedaure. Ein neben dem Interview abgedruckter Kasten («Kreuz-Verbot. Behörden wiegeln ab») fasst den Standpunkt der Gemeinde Roggwil nochmals zusammen, wonach es sich um ein Missverständnis handle und ein solches Verbot weder allgemein noch im Einzelfall ausgesprochen worden sei. Schliesslich kritisierte Herbert Rentsch in einem Kommentar («Ein Kreuz mit dem Kreuz») die Empfehlung an die Schüler, im Unterricht nicht Kleider mit dem Schweizer Kreuz zu tragen, komme faktisch einem Verbot gleich. Die Verbannung des Schweizer Kreuzes sei jedoch der falsche Weg, mit dem die Verantwortlichen «das Problem nur unter den Teppich kehrten». Anstatt zu «verdrängen und (zu) verharmlosen» sollten die Roggwiler Behörden sich dem Problem der Ausländerfeindlichkeit stellen und gemeinsam nach tragfähigen Lösungen suchen.
D. Am 21. Oktober 2006 druckte die «Berner Zeitung» eine ganze Leserbriefseite zum Thema «Schweizerkreuz-Verbot» ab. In einem Kasten auf der Mitte der Seite hielt Herbert Rentsch noch einmal fest: «Obwohl die Roggwiler Behörden abwiegeln und von einem Missverständnis sprechen (Ausgabe von gestern) bleibt die BZ-Redaktion bei ihrer Darstellung.» Schliesslich veröffentlichte die Zeitung am 24. Oktober 2006 eine zweite Serie von Leserbriefen, mit der sie die Diskussion zum Thema gemäss eigener Deklaration abschloss.
E. Am 24. Januar 2007 gelangte die anwaltlich vertretene Einwohnergemeinde Roggwil mit einer Beschwerde gegen die «Berner Zeitung» an den Presserat. Mit ihren oben zusammengefassten Berichten habe die Zeitung wider besseres Wissen falsche Tatsachenbehauptungen aufgestellt. Redaktor Stefan Aerni sei bei den nach der Gemeindeversammlung vom 16. Oktober 2006 folgenden Telefonaten mit dem Schulleiter und dem Schulkommissionspräsidenten darauf hingewiesen worden, dass das behauptete Schweizer-Kreuz-Verbot nicht erlassen worden sei. Trotzdem habe die «Berner Zeitung» die Existenz eines derartigen Verbots behauptet und die widersprechenden Aussagen der Behörden als unglaubwürdig und als Ausreden dargestellt. Zudem seien direkt und indirekt schwere Vorwürfe (Schweizfeindlichkeit, Verrat am Vaterland) erhoben worden. Die gestalterische Aufmachung der Berichte habe zudem bei der Leserschaft einen falschen Gesamteindruck hinterlassen, der – wie die Leserbriefe zeigten – auch durch einzelne Relativierungen in den Texten nicht beseitigt worden sei. Jedenfalls hätte die Redaktion spätestens nach der Medienkonferenz vom 19. Oktober 2006 eine Berichtigung veröffentlichen müssen. Mit ihrer Berichterstattung habe die «Berner Zeitung» insbesondere die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht) und 5 (Berichtigungspflicht) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» sowie die Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) verletzt.
F. Am 19. Februar 2007 wiesen Michael Hug, Chefredaktor, und Herbert Rentsch, Leiter Redaktion Oberaargau, die Beschwerde als unbegründet zurück. Zwar stimme es, dass der Titel des Berichts vom 24. Januar zugespitzt worden sei («Schule verbietet Schweizer Kreuz»). Hingegen sei im Text nicht von einem Verbot die Rede gewesen. Auch wenn es kein offen ausgesprochenes Verbot gegeben habe, seien die Schüler gemäss den der Redaktion vorliegenden Informationen jedoch angehalten worden, im Unterricht keine Shirts mit dem Schweizer Kreuz zu tragen, was einem Trageverbot gleichkomme. Auch nach den nachträglichen Abklärungen durch die Gemeindebehörden sei dazu eine Meinung gegen die andere gestanden, weshalb die Veröffentlichung einer Berichtigung nicht angebracht gewesen sei. Ebenso seien die Stellungnahmen der Betroffenen weder zu knapp noch unfair wiedergegeben worden.
G. Gemäss Art. 10 Abs. 7 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserates kann das Präsidium zu Beschwerden, die in ihren Grundzügen mit vom Presserat bereits früher behandelten Fällen übereinstimmen oder von untergeordneter Bedeutung erscheinen, abschliessend Stellung nehmen.
H. Das Presseratspräsidium bestehend aus dem Präsidenten Peter Studer und der Vizepräsidentin Sylvie Arsever hat die vorliegende Stellungnahme per 16. November 2007 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet. Vizepräsidentin Esther Diener-Morscher, freie Mitarbeiterin der «Berner Zeitung», trat in den Ausstand.
II. Erwägungen
1. Aus Ziffer 1 der «Erklärung» und der zugehörigen Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) kann keine Pflicht zu objektiver Berichterstattung abgeleitet werden. Berufsethisch sind auch einseitige, parteiergreifende und fragmentarische Standpunkte zulässig (vgl. z.B. die Stellungnahme 20/2006). Dies gilt entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin auch für die «Berner Zeitung» und nicht bloss für Publikationen, die sich generell einem anwaltschaftlichen Journalismus verschrieben haben. Dementsprechend durfte die «Berner Zeitung» gestützt auf ihre Informanten ohne Weiteres einseitig die Sichtweise des Gemeindeversammlungsvotanten und einzelner, kritischer Eltern übernehmen. Durch den Presserat zu prüfen ist hingegen, ob die Beschwerdegegnerin gegen die Wahrheitspflicht verstiess bzw. die Behauptungen ihrer Informanten ungenügend abklärte. Weiter fragt sich, ob die «Berner Zeitung» der Anhörungspflicht genügte und die Statements der von schweren Vorwürfen Betroffenen fair wiedergab. Schliesslich ist abzuklären, ob die Zeitung ihre Texte hätte berichtigen müssen.
2. a)
Gemäss seiner ständigen Praxis führt der Presserat keine eigenen Sachverhaltsabklärungen und Beweismassnahmen durch, sondern stützt sich bei der Erarbeitung seiner Stellungnahmen auf die Ausführungen der Parteien und die von ihnen im Rahmen des Presseratsverfahrens eingereichten Unterlagen ein. Im konkreten Fall sind dabei wesentliche – wenn auch nicht sämtliche – Aspekte des relevanten Sachverhalts unbestritten. Dies gilt – neben den veröffentlichten Medienberichten – für das die öffentliche Diskussion und die Medienberichterstattung auslösende Gemeindeversammlungsvotum vom 16. Oktober 2006. Unbestritten ist, dass Redaktor Stefan Aerni am folgenden Tag mit dem Schulleiter und dem Schulkommissionsleiter Kontakt nahm. Auch über die Medienkonferenz der Gemeinde ist berichtet worden. Zudem wird (zumindest nachträglich) auch von Seiten der «Berner Zeitung» eingeräumt, dass es offenbar nie ein offen ausgesprochenes Schweizerkreuz-Verbot gab. Unterschiedlich bewerten die Parteien hingegen, ob es von der Schule oder von einzelnen Lehrer/innen Empfehlungen gab, keine Kleidung mit Schweizer Kreuz zu tragen. Handelte es sich unter Umständen um blosse Missverständnisse, die durch die Schüler via Eltern an Dritte gerüchteweise weiterkolportiert wurden und schliesslich den Weg in die Öffentlichkeit fanden?
b) Wegen der Suche nach der Wahrheit ist der «Berner Zeitung» jedenfalls insofern kein Vorwurf zu machen, als sie nach dem Gemeindeversammlungsvotum den Schulvorsteher und den Schulkommissionspräsidenten umgehend kontaktierte. Wie letzterer nachträglich einräumte, dementierte er weder an der Gemeindeversammlung vom 16. Oktober 2006 noch beim ersten Kontakt mit der «Berner Zeitung» in aller Deutlichkeit, dass es ein derartiges Verbot gegeben hätte. Stattdessen verwies er etwas missverständlich auf einen Passus des Schulreglements und darauf, dass «provozierende Kleidung» in den Roggwiler Schulen regelmässig thematisiert werde.
c) Soweit die «Berner Zeitung» unter diesen Umständen im Bericht vom 19. Oktober 2006 schrieb, Kleidungsstücke mit einem Schweizer Kreuz seien an der Oberstufenschule Roggwil neuerdings unterwünscht, entsprach diese Darstellung den zu diesem Zeitpunkt von ihr recherchierten Fakten. Diese stützten sich nicht nur auf die Behauptung des Gemeindeversammlungsvotanten, sondern auch auf den Bericht eines Schülers, der behauptete, von seinem Lehrer gebeten worden zu sein, in der Schule künftig kein solches Leibchen mehr zu tragen, da dies aggressive Reaktionen auslösen könne. Und immerhin stellte Redaktor Stefan Aerni im Bericht auf Seite 23 («Schule verbietet Schweizer Kreuz») diesen Behauptungen die Stellungnahme des Schulkommissionspräsidenten gegenüber, wonach kein generelles Verbot für Schweizer Kreuze erlassen worden sei.
d) Wie jedoch auch die «Berner Zeitung» einräumt, hat sie diese relativierende Darstellung auf der Titelseite der Ausgabe vom 19. Oktober 2006 noch einmal stark zugespitzt. Berufsethisch ist es zwar zulässig, Tatsachen verkürzend darzustellen, um sie journalistisch auf den Punkt zu bringen. Hingegen ist es unzulässig, Thesen zu Tatsachen zuzuspitzen, ohne der Leserschaft sichtbar zu machen, dass diesen Thesen nicht unbestrittene Fakten, sondern Einschätzungen zugrunde liegen (27/2001).
Währenddem der Titel auf Seite 23 («Schule verbietet Schweizer Kreuz») bereits im anschliessenden Lead abgeschwächt wird («Kleidungsstücke mit einem Schweizer Kreuz neuerdings unerwünscht») und zudem auch in der Bildlegende bloss von «unerwünscht» die Rede ist, erweckt der Anriss auf der Titelseite den nicht genügend belegten Eindruck, es bestehe keinerlei Zweifel daran, dass die Schule ein solches Verbot erlassen habe. Angefangen vom Titel «Schweizer Kreuz weg» über die Wortwahl («In Roggwil dürfen die Schüler keine Schweizer Kreuze mehr auf sich tragen», bis zur Legende zum als Illustration abgebildeten Schweizer Kreuz («Von der Schulleitung in Roggwil verboten») fehlt hier jegliche Relativierung. Selbst wenn man wie die «Berner Zeitung» davon ausgeht, dass eine dringende Bitte eines Lehrers aus Sicht eines Schülers faktisch als «Verbot» verstanden wird, hätte diese Einschätzung nicht als Faktum dargestellt werden dürfen. Leserinnen und Leser, die am 19. Oktober 2006 bloss die Titelseite lasen, erhielten dadurch den falschen Eindruck, an der Oberschule Roggwil sei unbestrittenermassen ein Schweizer-Kreuz-Verbot erlassen worden, währenddem es in Tat und Wahrheit umstritten war, ob – je nach Sichtweise – tatsächlich ein derartiges Verbot erlassen worden war oder ob es sich lediglich um ein bei einzelnen Schülern entstandenes Missverständnis handelte. Durch Unterlassung dieser für die Einordnung der Fakten und Wertungen durch die Leserschaft unabdingbaren Relativierung hat der Bericht auf der Titelseite der «Berner Zeitung» vom 19. Oktober 2006 die Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Wahrheitspflicht) verletzt.
3. a) Unter dem Gesichtspunkt der Wahrheitspflicht nicht zu beanstanden ist hingegen die Berichterstattung vom 20. Oktober 2007. Hier stehen sich die beiden Versionen («Ist das Schweizer Kreuz von Roggwils Schule verbannt? Es gebe kein totales Verbot, wiegelt die Behörde ab») bereits auf dem Titelhinweis gegenüber. Ebenso sind die verschiedenen Standpunkte im Interview mit dem Roggwiler Schulpräsidenten, einem zusammenfassenden Kasten sowie einem Kommentar von Herbert Rentsch enthalten. Dabei war es der «Berner Zeitung» im Lichte der Freiheit des Kommentars und der Kritik unbenommen, auch wenn andere Medien wie «Blick», «Mittelland-Zeitung» und «Bund» den gleichen Sachverhalt offensichtlich anders interpretierten, unbeirrt an ihrer ersten Einschätzung festzuhalten.
Folglich hatte die «Berner Zeitung» das am Vortag zumindest auf der Titelseite behauptete eindeutige Schweizer-Kreuz-Verbot mit ihrer Berichterstattung vom 20. Oktober 2006 zumindest stark relativiert. Deshalb war sie berufsethisch nicht verpflichtet, zusätzlich eine formelle Berichtigung im Sinne von Ziffer 5 der «Erklärung» abzudrucken.
4. a) Schliesslich beanstandet die Beschwerdeführerin, die «Berner Zeitung» habe die berufsethische Pflicht der Anhörung der Betroffenen vor der Veröffentlichung schwerer Vorwürfe (Richtlinie 3.8 zur «Erklärung») verletzt.
b) Vorab kann man sich fragen, ob der Vorwurf, an einer Schule sei eine umstrittene Kleidervorschrift erlassen worden, derart schwer ist, dass sie unabdingbar eine vorgängige Anhörung erforderte. Ohnehin stellt der Presserat aber fest, dass der Schulkommissionspräsident bereits in seinem im Artikel vom 19. Oktober 2007 enthaltenen Dementi («Ein generelles Verbot für Schweizer Kreuze haben wir nicht erlassen. Aber wir tolerieren keine provozierende Kleidung und das gilt für alle») mit seinen Hauptargumenten zitiert wird und dass er im Interview vom 20. Oktober 2007 umfassend zu Wort kam. Zwar ist zwischen den Parteien umstritten, ob Redaktor Stefan Aerni dem Schulkommissionspräsidenten beim ersten Kontakt in Aussicht stellte, er werde sich noch einmal melden, falls er einen Artikel schreibe. Die «Berner Zeitung» macht jedoch geltend, weder letzterer noch der Gemeindepräsident sei am Mittwoch 18. Oktober 2006 erreichbar gewesen. Unter diesen Umständen kann der Beschwerdegegnerin in Bezug auf das Anhörungsgebot kein Vorwurf gemacht werden.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.
2. Die «Berner Zeitung» hat mit der Veröffentlichung des Berichts «Roggwil. Schweizer Kreuz weg» auf der Titelseite ihrer Ausgabe vom 19. Oktober 2006 die Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt. Sie wäre verpflichtet gewesen, bereits auf der Titelseite darauf hinzuweisen, dass das von ihr behauptete Schweizer-Kreuz-Verbot an der Oberschule Roggwil nicht auf unbestrittenen Fakten sondern auf einer Einschätzung beruhte.
3. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde a
bgewiesen.
4. Die «Berner Zeitung» hat die Ziffern 3 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) und 5 (Berichtigungspflicht) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.