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Anhören bei gravierendem Fehlverhalten erhöht die Glaubwürdigkeit

Edito von Susan Boos, Präsidentin Schweizer Presserat

Fairer Journalismus sollte für Medienschaffende oberstes Gebot sein. Deshalb hat der Schweizer Presserat Anfang Mai 2023 die Richtlinie 3.8 verschärft. Es geht um Anhörung bei schweren Vorwürfen. Klar, eigentlich sollten JournalistInnen die Personen, die in ihren Beiträgen kritisiert werden, immer anhören. Nur: Was bedeutet das im Alltag? Die erste Beschwerde, die nach der neuen Regelung beim Presserat einging, kam von Nationalrat Andreas Glarner. Es spielt zwar keine Rolle, von wem eine Beschwerde eingereicht wird. Sie hätte auch von Beschwerdeführerin XY aus Müslisbach kommen können.

Am Anfang stand der Gendertag einer Zürcher Schule. Glarner hatte einen Tweet abgesetzt, weil er sich darüber ärgerte. In dem Tweet bildete er den Einladungsbrief zum Gendertag ab, darauf war die Telefonnummer der zuständigen Mitarbeiterin zu sehen, zudem setzte er den Kommentar dazu: «Wer greift durch und entlässt die Schulleitung?» Danach kam es zu einem Shitstorm, Drohungen und der Gendertag musste abgesagt werden. Die Medien berichteten darüber, unter anderem auch der «Blick». Der erste Text trug den Titel: «SVP-Glarner hetzt gegen Gendertag an Schule in Stäfa ZH». Es folgten weitere Beiträge, in denen sich Verantwortliche der Schule oder PolitikerInnen kritisch über das Verhalten des Nationalrates äusserten.

Daraufhin ging die Beschwerde ein. Glarner monierte, der «Blick» habe gegen ihn schwere Vorwürfe erhoben, ohne ihn angehört zu haben, womit das Medium gegen Richtlinie 3.8 verstossen habe.

Wären die «Blick»-Texte einen Monat früher publiziert worden, wäre es einfach gewesen: Die Beschwerde wäre abgewiesen worden, da noch die alte Richtlinie in Kraft war. Gemäss damaliger Praxis galt als «schwerer Vorwurf» ein «illegales oder vergleichbares Verhalten». In keinem der Texte wurde dem Nationalrat etwas vorgeworfen, das «illegalem Verhalten» gleichkommt, also gab es auch keine Pflicht, ihn anzuhören.

Die neue Richtlinie, die Anfang Mai 2023 in Kraft getreten ist, ist jedoch klarer und strenger: «Werden schwere Vorwürfe erhoben, ist es gemäss dem Grundsatz ‹audiatur et altera pars› Pflicht, den Betroffenen die Möglichkeit zu geben, Stellung zu nehmen. Vorwürfe gelten als schwer, wenn sie gravierendes Fehlverhalten beschreiben oder sonstwie geeignet sind, jemandes Ruf schwerwiegend zu schädigen.»

Um es vorweg zu nehmen: Es gibt eine Rüge, der «Blick» hätte Glarner anhören müssen. In der soeben publizierten Stellungnahme kommt der Presserat zum Schluss: «Ob der Gebrauch des Ausdrucks ‹hetzen› für sich allein bereits ein gravierendes Fehlverhalten beinhaltet, kann offenbleiben. Im vorliegenden Kontext (Aufforderung ‹Schulleitung entlassen›, ‹etwas unternehmen›, Einbezug der Telefonnummer einer Beteiligten), erscheint der Ausdruck ‹hetzen› aber als eine Charakterisierung seitens des ‹Blick›, die ein ‹gravierendes Fehlverhalten› beinhaltet.» Deshalb hätte er angehört werden müssen.

Und worauf der Presserat explizit hinweist: Pointierte, kritische Bewertungen müssen möglich bleiben, es geht nicht darum, redaktionelle Einschätzungen zu neutralisieren.

JournalistInnen müssen sich jedoch bewusst sein: Die Anhörung ist nicht dazu da, einen Vorwurf zu verifizieren. Die Anhörung ist dazu da, einer kritisierten Person Gelegenheit zu geben, kurz zu erläutern, warum er oder sie sich so benommen hat. Es spielt dabei keine Rolle, ob die Kritik berechtigt ist oder nicht. Der Grundsatz ist einfach: Texte werden immer besser, wenn man Kritisierten Gelegenheit gewährt, sich zur Kritik zu äussern. Die Kritik verliert dadurch nicht an Glaubwürdigkeit, im Gegenteil.

Zur Stellungnahme 1/2025